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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Instrumentarium des Glücks N°12

© David Winterhurst


Der Tag begann mit Pulverkaffee, den Turner noch halb im Schlaf zu sich nahm. Wie beinahe jeden Morgen saß er dabei auf seinem, in eine Ecke des kleinen Zimmers gedrängten Bett und starrte auf die knochigen, leicht behaarten Knie seiner krummen Beine. Genau genommen spielte es sich sogar jeden Morgen so oder zumindest so ähnlich ab, sieht man einmal von jenen Tagen ab an welchen Turner in dem grellen Putzlicht einer Bar erwachte, oder gar auf irgendeinem Parkplatz oder Gehsteig.
Doch aller Möglichkeit nach war Turner solcher Art Tage in der letzten Zeit aus dem Weg gegangen. Sie köpften ihm das Herz, waren wie Schraubschlüsselschläge auf seine morschen Glieder. Und nicht zuletzt zogen sie es meist nach sich, dass seine Brieftasche dann entweder leer oder ganz verschwunden war.
Jedes mal wenn Turner unter solchen Umständen erwachte, tat ihm jeder seiner Knochen so einzeln weh, dass er ihnen Namen hätte geben können. Erst recht wenn er in der Nacht zuvor von irgendwem verprügelt worden war, was keinesfalls selten vorkam, wenn Turner erst einmal mit dem Trinken begonnen hatte. Nicht dass er keinen Alkohol vertrug und dann zur Gewalttätigkeit neigte, wie so viele andere. Nein, ganz im Gegenteil. Er trank ja jede Form von Alkohol beinahe weg wie Wasser. Und so brauchte es dann auch eine ganze Weile, ehe überhaupt eine spürbare Wirkung bei ihm einsetzte. - Doch auch von Wasser kann einem irgendwann einmal schlecht werden. Ist es nicht so?
Nein, das eigentliche Problem bestand im Grunde darin, dass Turner, sobald er zuviel getrunken hatte, ein ungeheuer friedliebender Mensch wurde. Ein solch friedliebender Mensch, dass ihn dann jedes Mal ein ganz ungeheures Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit und Harmonie überkam. Und er mischte sich überall ein, versuchte hier und da die Dinge ins Lot zu bringen, die ihn ja gar nichts anzugehen schienen. Er bemühte sich jede Form von Auseinandersetzung zu schlichten, führte Verhandlungen zwischen zerstrittenen Schlägern und Säufern.
Turner sah sich selbst in der persönlichen Verantwortung dafür, dass ein jeder der ihm über den Weg lief seine hundertprozentigen Chancen erhielt.
Und wenn es sich ergab, klärte er bei dieser Gelegenheit auch gern jeden darüber auf was er von dieser unserer Welt halte und wie sehr sie uns alle doch ausnutze.
Man kann sich wohl leicht denken, dass Turners soziale Ader bei seinen Mitmenschen auf wenig Anerkennung traf. Wann immer er helfen wollte einen Streit zu beenden, oder ein Missverständnis aufzuklären, schien es beinahe als wären die Menschen überhaupt nicht daran interessiert ihre Probleme zu lösen. Und schon gar nicht schienen sie daran interessiert diese Probleme von Dritten lösen zu lassen. Da lag es schon eher in ihrem Interesse sie auf einen solchen Außenstehenden abzuwälzen, wozu ihnen Turner freilich eine willkommene Gelegenheit bot. Es waren entweder seine Gutmütigkeit oder seine Ehrlichkeit, welche Turner in Gesellschaft anderer Leute und in Verbindung mit Alkohol immer wieder in arge Schwierigkeiten brachten, auf dass er schließlich meist verprügelt oder sogar ausgeraubt wurde. Einmal war ein riesiger Kerl - ein ehemaliger Boxer, wie er Turner im Laufe des Abends erzählt hatte - sogar so weit gegangen, ihn beinahe zu Tode zu prügeln.
