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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Kampflust

© Gottfried Buich


Richard Herzog sammelt Zeitungsausschnitte.
Nicht irgendwelche - er sammelt Berichte aus Afghanistan, er sammelt Berichte aus dem Iran, und er sammelt Berichte aus dem Irak - er sammelt Berichte von allen Kriegsschauplätzen der Erde.
Ein ganzer Schrank ist voll davon.
Edith Herzog sammelt Blicke.
Nicht irgendwelche Blicke - sie sammelt Blicke von Richard Herzog.
So wie seine Zeitungsausschnitte werden auch seine Blicke katalogisiert, einem Thema zugeordnet, inventarisiert und schlussendlich abgelegt.
Richard weiß nichts davon.
Edith benötigt keinen Schrank für Richards Blicke. Ihr genügt ein kleiner Winkel in ihrem Kopf. Und obwohl sie sich erst seit wenigen Tagen dieser Leidenschaft widmet, hat sie schon eine erstaunliche Größe erreicht - ihre Sammlung.
Richard Herzog legt seine Geschichten immer sorgfältig ab. Eines Tages wird er sie zur Hand nehmen und daraus ein Buch machen - eines Tages.
Heute jedenfalls nicht - heute muss er noch zur Arbeit.
Richard Herzog hat das Haus verlassen.
Edith Herzog räumt die Zeitung an ihren Platz, dazu legt sie die Schere. Er wird seine Sammlung heute erst nach dem Nachhause kommen erweitern - abends.
Sie hat ihrer Sammlung beim Frühstück ein neues Exponat zukommen lassen. Wieder einen neuen Blick eingefangen und abgelegt. Einen Blick, der tief auf den Grund seiner Kaffeetasse endete.
Edith Herzog macht sich Sorgen. Sorgen, Richard Herzog würde heute oder morgen nicht mehr zu ihr nach Hause kommen.
Heute nicht - heute kommt er von seiner Arbeit nach Hause, Edith Herzog ist erleichtert.
Die Zeitung wird seziert, fein säuberlich wird jeder Artikel studiert und überprüft - ob er nicht irgendwo im Schrank seinen Platz finden müsste.
Richard Herzog versucht jeden Artikel einer der Kategorien zuzuordnen - Kampf gegen Terror, Kampf gegen Korruption, Kampf gegen Rechtsextremismus.
Edith Herzog findet nichts um es ihrer Sammlung beizufügen. Die Blicke, die über die Zeitung fliegen sind längst abgelegt - in dem kleinen Winkel in ihrem Kopf. Neues gibt es erst wenn er sich nicht beobachtet fühlt.
Er ist unverändert - abends wenn er mit ihr beim Tisch sitzt - wenn beide über ihren Tag sprechen, wenn sich jeder dem anderen widmet.
Sie ist wachsam - nicht nur abends - sie spürt, dass etwas nicht mehr stimmt.
Richard Herzog starrt an die dunkle Decke im Schlafzimmer - sollte er sie jetzt noch einmal wecken? Vielleicht ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt es ihr zu sagen.
Seine Augen versuchen noch immer die Dunkelheit zu durchdringen - seine Hände bewegen sich nicht um sie zu wecken, kein Wort kommt aus seinem Mund.
Es wird auch morgen noch früh genug sein.
Edith Herzog starrt nicht zur Decke. Ihre Augen fixieren die Leuchtziffern des Radioweckers - ihre Augen beginnen zu brennen. Bis die Leuchtdioden des Weckers ihr die Feuchtigkeit in die Augen treiben.
Ob sie ihn fragen sollte warum immer häufiger auch im hinteren Teil der Zeitung Ausschnitte fehlen - wozu er diese Anzeigen braucht?
Sie wird ihn beim Frühstück darauf ansprechen.
Richard Herzog findet die Worte nicht, die noch nachts in seinem Kopf gewütet haben. Er wird den heutigen Tag noch abwarten - es wird sich eine Lösung finden, ohne sie damit belasten zu müssen.
Edith Herzog findet immer wieder neue Blicke für ihre Sammlung, nicht wenn sie mit ihm beim Frühstück sitzt - aber jedes Mal wenn sie den Raum verlässt.
