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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Mr. Spocks rätselhafte Krankheit

© Elke Burtscher


Einer, der aus der Stadt kommt, stellt sich das wahrscheinlich romantisch
vor: Knorrige Alm-Öhis, bedirndelte Zenzis, Hüttenzauber und selbst gebrannter Schnaps. Hollaraiduliöööö!
Aber wenn man ein Teenager ist und in einem Bergdorf mit 200 Menschen und 400 Kühen lebt, hört sich der Spaß auf. In meinem Dorf gab es nichts außer ein paar an den Steilhang geklebte Häuser und Ställe, einem winzigen Krämerladen, einer Kirche und einem Gasthaus, in dem es nur dann lebendig wurde, wenn jemand gestorben war und sich die Verwandten nach der Beerdigung zum Leichenschmaus trafen.
Gleich neben der Kirche stand die Dorfschule. Dort waren in einem Raum acht Klassen untergebracht, die von einem einzigen Lehrer unterrichtet wurden. Er unterrichtete alles: Lesen und Schreiben, Rechnen und Heimatkunde, Religion und Turnen. Weil das Dorf so klein war, bestanden die einzelnen Schulklassen aus höchstens drei bis vier Kindern. Es konnte schon passieren, dass eine Schulstufe mangels Schüler ganz ausfiel oder dass ein einzelnes Kind eine Schulklasse für sich war. Das kam allerdings selten vor, denn in unserem Dorf tat man alles gemeinsam, auch das Kinderkriegen. In den meisten Jahren kamen mindestens zwei Kinder zur Welt, vielleicht auch deshalb, weil die Mütter ihren Kindern das Schicksal ersparen wollten, das ABC ganz allein lernen zu müssen.
In meiner Klasse waren wir drei Buben. Ursprünglich hatten wir auch ein Mädchen namens Martha gehabt. Aber Martha hatte sich mit 9 Jahren beim Spielen im Heustall in einem Hanfseil verfangen und sich zu Tode stranguliert. So war unsere Klasse zu einer reinen Männergesellschaft geworden. Außer mir war da noch Erich, von dem wir alle glaubten, dass er sich eines Tages eine der wohlhabenden Touristinnen angeln würde, die sich ab und zu in die Fremdenzimmern unserer Mütter einmieteten. Erich sah nämlich aus wie Elvis und immer, wenn er einen Raum betrat, konnte man es unter den Mädchenröcken förmlich knistern hören. Diese starke Wirkung auf alles Weibliche hatte dazu geführt, dass Erich, noch nicht ganz 13 Jahre alt, von einer verheirateten Nachbarin verführt worden war. Eine Woche lang hatte er mit diesem Erlebnis geprahlt, dann war alles aufgeflogen und danach war die körperliche Liebe für Erich vorerst kein Thema mehr gewesen. Ob das daran lag, dass die Sache mit der Nachbarin ihn nicht sonderlich beeindruckt hatte, oder daran, dass er von seinem Vater mit einem Lederriemen verprügelt worden war, weiß ich nicht.
Mein zweiter Klassenkamerad hieß Helga. Ein Bub mit einem Mädchennamen, weil er im Bauch seiner Mutter notgetauft worden war. Die Hebamme hatte fest mit einer Totgeburt gerechnet, und weil man nicht gewusst hatte, ob es ein Bub oder ein Mädchen war, hatte man das Kind auf den Namen Helga-Peter getauft.
Einen Peter gab es aber schon in unserem Dorf und so hieß Helga eben Helga.
Das fanden alle praktischer. Helga war klein, schmächtig, blond und der begabteste Schüler, den diese Dorfschule je gesehen hatte. Am Tag, an dem er eingeschult worden war, hatte er eine Geschichte aus dem Lesebuch der dritten Schulstufe flüssig und fehlerlos vorgelesen und damit den Lehrer in sprachlose Verblüffung versetzt. Helgas Welt waren Bücher und Filme. Wenn er vor dem Fernseher saß, nahm er nichts mehr von dem wahr, was um ihn herum geschah, und er las alles, was ihn in die Finger kam, vom Heimatroman bis zum Doppelten Lottchen. Seine Phantasie war wie ein gefräßiges Tier, das nie genug Futter bekam.
Wir drei waren nicht nur in der Schule ein Team. Als wir noch Kinder gewesen waren, hatten wir zusammen paradiesische Sommerferien erlebt. Wir waren auf Bäume geklettert, hatten Äpfel geklaut, Dämme im Fluss und Hütten im Wald gebaut. Aber jetzt, mit 14, interessierten uns ganz andere Dinge und die waren 150 Kilometer weit weg in der nächsten Stadt. Helga hatte Glück, er würde im Herbst dort ins Gymnasium gehen, aber für mich und Erich war die Schulzeit vorbei. Erich würde Landwirt werden, er war der älteste seiner Brüder und der Erbe des Hofes. Ich war in der Dorfschreinerei als Lehrling angemeldet. Ich wollte da nicht arbeiten, ich wollte raus aus dem Dorf. Aber das war schwierig, in unserem Dorf genügte es nicht, einfach weggehen zu wollen. Man brauchte schon einen Grund. Und mir fiel keiner ein.