Nachdem er Turner seine erbärmliche Lebensgeschichte ausgeschüttet hatte, versuchte ihm dieser zu erklären, dass sein größtes Problem vermutlich in seiner latenten Homosexualität liege. Unser Boxer wusste damit jedoch überhaupt nicht gut umzugehen und schleppte Turner schnurstracks auf den Parkplatz neben der Kneipe, wo er ihn dann von einer Automotorhaube auf die nächste prügelte, nebenher immer wieder einen großen Schluck aus einer Magnumflasche Whisky kippend. Als Turner schließlich halbtot und unser Boxer dermaßen betrunken war, dass er fast nur noch daneben schlug und nicht einmal mehr seine Schimpfwörter deutlich auszusprechen vermochte, ließ er plötzlich von ihm ab. Stattdessen fing er nun tatsächlich an zu heulen, entschuldigte sich tausendfach bei Turner und begann schlussendlich damit an seiner Hose herumzuknöpfen. Offenbar hatte er tatsächlich vor, Turner zu vergewaltigen. Und dermaßen schwerfällig wie er dabei auf ihm drauf lag, hätte dieser auch herzlich wenig dagegen unternehmen können. Doch Turner hatte Glück und der große Kerl sackte, gerade als er seine eigene Hose heruntergezogen hatte, in sich zusammen und war eingeschlafen.
Die Regel waren solche extremen Schlägereien jedoch nicht. Denn Turner war alles andere als dumm. Und wenn er etwas wusste, dann dass er ein miserabler Schläger war. Noch nie in seinem Leben hatte er irgendeine Prügelei für sich entscheiden können. Und auch verabscheute er im Grunde jede Form von Gewalt.
Eher war er jemand, der immer nur verprügelt worden war, sein ganzes Leben lang, wenn man so will.
Er war also selbst darum bemüht, derartigen Situationen so weit wie nur möglich aus dem Weg zu gehen. Doch der Prozess der Resignation war ein langwieriger und ehe Turner endlich eingesehen hatte, dass er die Welt vielleicht doch nicht würde ändern können, war er zweiunddreißig und bereits mindestens genauso oft von irgendwem verprügelt worden.
Mag sein, dass Turner sich dieser Einsicht selbst nicht gar gewahr wurde.
Doch sobald sie erst einmal die Bildfläche seines Unterbewusstseins betreten hatte, genügte nur noch ein winzig kleiner Moment, um Turner das ganze Dilemma seiner Existenz aufzuzeigen und sein Leben um hundertachtzig Grad umzukehren. Aber um diesen Moment verstehen zu können, muss man noch einiges mehr über Turner erfahren.
Ein weiterer Grund, morgens nicht in seinem Bett zu sitzen und Pulverkaffee zu trinken, war der, dass Turner die Nacht bei jemand anderem verbracht hatte, was jedoch so gut wie überhaupt nicht vorkam. Zwei Mal war er in einem fremden Bett erwacht und beide Male verschwand er von dort, noch ehe die Person neben ihm die Augen geöffnet. Ungewiss was in der Nacht zuvor wohl passiert sein mochte und dennoch mit einem Gefühl im Magen, als wäre er der erste Mann auf dem Mond gewesen.
Turner war kein Freund solch schnelllebiger Beziehungen. Ohne den Alkohol wären sie ihm nie und nimmer möglich gewesen. Und so gesehen war er nicht einmal ein Freund seines eigenen Lebens. Er war kein Alkoholiker und auch kein asozialer Schnorrer, wie all die anderen Bargestalten in dieser Stadt, sondern einfach nur durch einen dummen Zufall irgendwann in diesem Loch gelandet und bisher nicht wieder von dort verschwunden.
Alles hatte damit angefangen, dass Turners Frau bei einem unverschuldeten Autounfall ums Leben kam. Er war gerade achtundzwanzig als das passierte und die Beiden hatten knapp ein halbes Jahr zuvor geheiratet. Der übermüdete Fahrer eines Tanklastzuges war von seiner Spur abgekommen und hatte Turners Frau in ihrem Wagen einfach überrollt.
Ihr Verlust war für Turner eine schmerzliche Tragödie unschätzbaren Ausmaßes. Er wurde krank vor Trauer und schlug in seiner ausweglosen Verzweiflung ihre gemeinsame Wohnung - jede noch so kleine Erinnerung - in Schutt und Asche, begann zu trinken, hörte auf mit anderen Menschen zu sprechen und ging auch nicht mehr zur Arbeit, bis dass ihm schließlich gekündigt wurde. Turner setzte alles daran, seine Umgebung so weit es nur ging seinem Innenleben anzupassen. Nur das Zerstören sämtlicher sozialer und privater Umstände konnte einen solchen Rahmen der ausweglosen Verwüstung schaffen, dass der Tod seiner Frau darin haltbaren Platz fand. Und mit diesem Bild im Herzen, umgeben von einer Lebenslandschaft völliger Vernichtung, ging Turner Schritt für Schritt vor die Hunde.