Sie wird nichts sagen, nicht heute. Morgen - morgen ist Samstag, da haben sie den ganzen Tag für sich.
"Haben Sie sich unseren Vorschlag durch den Kopf gehen lassen?" Richard Herzog sieht seinen Chef nicht an - er sieht durch ihn hindurch.
Er hasst diesen Menschen - warum musste er ihm so etwas antun, und welche Alternativen werden ihm angeboten?
Keine Alternativen für Richard Herzog - gute Geschäfte für die Firma, aber keine Wahlmöglichkeit für Richard Herzog.
Zu lange ist er hier beschäftigt, um sich etwas anderes vorstellen zu können - und Edith Herzog? Sollte er ihr wirklich erzählen müssen, dass er nicht mehr benötigt werde? Was wird sie von ihm denken?
Richard Herzog steht auf - er verachtet das Gesicht seines Gegenübers - seine Hände zittern. Richard Herzog dreht sich um, geht auf die Tür zu und ohne sich umzudrehen: "Ich werde Ihnen am Montag meine Entscheidung mitteilen." Ohne sich umzusehen verlässt er das Büro.
Edith Herzog macht sich Sorgen.
Richard Herzog ist freitags immer gegen 14.00 Uhr zu Hause. Ist heute der Tag an dem er nicht mehr kommt - oder hat er einfach vergessen, ihr Bescheid zu geben.
Edith Herzog macht sich Sorgen.
Richard Herzog hat noch nie vergessen ihr Bescheid zu geben wenn es einmal später geworden ist. Sie sitzt am Fenster, richtet ihren Blick auf die Straße - ohne zu bemerken, dass eine Mauer den Blick auf die Straße eigentlich unmöglich macht.
Richard Herzog schreckt aus seinen Gedanken auf - welche Alternativen - greift zu seinem Kaffee. Selbst die Tasse ist bereits kalt - wie lange sitzt er schon hier? Edith Herzog wird sich Sorgen machen.
Zu kurz ist der Weg bis nach Hause, noch zu viele Gedanken hemmen seinen Blick um zu sehen, wie Edith Herzog erleichtert vom Fenster verschwindet.
Richard Herzog fühlt sich kalt an als sie ihn in die Arme nimmt - kalt - nicht gefühllos. Was mag in seinem Kopf vorgehen, das so schlimm ist, dass er es ihr nicht mitteilen kann? Sie wird ihn später danach fragen. Nicht jetzt - jetzt sieht er ziemlich erschöpft aus.
Richard Herzog verspürt keinen Hunger, dennoch isst er von seinem Teller bis er leer ist - Edith Herzog zu Liebe.
Edith Herzog stellt keine Fragen - sie möchte wissen wo er war - sie stellt aber auch diese Frage nicht. Er wird es ihr sagen - wenn er es für richtig hält.
Und wenn nicht?
Richard Herzog räumt wie immer seinen Teller ab. Ohne einen neuen Artikel in den Händen geht er über die Treppe - an seinen Schrank. Lange blickt er auf seine Sammlung, auf die Beschriftungen seiner Ordner - Kampf gegen Rassismus, Kampf gegen Antisemitismus, Kampf gegen Unterdrückung.
Sorgfältig, so scheint es, wählt er eine der unzähligen Mappen aus - setzt sich damit an seinen kleinen Schreibtisch. Er weiß nicht welches Thema er ausgewählt hat - wozu auch. Er hat nicht vor darin etwas zu lesen, alles passiert nur aus Gewohnheit - er kennt es nicht anders. Er schlägt die Mappe auf.
Edith Herzog hat einen neuen Blick.
Sie sitzt in der Küche, hört den Stuhl in der oberen Etage - er wird nicht so schnell wieder nach unten kommen.
Sie analysiert ihre letzte Errungenschaft - den Blick Richard Herzogs, der seinem leeren Teller galt.
Andere Blicke werden aus dem hinteren Winkel ihres Kopfes hervorgekramt, miteinander verglichen, um dann ohne Ergebnis wieder abgelegt zu werden.
Nichts zu finden, das ihr weiterhelfen könnte; nichts, das ihr Aufschluss darüber geben könnte, mit welchen Problemen sich Richard Herzog momentan herumschlägt - welchen inneren Kampf er bestreitet.
