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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Kopf hoch, mein Junge

© Christoph Seidenspinner


ER WAR ein junger, kräftiger Mann, der im Ring boxte, und heute würde er gegen den Weltchampion im Schwergewicht in Las Vegas kämpfen.
Vierundachtzig Tage hatte er jetzt hintereinander für diesen Kampf trainiert.
Der junge Mann schlief fest, bis ihn sein Trainer am Morgen weckte. Es war seltsam, was er geträumt hatte. Verwundert darüber, dass er nicht aufgewacht sei, dachte er darüber nach. Er träumte von einem Mädchen mit entblößtem Hinterteil, eine blaue Bluse tragend, das entschlossenen Schrittes einen Schotterweg entlang lief. Er näherte sich ihr von hinten, holte sie ein und überholte sie. Von hinten machte sie einen schönen lebendigen Eindruck, doch als er sich dann zu ihr umdrehte musste er feststellen, dass ihre Vorderseite hässlich entstellt und völlig zerfleischt, ohne jegliche Haut war. Dennoch lief sie selbstsicher weiter, an ihm vorbei, der stehen geblieben war. An mehr konnte er sich nicht erinnern und fand es erstaunlich, dass er trotz dieses kurzen Alptraums gut ausgeruht war.
Er wollte es erst nicht erzählen, überwand sich dann dennoch, es seinem Trainer mitzuteilen.
"Das macht die Aufregung, mein Junge. Du bist ungeduldig und heiß auf den Kampf! Da kann so etwas schon vorkommen. Mach dir keinen Kopf."
Er war heiß auf den Kampf. Schon Wochen zuvor wurde dieser Kampf von den Medien aufgepuscht. Einer der besten Kämpfe aller Zeiten! Die beiden Konkurrenten standen sich in nichts nach. Innerlich zollten sie beide einander Respekt. Doch womit sie ihren Rivalen alles drohten!
Einschüchterungen brutalster Art bestimmten ihr Wortgefecht.
"Nach diesen Kampf kann er sein Essen nur noch in flüssiger Form oder schon gekaut zu sich nehmen.", hatte Stehfens Gegner gedroht, doch Stehfens wusste, dass dies nur zur Show gehörte. Die Entscheidung fiel erst heute Abend und je näher sie rückte, um so mehr sehnte sich Stehfen in seiner Kabine in den Katakomben der Arena seinen Kontrahenten gegenüber zu treten und ihm zu zeigen, was er von seinen Sprüchen hielt. Seine Fäuste sollten ihn zermalmen. Sein Kopf war klar, sein Körper in bester Verfassung, er war bereit.
Der Beat setzte ein, es war so weit. 50cent, In Da Club schallte durch die Räume. Die Türe seiner Kabine wurde geöffnet. Stehfen trat heraus, unbeirrt der Fernsehkameras, deren Objektive direkt auf seine Augen gebannt waren. Der Song wurde instrumental abgespielt, ohne Gesang, ohne Text, wie er es angeordnet hatte. Nur der Beat sollte zu hören sein und er sollte seinen Gegner umhauen. Jeder Takt ein Faustschlag in sein Gesicht.
"Ich bräuchte einen Faustschlag, so stark wie der Beat von In Da Club und die Ausdauer dieses Rhythmusses. Ich wäre der stärkste Mann der Welt und mein Feind wäre nach einem Schlag K.O.!", dachte Stehfen und hoffte seinen Widersacher schon auf dem Boden liegend zu begegnen, als er in den Ring stieg.
Da war er also. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Da war er. Da waren die roten Seile an den Rändern, da war die tobende Menge mit den Blitzlichten von Fotoapparraten. Er entdeckte den Schiedsrichter. Und da stand er. Da stand sein Feind.
"Da bist du, mein Freund."
Sie blickten sich tief in die Augen, die Boxhandschuhe vom Schiedsrichter aneinander gepresst.
"Meine Faust ist stärker", dachte Stehfen. "Ich darf jetzt den Blick nicht von ihm lassen. Auch wenn es schwer fällt. Doch was ist das für ein Blick! So voller Hass und doch voll Bewunderung. Ich habe nie gegen jemanden gekämpft, dessen Blick so intensiv und voller Stärke war, wie dieser. Ich kenne dich. Ich habe dich studiert. Ich kenne dich fast besser als mich.