Es fehlte gewiss nicht mehr viel, bis er ganz daran gestorben wäre, oder sich in einem Moment rauschhafter Selbsterkenntnis von eigener Hand das letzte bisschen Leben genommen hätte. Und in solcher Verfassung saß Turner an irgendeinem Wochentag, der für ihn keinerlei Bedeutung mehr hatte, auf einer Matratze inmitten der Reste seines Wohnzimmers. Umgeben von Häufchen halb verbrannter, dann wieder gelöschter Photos, die wie Maulwurfshügel auf dem zerkratzten Parkettboden saßen. Dazwischen zerschlagene Holzteile, aus denen sich hier und da noch Möbel erahnen ließen, wenn sie gleich den Skeletten gesunkener Schiffe in die zigarettenneblige Luft ragten. Umzingelt von Armeen aus Scherben farbigen Glases und einst kostbaren Porzellans. Und in den weitesten Rändern des Raumes schließlich umringt von unbewohnten Inseln zerrissener Kleidung.
Die Sonne schien höhnend durch zwei große Terrassenfenster herein. Und nach tagelanger Stille hatte Turner damit begonnen auf nichts weiter als seine schwächer werdende Atmung zu hören. Derweil dachte er an die verschiedensten Episoden des Zusammenlebens mit seiner Frau. Nur ausgerechnet an diesem Tag und zu dieser Stunde erinnerte er sich ihres Einzugs in die gemeinsame Wohnung. Und als er in seinen Gedanken auf jenen Moment blickte, in dem seine Frau sich darüber wunderte, dass die Wohnungstür noch über eine alte Briefkastenklappe verfügte, obwohl unten im Hausflur längst moderne Briefkästen hingen, da vernahm Turner ein helles metallenes Klappern, wie er es seit diesem Tage nicht mehr gehört hatte und öffnete die Augen. Seine Frau hatte wegen dieser Briefkastenklappe einige Bedenken um die Sicherheit der Wohnungstür gehabt und mehrere Minuten lang skeptisch an ihr herumgespielt. Das metallene Geräusch das sie dabei gemacht, war exakt dasselbe welches Turner nun plötzlich aufgeschreckt hatte. Und nur deshalb, um zu prüfen wie verrückt er bereits vor Trauer geworden war, erhob er sich und ging zu der Wohnungstür, der er sich schon seit Tagen nicht mehr genähert hatte. Auf dem roten Teppichläufer davor lag ein blassblauer, länglicher Briefumschlag, mit dem Kopf nach unten.
Möglicher Weise hatte der Postbote das Einwurfeinschreiben für zu wichtig gehalten, um es in den längst überfüllten Briefkasten im Hauseingang zu zwängen. Doch Turner dachte über solcherlei Vermutungen nicht nach. In seinem hellhörigen Zustand aus konzentriertem Seelenschmerz und körperlicher Verwahrlosung sah er diesen Brief als das was er war: eine Nachricht seiner verstorbenen Frau. Und mit Tränen in den Augen öffnete Turner den Umschlag an Ort und Stelle. Ohne einen Blick auf den Absender geworfen zu haben, zog er die zwei Bögen Papier heraus und überflog sie mit hektischen Blicken. Hin und her sprangen seine Augen, ohne den vollen Zusammenhang des Inhalts zu erfassen. Er war auch so verständlich genug.
Die Lebensversicherungspolice Turners Frau belief sich auf etwas mehr als zwanzigtausend Dollar. Sie war die letzte Ausfahrtsmöglichkeit aus seiner bis dahin unaufhaltsam vorangeschrittenen Verelendung. Und Turner nahm sie ohne zu zögern wahr.
Wäre das Schreiben bei der anderen Post im Briefkasten gelandet, hätte Turner es vermutlich nie geöffnet. Doch so ging er auf der Stelle ins Badezimmer, duschte und rasierte sich, zog dann seinen letzten sauberen Anzug an, suchte alle notwendigen Papiere zusammen und verließ nicht mal eine Stunde später die Wohnung, ohne je wieder dorthin zurückzukehren.
Nachdem er das Geld besorgt hatte, fuhr Turner zunächst immer nur in Richtung Westen, wo er das vage Ziel hatte Kalifornien zu sehen, das Meer, den Strand und vielleicht ein paar Surfer. Er hatte zwar kein wirkliches Interesse an der Westküste, aber er folgte seiner ersten Eingebung, zu überprüfen ob das was man darüber im Fernsehen sah auch stimmte. Turner hatte sein eigenes Leben verwirkt, oder vielmehr war es ihm auf brutalste Weise entrissen worden. Nun sollte er, wie ein Toter auf Urlaub, all das von der Welt sehen, was auch immer das Leben in ihr zu bieten hatte und ihm vorenthielt. Er zog aus, das Leben zu sehen und sich selbst und seine Vergangenheit auf dem Weg dorthin zum Verschwinden zu bringen.