In diesen letzten gemeinsamen Ferienwochen trafen wir uns fast täglich. Es gab nicht viel, was wir hätten tun können, also rauchten wir unsere ersten Zigaretten, tranken ab und zu ein Bier und träumten vor uns hin. Manchmal spielten wir auch Szenen aus Filmen nach, die Helga im Gedächtnis geblieben waren. Wir spielten Winnetous Blutsbruderschaft mit Old Shatterhand, den Mord im Orient-Express und die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise in fremden Galaxien.
Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, fällt es mir schwer, die Tage auseinander zu halten, immer wieder verschwimmen sie ineinander und lassen sich in keine Reihenfolge bringen. Aber an einen erinnere ich mich noch sehr
deutlich: Es war der 21. August 1978, ein heißer Augustnachmittag. Wir waren im Garten meiner Eltern, hatten nur unsere Unterhosen an uns bespritzen uns gegenseitig mit dem Gartenschlauch.
Erich zielte auf Helga und brüllte:
"Angriff! Angriff!"
Helga blinzelte durch die Wassertropfen auf seiner Brille, zog eine Augenbraue nach oben und sagte:
"Ich sehe verdächtige Objekte auf meinem Bildschirm. Es scheint sich um feindliche Geschosse zu handeln."
"Was sind das für Geschosse, Mr.Spock?"
"Das kann ich nicht sagen, Captain. Undefinierbare Materie. Kann von unserem Bordcomputer nicht analysiert werden. Das erste Geschoss wird uns in 60 Sekunden treffen."
Wir waren mitten drin in unserer Lieblingsszene: Das Raumschiff Enterprise wird von unbekannten Feinden beschossen. Die Rollen standen seit langem fest, jeder von uns kannte das Drehbuch.
"Uhura, haben wir Funkkontakt mit der Basis?"
"Ja, Sir, ich empfange Signale, aber sie werden immer schwächer."
"Scotty, wie sieht es im Maschinenraum aus?"
"Abwehr aktiviert. Aber unsere Schutzschilder können diesen Geschossen nicht standhalten."
"Noch 30 Sekunden."
"Mr. Sulu? Wir ändern den Kurs."
"Eye, eye, sir. Kurs geändert."
"Die Geschosse folgen uns. Noch 10 Sekunden bis zum Aufprall."
"Uhura?"
"Der Kontakt ist abgebrochen."
"Noch fünf Sekunden."
"Leute, haltet euch fest!"
"Drei. Zwei. Eins."
Als das erste Geschoss die Enterprise traf, richtete Helga alias Mister Spock den Gartenschlauch auf seinen Bauch, zuckte zusammen, fiel auf den Boden und rief: "Mich hat¹s erwischt."
Genau in diesem Moment hörten wir das Gartentor zuschlagen. Vor uns stand Friedrich mit fragendem Gesicht. Friedrich wohnte ein paar Häuser weiter, war um die 70 und von der Gicht schon ganz verbeult. Im Winter bekam man ihn nie zu sehen, aber im Sommer ging er manchmal spazieren ­ immer in der Hoffnung, einer Touristin im Bikini zu begegnen.
Beim Vorbeigehen hatte Friedrich uns schreien gehört und wollte nachsehen, was los war.
"Es geht ihm nicht gut", sagte er und zeigte mit seinem Stock auf Helga, der auf dem Boden lag, mit den Beinen zuckte und schauerliche Laute von sich gab.
Ich wollte gerade alles erklären, aber da kam mir Helga zuvor:
"Beeren", flüsterte er und hielt sich den Bauch, "kleine, rote Beeren."
"Beeren hat er gegessen?", fragte Friedrich, "Vogelbeeren etwa? Die sind giftig."
"Wo sind deine Eltern?" Diese Frage galt mir.
"Die helfen der Tante beim Heuen."
"Und deine Schwester?"
"Die auch."
"Wir müssen sofort den Doktor anrufen."
"Aber nein, es ist sicher nicht so schlimm." Erich war ein wenig unbehaglich zumute bei dem Gedanken an den alten Doktor, einen gottesfürchtigen, immer schwarz gekleideten Herrn mit finsterem Blick. Aber Helga war nicht mehr zu
stoppen:
"Einen Arzt, bitte. Bitte!" flehte er und Friedrich war schon auf dem Weg ins Haus. In unserem Dorf kannte man sich in den Häusern der Nachbarn fast genauso gut aus wie im eigenen und die Türen waren selten verschlossen.
