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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Verrinnende Zeit

© Corinna Jedamzik


Unaufhaltsam rinnt der Sand durch das Stundenglas. Was ist ein Sandkorn in der Unendlichkeit? Es verschwindet, als wäre es nie da gewesen.
Was ist ein Leben im Gegensatz zu den Äonen des Alls? Ein kurzer Funke, den niemand bemerkt.
Ist es wichtig, dass man lebt? Ist es wichtig, dass man gelebt hat?
Das Leben, welches man führt, hat es irgendeine Bedeutung?
Seit Stunden sitze ich hier und beobachte deinen Atem. Rasselnd, abgehackt, ein verzweifeltes Ringen nach Luft. Nach dem bisschen Sauerstoff, dass einen am Leben erhält. Die Zeit verrinnt zäh wie dickflüssiges beinahe eingetrocknetes Öl. Nur an dem langsam wandernden Licht der Sonne, welches durch das Fenster fällt, merke ich, wie lange ich schon hier verharre. Schonungslos bricht sich die Helligkeit auf dem bleichen Weiß der Krankenhausbettdecke. Das Zimmer ist kahl und leer. Zu groß für eine einzelne Person. Eigentlich sollten hier drei Patienten liegen. Doch gestern Nacht hatte man entschieden, die Patientin neben dir in ein anderes Zimmer zu verlegen. Tod hängt in der Luft. Ein kaum wahrzunehmender Geruch nach Vergänglichkeit.
Meine Augen sind müde. Sie tun weh, weil ich sie aufgerissen halte, kein Wimpernschlag soll mich ablenken. Dein Anblick brennt sich in meine Netzhaut ein. Ein leiser Hauch in meinem Nacken erschreckt mich. Abrupt schaue ich mich um. Mir ist, als grinse mich der Sensenmann mit leeren Augenhöhlen vom Fußende deines Bettes an. Ruhig, den gebleichten Schädel unter einer düsterschwarzen Kapuze verborgen. Er weiß, dass du ihm nicht entkommen kannst.
Ich schüttele den Kopf. Das Geisterbild verschwindet, wie Nebelschwaden in der Morgensonne. Meine Beine sind eingeschlafen. Ich zwinge mich dazu aufzustehen. Es kribbelt in der Muskulatur, als ich zum Fenster hinüber gehe.
Fahrig gleiten meine Hände über mein Gesicht. Sie sind eiskalt. Fühlen sie die Kälte, die der Tod mit sich bringt? Ich schaue hinaus. Der Innenhof ist trist trotz der immergrünen Zierpflanzen und der hohen Bäume, die den Lärm der Straße ein wenig abschotten.
Das Sonnenlicht ist fahl. Ein Anzeichen des nahenden Winters. An den Bäumen hat sich das Laub bereits verfärbt. Blätter werden vom Wind herunter geweht. Mein Blick folgt einem gelblichroten Blatt, das am Fenster vorbei tanzt. Abgerissen vom lebensspendenden Stamm, an dem es einen Sommer lang gehangen hat. Ausgelaugt und trocken. Es wird irgendwohin geweht. In eine Ecke, an der es ungestört schwinden kann. In eine Ecke, in der es zu Staub zerfallen kann. Wird sich irgendjemand an dieses Blatt erinnern? Wird es irgendjemand vermissen?
Ich höre den rasselnden Atem hinter mir. Dann öffnet sich eine Tür. Rasche Schritte kommen herein.
"Es ist soweit", höre ich die freudige Stimme eines Mannes, "wir haben ein Mittel gefunden. In ein paar Wochen sind sie wieder auf dem Damm."
Ungläubig drehe ich mich um. Der Mann im weißen Kittel strahlt mich sichtlich an. Er hat deine Hand ergriffen und hält sie wohlwollend fest. Behutsam tätschelt er sie mit der anderen Hand. Du flatterst nur kurz mit den Augenlidern. Ein vages Zeichen, dass du verstanden hast.
Der Arzt nimmt eine große Spritze vom Tablett. Geübt prüft er den Flüssigkeitsstand, bevor er deine Ader staut und mit einem kurzen Ruck die Nadel setzt. Ich beobachte die trübe rote Flüssigkeit, die nach und nach in deinem Körper verschwindet. Als der Arzt die Spritze zieht, ist mir, als würde dein Atem ruhiger fließen. Es ist geschafft! Mit dem letzten Glockenschlag deines Lebens bist du dem Tod entkommen. Ich spüre einen Hauch hinter mir. Der Sensenmann zieht sich enttäuscht zurück. Ich höre das Rascheln seiner schwarzen Robe, die über den Boden schleift. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Erleichterung? Freude? Ich fühle nichts.
Das laute Öffnen der Tür lässt mich hoch schrecken. Die Eintönigkeit des Wartens hat mich dösen lassen. Die Schwester von der Tagschicht kommt herein, gemeinsam mit ihrer Kollegin von der Nachtschicht.
"Sie sollten etwas essen", mahnt sie mich.
Unsicher blicke ich auf dein bleiches Gesicht. Mit keiner Regung zeigst du, dass du spürst, dass ich da bin. Ich nicke und folge der Schwester aus dem Zimmer. Die Nachtschwester bleibt solange an deinem Bett, bis ich zurückkehre. Staksig bewege ich mich. Mein Körper ist müde. Ich fühle mich zerschlagen. Meine Muskeln schmerzen von dem ungewohnt langen Sitzen auf einem unbequemen harten Stuhl.