Stundenlang habe ich mir deine Kämpfe auf dem Bildschirm angesehen. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet und jetzt stehen wir uns gegenüber."
Da war der Gong. Stehfen spürte eine Art Leere in sich, für einen Augenblick dachte er, er würde in sich selber zusammenfallen. Aber als er sah, wie sein Gegner seine Füße spielend in Bewegung setzte, drängte die drohende Gefahr seine Gedanken zurück in den Ring. Sie drehten sich abtastend im Kreise.
"Welche Taktik wirst du heute haben?", dachte Stehfen. "Du hast immer eine."
Die beiden Boxer stehen sich dicht gegenüber, reizen sich, starten Ablenkungsversuche, versuchen den anderen aus der Reserve zu locken. Stehfen sah nur wenig von dem Gesicht seines Gegners, da er es mit seinen blauen Handschuhen bedeckte. Geduldig und konzentriert, jede Reaktion wahrnehmend tasten sie sich ab, versuchen das Verhalten des Kontrahenten zu lernen, seine Schwächen ausfindig zu machen. Keiner lässt den anderen aus den Augen.
"Warum hast du bloß blau für deine Handschuhe gewählt? Hat er eine bessere Wahl, als ich getroffen? Ich wollte ihn mit meinem rot meinen Siegeswillen und Angriffsbereitschaft vermitteln. Aber wie kann er nur blau wählen? Das ist nicht zielstrebig. Will er mich damit verwirren? Hast du dir schön ausgedacht!", Stehfen wagt eine einfache Angriffskombination, wird jedoch abgeblockt.
"So einfach ist er nicht zu knacken.", denkt Stehfen an seinen fehlgeschlagenen Angriff. "Dieses verdammte blau! Warum habe ich nicht blau genommen?! Blau war früher meine Lieblingsfarbe. Aber sie steht mir nicht.
Rot trage ich nur für die Show!"
Beide landeten nur wenige Treffer. Dann ertönte der Gong wieder.
Stehfen nahm von der Atmosphäre in der Halle, von den Zuschauern wenig wahr. Wie in Trance, seinen Gedanken nachhängend und auf den Kampf konzentriert, ging er in seine Ecke zu seinem Trainer.
"Ihm steht das blau. Oder? Verdammt! Warum denke ich nur an so einen Schwachsinn! Es ist der wichtigste Kampf in meinen Leben. Und ich verliere ihn am Ende noch, weil ich über die Farbe der Handschuhe meines Gegners nachdenke. Wahrscheinlich hat er sie nicht ein Mal selber ausgesucht...", Stehfen klopfte sich leicht mit seinen Handschulen ins Gesicht, um an etwas anderes zu denken.
"Stehfen", sagte sein Trainer. "Seine Deckung ist schlampig auf seiner rechten Seite. Mit deiner Linken wirst du bei ihm landen!"
Es blieb nicht viel Zeit für Ratschläge. Energisch ging Stehfen auf ihn zu, sein Kopf war wieder frei von irritierenden Gedanken.
"Ich muss es mit der Linken versuchen." Er erkannte die schlechte Deckung seines Gegners auf seiner rechten Seite.
"Aber ist dies eine echte Schwäche oder ist es nur eine Falle? Ich muss es versuchen. Ich bin der Herausforderer, ich muss in den Angriff gehen." Stehfen lenkte mit einem Schlag seiner Rechten die Deckung seines Gegners auf die gewünschte Seite. Dadurch wurde eine große Lücke auf der anderen Seite und für seine Linke frei. Stehfen blieb genügend Zeit für seinen Schlag auszuholen und mit seiner ganzen Kraft zuzuschlagen. Der Schlag saß, er war so hart wie der Beat von In Da Club und verzog das Gesicht des Titelverteidigers, dass ihm fast der Mundschutz herausgeflogen wäre.
Überrascht von der Stärke des Schlages taumelt er noch ein wenig benommen von einem Bein zum anderen, es fällt ihm schwer das Gleichgewicht zu halten.
Stehfen gelang es einen weiteren Schlag mit seiner Rechten zu landen, bis sich der Weltchampion wieder gefangen hatte.