Doch auf nicht einmal der Hälfte seines Weges endete diese Reise schlagartig, als er einen alten Tramper namens Cliff Harris mitnahm, welcher Turner bat ihn nachhause zu bringen. Turner erfuhr nie, was um alles in der Welt Harris dreißig Kilometer von seinem Wohnort entfernt mitten auf einer gottverlassenen Straße trieb. Aber da es bei seiner vagen Reiserute auch keinen allzu großen Umweg machen konnte, fuhr er den alten Mann tatsächlich nachhause.
Als sie dort ankamen, war es bereits später Abend und beide Männer waren erschöpft und hungrig. Aus Dankbarkeit bot der bis dahin recht zurückhaltende Harris seinem Fahrer an, bei ihm zu übernachten und da Turner ohnehin zu müde war um weiter zu fahren und eine Abwechslung zu den Nächten im Auto ganz gut vertragen konnte, stimmte er zu und die Beiden zogen sich in eine Kneipe zurück, um dort bei einer warmen Malzeit und etwas Wein den Tag ausklingen zu lassen. Der fast siebzigjährige Harris zeigte sich von Turners Trinkfestigkeit beeindruckt, was dieser anfangs überhaupt nicht verstehen konnte und wofür er sich auch vorerst nicht im Geringsten interessierte. Turner war es auch gewesen, welcher eine eventuelle Kommunikation der beiden Männer bisher weitgehend abgeblockt hatte. Seit Wochen hatte er ja mit keinem Menschen mehr ein richtiges Gespräch geführt.
Und wenn man auch das Gegenteil annehmen müsste, so hatte Turner doch das Gefühl eine Unterhaltung würde ihn nur in seinem stillen Prozess des Vergessens stören.
Dennoch brachte Harris ihn an diesem Abend dazu, soviel zu trinken, dass er letzten Endes doch noch betrunken wurde. Und im Rausche des hochprozentigen Weins vergaß Turner schließlich zu vergessen, bis dass er zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau mit jemandem über diesen vernichtenden Verlust sprach. Er erzählte dem, inzwischen ebenfalls bis zur halben Bewusstlosigkeit betrunkenen Harris von ihrer Hochzeit, der kurzen Ehe und ihrem tragischen Ende, wobei er neben dem schmerzvollen Liebesverlust vor allem über die ungerechten Umstände ihres Todes einfach nicht hinweg kommen konnte. "Warum?" war eine Frage, welche er an diesem Abend bestimmt öfter stellte als er Jahre alt war.
Als die Kneipe gegen vier Uhr schloss, brachte Turner den kaum mehr bewegbaren Harris in dessen Wohnung, half ihm in einen Sessel und ließ sich dann selbst, erschöpft von dem Schleppen des nicht gerade leichten Mannes, auf dessen Bett fallen. Natürlich fragte er ihn, wo er schlafen solle, ob auf der Couch oder im Bett. Doch da Harris keine Antwort mehr gab und Turner selbst zu Tode erschöpft war, hatte er ihn in der nächsten Sekunde einfach in dem Sessel vergessen und sackte selbst auf dessen weichem, warmem Bett zusammen, in dem er ohne einen weiteren Gedanken und im Rausch des Alkohols seinen Schlaf fand. Es war vier Uhr morgens und die Ruhe, welche von dem halb geöffneten Fenster aus in das Zimmer fiel, wurde nicht einmal vom Wind unterbrochen, sondern hatte eine freie Weite in sich, eine Unendlichkeit und Stille, eine Ewigkeit, welche von der nahe gelegenen Wüste aus herüber wehte. In dieser Stille setzte Turner seine Reise des Vergessens fort.
Als Turner am Mittag erwachte, war Harris tot. Der alte Mann hatte die große Menge an Alkohol und die unbequeme Nacht in einem Sessel nicht überstanden.
Doch vermutlich hatten auch die vorangegangenen Tage, welche ihn dreißig Kilometer vor die Stadt getrieben hatten, dazu geführt, dass er dermaßen geschwächt war. Dennoch blieb seinem Tod und vor allem dem Umstand ihres Kennenlernens etwas rätselhaftes, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass Turner in der Stadt blieb, Harris' Wohnung übernahm und irgendwann sogar einen Halbtagsjob in einem Buchladen annahm.