Richard Herzog sitzt in der Zwischenzeit über mehrere seiner Ordner.
Kriege der Amerikaner, Kriege in Afrika, Kriege im nahen Osten, Kriege im fernen Osten… Richard Herzog hat kaum noch Platz auf seinem Schreibtisch - er wird sich einen größeren Tisch anschaffen müssen.
Alternativen?
Alternativen hat ihm sein Chef versprochen - wo sind sie, diese Alternativen. Er hat zu wählen zwischen Arbeitslosigkeit und einem Job der…; gedanklich macht er einen Abstecher in ein großes, helles Gebäude.
Richard Herzog sieht seine Mitbewohner - nicht Edith Herzog - Mitbewohner, die langsam durch die langen Gänge des Gebäudes schlurfen, nicht fähig die Füße richtig zu heben. Unrasiert steht ein alter, grauhaariger Mann neben ihm. Ein breites Grinsen über das ganze Gesicht lässt die schlechte Zahnpflege erkennen. Der weiße Kittel des Mannes reicht nicht annähernd bis zu den Knien, lässt die dünnen Beine darunter regelrecht hervorbaumeln. Das Grinsen verfliegt von diesem alten Gesicht. Er beginnt zu sprechen: "Hattest du auch diese beiden Alternativen..." Richard Herzog lässt den alten Mann nicht aussprechen - er verjagt den Gedanken. Er blickt wieder verloren auf seine Sammlung. Er wird diesen Job nicht annehmen - er wird sich nicht verkaufen lassen, nur um der Firma sein lächerliches Gehalt zu ersparen. Es wird eine andere Lösung geben. Er wird seinem Chef am Montag selbst eine Alternative vorschlagen - aber was soll ihm bis dahin noch einfallen, das er bis jetzt noch nicht versucht hat.
Der alte Mann taucht wieder vor ihm auf.
Edith Herzog ist den Tränen nahe - auch ohne die Leuchtziffern des Radioweckers. Auch wenn sie ihn durch den schmalen Türspalt kaum sehen kann, es ist schwer mit anzusehen wie Richard Herzog sich quält, wie er gegen etwas ankämpft, das er nicht mit ihr teilen möchte.
Richard Herzog durchblättert seine Mappen. Eine nach der anderen. Jede einzelne - von vorne bis hinten. Jeder Krieg hat sein Ende wenn auch nicht immer ein gutes. Warum gibt es keine Lösung für den Kampf, den er in sich austrägt? Warum siegt nicht endlich die eine Persönlichkeit über die andere, warum gibt sich keine Seite geschlagen?
Es ist spät geworden, Edith Herzog ist sicher schon im Bett. Er wird heute hier oben schlafen.
Seine Augen starren in die Dunkelheit - morgen muss er ihr sagen, dass er in wenigen Wochen möglicherweise keinen Job mehr hat. Er muss ihr sagen, dass die einzige Alternative ein Job ist, der ihn mit Sicherheit um seinen Verstand bringt.
Edith Herzog starrt auf die Leuchtziffern des Radioweckers. Die grellen Dioden treiben Ihr die Feuchtigkeit in die Augen.
Die Sonne beginnt sich am Horizont abzuzeichnen.
Richard Herzog sitzt über seinen gesammelten Werken.
Edith Herzog wartet vergebens auf Richard, seine Kaffeetasse bleibt unberührt. Sie geht einen Stock höher. Die Tür steht - wie bereits gestern - einen Spalt breit offen.
Sie nimmt einen neuen Blick Richard Herzogs wahr.
Das letzte Exponat für ihre Sammlung.
Sie wird dieses Material nicht mehr benötigen.
Richard Herzog sammelt Zeitungsausschnitte.
Nicht irgendwelche Zeitungsausschnitte - er sammelt Berichte von allen Kriegsschauplätzen der Erde.
Eines Tages - so hat er sich vorgenommen - wird er daraus ein Buch machen.
Richard Herzog sitzt nicht mehr über seinen Ordnern.
Richard Herzog sitzt über seinem Notebook.
Richard Herzog hat gesiegt.
Gesiegt über Richard Herzog.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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