Zwischen Friedrich und unserem Telefon gab es also nichts, das ihn hätte daran hindern können, seine Pflicht zu tun.
Inzwischen kugelte sich Helga vor Lachen auf dem Rasen herum.
"Er hat es gefressen! Er hat es gefressen!" schrie er.
"Helga, sollten wir jetzt nicht besser...?" fragte Erich mit einem schiefen Grinsen im Gesicht.
" Spielverderber! Jetzt wird¹s doch erst richtig lustig." Helga war ganz in seinem Element. Er verdrehte die Augen nach oben und lies seine Zunge aus dem Mundwinkel hängen. So fand ihn auch Friedrich vor, als er zurück in den Garten kam. Es sah wirklich schlimm aus.
Der Arzt war unterwegs und wir trugen den stöhnenden Patienten auf Anweisung von Friedrich ins Schlafzimmer meiner Eltern, legten ihn ins Bett und deckten ihn zu.
Friedrich befühlte Helgas Stirn.
"Wenigstens hat er kein Fieber."
"Einen echten Vulkanier bringt so schnell nichts um", war Erichs Kommentar.
" Seid ihr besoffen?" fauchte Friedrich und dirigierte uns mit seinem Stock aus dem Krankenzimmer. "Raus hier! Wartet in der Küche! Und zieht euch was an!"
Wir gingen also in die Küche und machten ­ immer noch in Unterhosen - zwei Flaschen Bier auf, um unsere Nerven zu beruhigen. Das war zwar alles sehr unterhaltsam, aber auch gefährlich. Was Gotteslästerung genau ist, wussten wir zwar nicht, aber das hier war ganz bestimmt eine. Und Gotteslästerung war sicher ein noch schlimmeres Vergehen als Beischlaf mit der verheirateten Nachbarin.
"Was die wohl mit uns machen, wenn das rauskommt?" fragte Erich.
"Sie verbrennen uns auf dem Scheiterhaufen."
Erich kicherte nervös. Wahrscheinlich dachte er gerade an den Lederriemen seines Vaters.
Durchs offene Fenster sahen wir, wie der Doktor vorfuhr und von Friedrich in Empfang genommen wurde. Gemeinsam gingen sie ins Krankenzimmer, dann hörten wir Friedrich telefonieren. Er rief Helgas Mutter an.
Eine Zeitlang war alles still. Dann, eine Viertelstunde später, ging die Tür auf und der Doktor kam zu uns in die Küche. Er sah uns als, als ob er alles wüsste.
"Kann ich mir die Hände waschen?" fragte er.
Ich nickte. Er ging zum Waschbecken, wusch seine Hände und rieb sie mit dem Handtuch trocken.
"Was waren das für Beeren, die er gegessen hat?" fragte er.
"Ich glaube, Vogelbeeren", sagte ich.
"Habt ihr auch welche gegessen?"
"Ja. Also ... nein."
"Wisst ihr nicht, dass die giftig sind?"
"Doch."
"Warum hat er dann welche gegessen?"
"Er hat überhaupt keine Beeren gegessen."
Ohne Helga konnte ich keine Geschichten erfinden. Es fiel mir einfach nichts ein.
"Wenn er keine Beeren gegessen hat, warum ist er dann so plötzlich umgefallen?" wollte der Doktor wissen. Er war offensichtlich misstrauisch.
"Er wurde von einem feindlichen Wurfgeschoss getroffen." Erich sagte das völlig ernst.
"Von einem Wurfgeschoss?" fragte der Arzt.
"Das ist Blödsinn", sagte ich, "er ist von keinem Geschoss getroffen worden.
Wir haben nur gespielt."
Das war¹s also. Das kam einem Geständnis gleich.
In diesem Augenblick tauchte im Fensterrahmen das Gesicht von Helgas Mutter auf. Nachdem Friedrich sie angerufen hatte, war sie losgelaufen und den ganzen Weg von ihrem Haus am Ende des Dorfes bis zu uns gerannt. Sie war völlig außer Atem. Schnaufend sah sie zuerst uns an und dann den Arzt.
Der schüttelte den Kopf.
"Es tut mir Leid", sagte er, "ich bin zu spät gekommen".
Helgas Mutter fiel in den Dreck und Erich kotzte.
Heute noch frage ich mich manchmal, wann für Helga wohl aus dem Spiel Ernst geworden ist. Ob Erich sich das auch fragt, weiß ich nicht. Wir haben niemals darüber gesprochen. Wozu auch? Helga war tot und ich hatte endlich einen Grund, wegzugehen.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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