Ursprünglich wollte er zwar nur einige Tage bleiben, damit er sich um Harris' Beerdigung und all das kümmern könnte; denn der alte Mann schien nicht die geringste Verwandtschaft zu haben. Doch schließlich wurden aus den Tagen Wochen und so weiter, bis Turner ganze drei Jahre in diesem kleinen Ort blieb, vor allem weil er sich auch von der Wohnung nicht ohne weiteres einfach so trennen konnte. Auch wenn er Harris nicht gekannt hatte, hatte er doch das Gefühl er wäre es ihm schuldig dort zu bleiben, so als wäre ihm die Wohnung übergeben worden, wenn es auch offensichtlich keinerlei Grund dafür gab. Denn für Turner gab es einen solchen Grund durchaus.
Harris war der erste und letzte Mensch gewesen, dem gegenüber Turner sein Herz über den Tod seiner Frau ausgeschüttet hatte. Er war der erste und letzte Mensch gewesen, dem er auf seiner Reise ins Vergessen begegnet war.
Für Turner war Harris der Sargnagel, der das Ende seines so jäh abgerissenen Lebens besiegelte, obwohl ja Harris derjenige war der nun die Segel gestrichen hatte. Aber auch das machte irgendwie Sinn: Dass Turners Leben mit dem Tod seiner Frau geendet hatte. Und dass sein nächstes Leben nun mit dem Tod eines anderen Menschen begann. Noch war sich Turner nicht im Klaren, ob es tatsächlich ein nächstes Leben war, denn immerhin hatte er sich ja in der Gewissheit auf die Reise begeben, dass sein Leben verwirkt und er nunmehr ein lebendiger Toter war. Und deshalb entzog er sich dieser Frage auch auf die denkbar einfachste Weise. Indem er zunächst gar kein neues Leben begann, sondern einfach Harris' Leben übernahm. In dessen Stadt und in dessen Wohnung setzte er es fort. Das Leben eines Toten.
Turner blieb also in der kleinen Stadt und wurde dort mit der Zeit zu einem gemochten, aber äußerst zurückgezogenen, mageren Kerl, der viel trank, aber doch nie süchtig wurde. Für ihn selbst bedeuteten die folgenden Jahre neben seiner äußerlichen Wandlung - er ließ sich sein Haar kürzer schneiden und kaufte sich einen Schwung neuer Anzüge - auch eine Art Besinnung und Beschränkung auf einfachste Mittel der Existenz: Keinerlei Veränderungen in Harris' spartanischer Wohnung. Viel Lektüre, kein Fernsehen. Von allen Bedarfsmitteln nur die schlichtestmögliche Ausführung.
Turner lebte ausgesprochen sparsam, hatte sein Auto verkauft, kam mit Hilfe seines kleinen Jobs ausreichend gut über die Runden und hatte sogar entschieden die Versicherungssumme nicht weiter anzurühren. Sie war nichts als ein Mittel zum Zweck seines Aufbruchs gewesen. Als tatsächlicher Finanzwert war sie für Turner nebensächlich. Es würde vielleicht die Zeit kommen, da sie wieder gebraucht werde. Doch bis dahin trug er sie wie einen Schutzschild göttlicher Legitimation als Mantel des Schweigens in sein altes Jackett eingenäht.
Turner gelangte in dieser Zeit zu der erfahrenen Einsicht, dass er zwar verdrängen konnte was ihn tagtäglich als Erinnerung folterte und quälend schmerzte. Aber nie würde er seine Frau vergessen können. Und das galt es zu akzeptieren. Seine Reise ins Vergessen war nicht nur eine Reise ohne Wiederkehr, sondern auch eine ohne Ziel. Es gab kein Vergessen. Und damit auch keine Reise, nur eine endlose Irrfahrt.
Vielleicht begann er wegen all dessen, sich in seinem Sinn für globale Gerechtigkeit und Frieden eher wie ein Engel denn wie ein Toter aufzuführen.
Doch in Wahrheit war Turner weder das eine noch das andere.
Und als er an diesem Morgen aufwachte, sein spärliches Frühstück im Bett einnahm, da dachte Turner nicht darüber nach, dass er die Welt nicht bessern könne wie ein Engel und dass er aber auch irrte, wenn er glaubte sie ginge ihn gar nichts mehr an, wie einen Toten. Nein, Turner dachte bei sich, dass ihm der Kaffee so gar nicht schmecke. Dass er vielleicht Harris geschmeckt hätte, aber nicht ihm. Doch er war nicht Harris. Er lebte nur in dessen Wohnung, weil das Schicksal es so mit ihm bestimmt hatte.