"Danke Coach! Gut, dass ich dich habe. Wenn der Rest auch so ein Kinderspiel wird...", bewusst ließ Stehfen den Jubel der Massen auf sich einwirken, als der Gong die Runde unterbrach. Nun nahm er auch die Schönheiten, die als Nummerngirls engagiert worden waren, wahr und schaute ihnen gerne nach, wie sie in ihren knappen Outfits an seinem großen Kampf an seinem Sieg mitwirkten. Stehfen fühlte sich erhaben über diesen Moment und auf seinem Gesicht zeichnete sich ein leichtes Grinsen ab.
"So gut wie gewonnen.", dachte Stehfen. "Sein Selbstbewusstsein hat er nach meinem Schlag verloren. Jetzt ist er der Verlierer."
Doch wie sein Blick über die jubelnden Menschenmassen entlang in die Ecke seines Rivalen, gleichzeitig jedoch auch seines noch einzig verbliebenen Idols führte, überkamen ihm Zweifel: "Er ist der einzigste, der mich noch hätte besiegen können. Doch er hat verloren. Er ist am Ende. Ich habe ihn vernichtend geschlagen. Es sieht aus, als hängt sein Kopf nach unten. Was ist los mein Freund?"
Während Stehfen in dem, wie er meint, traurigen Gesicht seines Widersachers und seines Freundes forschte, überkam ihm blitzesschnell eine Jugend-erinnerung an seinen ersten richtigen Kampf auf dem Pausenhof der Schule. Vor ihm bauten sich die riesigen grauen Wände des Schulgebäudes auf, die den Pausenhof einschlossen. Jede Pause verbrachten sie da. Der Gong läutete die Pause ein und sie strömten hinaus, weg von dem Unterricht. Weg von den Regeln, auf dem rauen Pflaster des Pausenhof war alles erlaubt.
Vielleicht war er damals zehn oder älter, als Stehfen eines Tages während der Pause mit seiner Klicke einen Jungen aus einer Klasse unter ihnen trafen, den er zuvor noch nie gesehen hatte. Sie redeten normal miteinander, scherzten und lachten. Bis einer von Stehfens Klicke plötzlich meinte, Stehfen und er sollen gegeneinander kämpfen. Niemand kann sagen, wie es zu dieser Idee kam, aber alle fanden es als großartig und der neue war einverstanden. Nur Stehfen wusste nicht, wie ihm geschah. Im Grunde wollte er nicht gegen ihn kämpfen, aber da alle es von ihm verlangten und ihn anfeuerten, tat er es doch.
Sie drehten sich im Kreis, die grauen Wände schlossen sie ein. Stehfen ist dieser Kampf viel brutaler und heftiger, als alle Kämpfe danach in Erinnerung. Es war alles erlaubt. Treten, Schlagen. Und sie nutzen alles aus. Es war kein Kampf, in dem erst ein langsames Abtasten stattfand und in dem es zwischendurch längere Pausen gab. Es ging gleich voll zur Sache, sie stürzten aufeinander und ließen nicht mehr ab von einander. Wendete einer eine große Anstrengung auf, so versuchte der andere diese zu überbieten.
Obwohl Stehfen ein, zwei Jahre älter war, gelang es ihm nicht den Jungen aus der anderen Klasse zu besiegen. Beide waren gleichstark. Heute noch vermochte Stehfen das dicke Gehäuse der G-Shock, der Uhr des Jungen zu spüren, wie sie in sein Gesicht, auf der Wange einschlug. Der Kampf endete unentschieden. Die Glocke läutete, die Pause war vorbei. Stehfen hatte den Jungen seitdem nie wieder gesehen, hatte ihn auch nicht bewusst gesucht.
Seine Schule war groß, er hatte ihn einfach vergessen. Aber jetzt wusste er, dass er wegen ihm das Boxen angefangen hatte.
Der Gong beendete die Pause, die dritte Runde sollte beginnen. Stehfen saß auf seinem Stuhl. Er schaute zu seinem Freund oder Feind. In seinem Gesicht glaubte er Traurigkeit zu erkennen. Sein Haar war kurz, seine Handschuhe blau.
"Stehfen", sagte sein Trainer. "Steh auf und kämpfe!"
Er wusste nicht, was er tun sollte.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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