Und in diesem Moment war Turner nicht weit weg von der Erkenntnis, dass Harris genauso wie die Lebensversicherungspolice den Wert eines Zeichen haben mochte. Doch dass Harris' Leben zu leben noch lange nicht die Antwort oder gar ein Ziel darstellte, genauso wenig wie es darum ging die Versicherungssumme als bloßes Geldmittel auszugeben. Gewiss wurde sich Turner dieser Einsicht selbst noch gar nicht gewahr. Aber sobald sie erst einmal die Bildfläche seines Unterbewusstseins betreten hatte, bedurfte es nur noch eines winzig kleinen Moments, um Turner das ganze Dilemma seiner Existenz aufzuzeigen und sein Leben um hundertachtzig Grad umzukehren.
Für einen Bruchteil von Augenblick schien es Turner als habe er ein kleines Dejávùs, als er entschied lieber einen Pfefferminztee statt diesen Kaffee trinken zu wollen. Und dabei fiel ihm auf, wie lang er das tatsächlich schon wollte und dass er Entscheidungen so gut wie nie fällte, sondern sie nunmehr feststellte und aussprach, nachdem die Zeit sie in gründlicher Reife längst getroffen hatte.
Dennoch war der Moment in dem Turner die Tasse Pulverkaffees zur Seite stellte ein sehr erhabener Augenblick für ihn. Denn zum ersten Mal seit den letzten drei Jahren traf er eine bewusste Entscheidung, ganz egal wie lange vorher sie nun schon gefällt worden war. Und als er darüber tatsächlich ein Gefühl des Glückes empfand, wie man es nur aus der Distanz zur Welt verspüren kann (in der Welt über der Welt), da wurde Turner klar, dass ihm nach drei Jahren eine Veränderung bevor stand. Was noch nicht heißen sollte, dass sie auch an diesem Tag stattfinden musste. Ebenso gut hätte sie erst in drei weiteren Jahren stattfinden können. Aber zumindest würde sie kommen.
Dessen war sich Turner nun im Klaren.
Es war einer der ersten Frühlingstage im Jahre 1973 und nachdem Turner aufgestanden war, fiel ihm ein, gar keinen Pfefferminztee im Haus zu haben.
Also streifte er die kurze, dunkelblaue Hose von seinem Körper und marschierte ins Badezimmer, wo er duschte, sich einen Tag früher als gewöhnlich rasierte und seine Zähne putze, ehe er wieder nach drüben ging, in seinen alten Anzug schlüpfte und kurz darauf das Haus verließ. Turner machte einen Spaziergang, der schließlich in jener Kneipe endete, in der sein Leben in dieser Stadt vor gut drei Jahren begonnen hatte.
Der übliche, eher lahme Vormittagsbetrieb hielt den kurzatmigen Barkeeper kaum in Trab. Und nachdem Turner die ihm bekannten Elendsgestalten begrüßt hatte, welche längst zu so etwas wie dem Inventar dieser Kneipe gehörten, setzte er sich ebenfalls auf einen der gepolsterten Barhocker und bestellte endlich seinen Pfefferminztee.
Als er wenig später den müden, ausgemergelten Teebeutel aus dem Glas zog, rief ihm Finsky (ein kleiner, verschlagener, alter Kerl, welchen Turner noch nirgendwo anders als am anderen Ende dieser Bar gesehen hatte) zu, er solle statt dem verdammten Tee lieber mit ihm zusammen einen auf seine Gesundheit trinken. Doch die zittrige Hand, die dabei ein Schnapsglas empor hielt, und auch der ganze Kerl daran, glichen Turners ausgemergeltem Teebeutel viel zu sehr, als dass er dessen Angebot hätte annehmen wollen. Turner drückte den Teebeutel auf die Untertasse und wendete sich ohne eine weitere Reaktion seinem Heißgetränk zu, während sich der alte Finsky lechzend seinen bestimmt zehntausendsten Drink hinter kippte.
"Hast wohl das Trinken aufgegeben?" keuchte es kurz darauf vom anderen Ende der Bar herüber und Turner warf Finsky einen Blick zu, als könne dieser unmöglich ihn gemeint haben. Doch dessen verwirrtes Nicken war kaum miss zu verstehen, und so schuldete Turner ihm wohl oder übel zumindest eine Antwort.
"Klar und das Essen und Schlafen gleich dazu", sagte er und nahm einen zögernden Schluck.
Der Tee war noch immer heiß.
"Ach, Pillepalle. Kein Wort glaub ich dir. Seit drei Jahren bist du schon hier und du bist genau so einer von uns wie es auch der verdammte Harris war."
"Bob!" zischte Mason - der Barkeeper - mit verärgertem Gesicht. Niemand kannte den Nachnamen dieses Mannes, vermutlich nicht einmal er selbst.
Turner nutzte die Gelegenheit und angelte sich eine Zigarette aus seiner Hemdtasche.
"Ich bin keiner von euch und wenn ich wollte, könnte ich genau in diesem Augenblick aus der Tür heraus marschieren und nie wieder hierher zurück kehren." Er zündete sich in aller Ruhe seine Zigarette an und beachtete die erstaunten Gesichter der anderen dabei kaum.
"Das ist wohl nicht dein Ernst, oder?" bemerkte Mason, der noch immer beim Abtrocknen war.
"Na dann tu's doch. Warum tust du's denn nicht?" Der alte Finsky schien Turner kein einziges Wort zu glauben.
"Ich werd' dir sagen warum ich's nicht tue. Weil ich hier nämlich eine Zigarette und einen Tee habe und weil ich die beide in Ruhe genießen will."
"Ach erzähl' mir doch nicht, dass Rauchen ein Genuss wäre. Ich rauche praktisch seit meiner Geburt und ich kann dir sagen, jeder der behauptet das verdammte Rauchen wäre ein Genuss, ist ein Lügner. Und der Tee ist doch auch nur die reinste Plärre." Verärgert knallte Mason Finsky sein Abtrockentuch vor die Brust, worauf dieser einen kräftigen Hustenanfall bekam.
"Finsky, darf ich Dir mal eine Frage stellen?" Der gute Mann musste sich zwar erst von seinem Husten erholen, doch er schien nichts dagegen zu haben.
"Also angenommen ich würde Dir jetzt hier auf der Stelle zwanzigtausend Dollar auf den Tresen legen. Was würdest Du damit machen?" Finsky und Mason starrten ihn an, als bestünde die Aussicht, dass Turner seinen Worten Taten folgen ließe. "Keine Ahnung? Ich sag Dir, was Du tun würdest. Du würdest anfangen darüber nachzudenken, was Du wohl mit solch einer stolzen Stange Geld anfangen könntest. Und dazu würdest Du Dir von den ersten paar Dollar einen guten Drink bestellen. Und genau so würdest Du es weiter tun, bis das gesamte Geld weg wäre."
"Ja", mischte sich Mason ein. "Aber nach den ersten Zehntausend würde er vermutlich tot umfallen. Und ich könnte von dem Geld den Laden hier endlich mal auf Vordermann bringen."
"Du könntest ihn umbenennen. In ‚Bob Finsky Memorial Bar'", schlug Turner vor und prostete dem Mann hinter dem Tresen zwinkernd zu. Na und der lachte.
"Ach, ihr spinnt doch", unterbracht Finsky ihren Spaß. "Seit du damals mit dem alten Harris hier hereinspaziert bist, habe ich dich beinahe jeden Abend in dieser Bar gesehen. Glaub mir, du wirst deinen Lebensabend hier ebenso verbringen wie Cliff es getan hat."
"Was hat Harris eigentlich beruflich gemacht?" Bisher hatte sich Turner nie für diese Frage interessiert.
"Na, du kanntest ihn doch. Er war im gleichen Geschäft wie die meisten die hierher kommen: Ein pensionierter Säufer." Finsky hatte Recht. Und Unrecht, zur selben Zeit. Turner hatte Harris erst nach dessen Tod wirklich kennen gelernt. Beim Ausräumen seiner Wohnung stieß er auf so wenige persönliche Habseligkeiten, die allesamt zu wenig zueinander passten, als dass sie eine Geschichte hätten erzählen können. Und so ließ er das meiste davon auf sich beruhen, hatte einige der Schubfächer und Kartons bis zum heutigen Tage nicht einmal geöffnet.
"Na ja", ergänzte Mason grüblerisch. "Er hat nie viel von früher erzählt.
Aber soweit ich mich erinnere, hat er mal davon gesprochen, dass er Lastkraftfahrer war. Ja, er fuhr diese großen Tanklastzüge, machte die ganz langen Überlandfahrten. Muss ein knochenharter Job gewesen sein. Manchmal lief er noch raus zu den Highways, um die großen Trucks zu sehen, wenn sie vorbei fuhren."
Turne starrte auf seine halb heruntergebrannte Zigarette, das zur Hälfte geleerte Teeglas, und es fehlte nicht viel, dass er wie damals vor dem Briefumschlag im Flur in Tränen ausgebrochen wäre. Nur eine Frage ging ihm durch den Kopf: Warum hatte er in drei Jahren nicht ein einziges Mal irgendwen danach gefragt? Warum? Warum nicht Mason, der noch am meisten Verlässliches über jeden hier wusste? Warum?
"Was würdest du denn machen, wenn ich dir Zwanzigtausend vor die Nase halten würde?" unterbrach in diesem Moment Finsky Turners Gedanken.
"Ich würde mir einen Anzug daraus nähen lassen. Nicht davon, sondern daraus." Und während Mason erneut lachen musste, winkte Finsky nur ab. Es war offensichtlich, dass er sich nicht ernst genommen fühlte. Doch Turner kehrte für einen Moment in seine unterbrochenen Gedanken zurück, konnte noch immer nicht fassen was er da gerade erfahren hatte. Dann tippte er mit der flachen Hand auf die Tresenkante.
"Pass auf, Finsky. Wenn Du willst, machen wir eine kleine Wette. Ich lasse jetzt meinen Tee und meine Zigarette hier liegen, gehe raus und nach drüben zur Tankstelle und kaufe mir dort eine neue Schachtel."
"Na und?"
"Und wenn ich dabei in oder vor der Tankstelle irgendwen treffe, dann frage ich ihn wohin er fährt und ob er mich mitnimmt, auch wenn's bis ans Ende der Welt ist. Und treffe ich keinen, tja. komme ich eben wieder zurück."
"Und was daran soll nun die Wette sein?" fragte Finsky, durchaus daran interessiert, er könne eventuell einen Freidrink rausschlagen.
"Also angenommen ich treffe niemanden und komme wieder zurück, dann ist das ein Unentschieden und nichts passiert. Wenn ich aber doch jemanden treffe und mich derjenige nicht mitnehmen will, dann komme ich wieder her und du gibst mir das Geld für die Zigaretten wieder."
"Und wenn dich einer mitnimmt?" mischte sich der noch immer mit dem Polieren seiner Gläser beschäftigte, aber aufmerksam zuhörende Mason ein.
"Wenn ich jemanden treffe und dieser jemand mich mitnehmen würde, dann fahre ich mit ihm und Du Finsky bezahlst meinen Tee."
"Das ist doch total link. Wann hast du denn die Wette verloren?"
"Das ist es doch gerade. Ich kann die Wette überhaupt nicht verlieren, weil ich eben keiner von euch bin. Ich bin nicht Harris. - Also, gilt die Wette?"
"Woher soll ich denn wissen, ob du wirklich irgendwen fragst?"
"Du kannst ja Ruth oder Jeremy fragen, je nachdem wer grad drüben Schicht hat."
"Na also gut, von mir aus. Des Spaßes wegen lass es uns ausprobieren", willigte Finsky ein und orderte sogleich einen weiteren Drink. "Nur um zu sehen, ob du dich traust."
"Also dann." Turner nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und legte die beinahe aufgerauchte Kippe in dem Aschenbecher vor sich ab.
Dann stand er auf, verließ ohne ein weiteres Wort die Bar und ging hinüber zur Tankstelle, während Mason schleunigst zum Fenster lief und sich sogar der alte Finsky von seinem Sitz erhob, um zu sehen was Turner tun würde.
Turner lief tatsächlich zur Tankstelle, vorbei an einem braunen Ford Thunderbird und hinein in den Verkaufsraum, wo er sich ein Päckchen Zigaretten kaufte und dann den offensichtlichen Besitzer des Wagens ansprach.
Als Turner den Verkaufsraum in Begleitung eines jungen Mannes wieder verließ, blickten Mason und Finsky ganz aufgeregt und neugierig hinter ihrer Fensterscheibe hervor, sahen zu wie die beiden Männer in den gewaltigen Wagen einstiegen und sich dieser dann langsam in Bewegung setzte, die Straße hinauf rollte, bis er schließlich außer Sichtweite verschwand, nichts als zu Boden rieselnden Staub hinterließ.
"Verdammte Scheiße", rief Finsky. "Was kostet denn so ein blöder Tee bei dir?"



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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