Dankbar nehme ich der Schwester ein Essenstablett ab. Ich schlurfe hinüber zu einem kleinen Tisch im Wartebereich. Eine Patientin sitzt dort und schaut interessiert dem Fernsehprogramm zu. Sie grüßt freundlich und beobachtet mich neugierig. Ich nicke nur zurück. Mir ist nicht nach reden. Mechanisch nehme ich etwas von dem Brot zu mir. Das Fernsehen dudelt vor sich hin. Die bunten Bilder tanzen vor meinen Augen. Doch ich kann ihnen nicht folgen. Mein Kopf ist leer.
Mein siebter Kaffeebecher an diesem Tag steht vor mir. Automatisch führe ich ihn zu den Lippen. Die heiße Flüssigkeit rinnt belebend durch meine Kehle. Ich fühle, wie sich das Koffein ausbreitet. Es gibt mir genügend Kraft die nächsten Stunden wach zu bleiben. Als ich die Tür zu deinem Zimmer öffne, bete ich, dass du in der Zwischenzeit gegangen bist. Doch dein rasselnder, schnappender Atem belehrt mich eines Besseren. Ich nehme wieder an deinem Bett Platz. Meine Hand legt sich auf die deine. Spürst du sie überhaupt? Bleich und kalt ist deine Haut. Der Puls darunter ist flatternd, leicht und zart, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings im Sommerwind.
Draußen wird es dunkel. Ich löse kurz meinen Kontakt zu dir und mache ein bisschen Licht. Nicht viel. Gerade so viel, dass ich etwas sehen kann. Gerade so viel, wie angenehm ist, im Angesicht des Todes.
Dein Gesicht verfällt. Unnatürlich spannt sich die Haut über deinen Schädel. Gelblich, fleckig. Allmählich nimmt sie die Konsistenz von altem Pergament an. Die Lippen sind rissig. Immer wieder in den letzten Stunden träufelte ich dir Wasser in den Mund, bis du aufgehört hast zu schlucken. Ab und zu tupfe ich mit einem feuchten Tuch über die blättrige Lippenhaut. Die Feuchtigkeit verschwindet, als würde ein Schwamm sie aufsaugen.
Nach einer Weile schaut die Nachtschwester herein. Sie ist jung. Eigentlich zu jung für diese Arbeit, doch sie strahlt die Ruhe der Weisheit aus. Ich frage mich, wie viele Menschen sie bereits begleitet hat. Ist der Tod noch etwas Besonderes für sie? Oder ist er zur Alltäglichkeit geworden? Berührt sie der Anblick des Verfalls noch in irgendeiner Form? Wahrscheinlich schon.
Sie hat etwas dabei, was aussieht wie überdimensionierte Ohrenstäbchen. Ein angenehmer Geruch nach Zitrone geht von ihnen aus. Damit fährt sie dir über die Lippen und durch den ausgetrockneten Mund. Das Geräusch, das die Stäbchen dabei verursachen, erinnert an ein Reibeisen. Borkig bröckelt die mittlerweile eingetrocknete Schleimhaut ab. Angeekelt wende ich mich zur Seite.
"Sie können ruhig gehen", sagte die Nachtschwester leise, "sie haben ihre Pflicht mehr als erfüllt. Wir rufen sie an, wenn es vorbei ist."
Ich schüttle den Kopf. Nein, meine Pflicht ist noch nicht erfüllt. Du sollst nicht alleine sein auf deinem letzten Weg. Das habe ich dir versprochen. Und mein Versprechen halte ich. Selbst wenn es mir beinahe unmöglich scheint. Selbst wenn unser Verhältnis nicht immer das beste war.
"Danke, ich bleibe", antworte ich mit rauer Stimme, "ich will mir nur was zu Trinken holen."
Fluchtartig verlasse ich das Krankenzimmer. Verfolgt von deinem Atem. Wiederum bete ich, dass es geschehen möge, während ich weg bin. Doch das ist mir nicht vergönnt.
Wiederum nehme ich deine Hand und fange erneut an zu erzählen. Alles, was ich dir bereits erzählt habe. Von deiner Enkelin, von deinem Sohn, von dem Sonnenuntergang, der das Herbstlaub zum Leuchten gebracht hat, von den Ritualen, mit denen wir deine Enkelin zu Bett bringen. Leise singe ich dir ihr Einschlaflied vor. Dein Atem rasselt und röchelt. Ich komme mir so unnütz vor. Es gibt nichts, was ich tun kann, außer hier zu sitzen und deine Hand zu halten.
Ich weiß nicht, wie ich dir sonst noch helfen könnte in diesen schweren Stunden. Also versuche ich die Worte zu rezitieren, die Gandalf zu einem der Hobbits im Film "Der Herr der Ringe" kurz vor der großen Schlacht sprach.
.... Wenn sich der regengraue Schleier dieser Welt hebt, so wandelt sich alles zu silbernem Glas. Und in der Ferne sieht man den weißen Strand einer grünen Insel im Sonnenlicht. Möwen schreien im Wind. ....
Doch ist es das wirklich? Woran soll ich glauben? Warum soll ich an einen Gott glauben, der derartiges Leiden zulässt? Alles wird zu silbernem Glas? Was siehst du hinter deinen verschlossenen Augen? Siehst du noch etwas? Ein Licht am Ende des Tunnels? Oder ist dort nur Schwärze? Ein tiefes Loch ohne Wiederkehr?
Ein leises Zittern deines Pulses unter meinem Finger unterbricht meine Gedanken und ich schrecke hoch. Ich lausche. Dein Atem geht weiterhin wie eine alte verrostete Pumpe. Doch, da war es wieder. Der Puls setzt für zwei Schläge aus, nur um schneller wieder zu kehren. Atemlos stürze ich aus dem Zimmer.
"Es ist soweit", meine Stimme ist erschreckend laut, als ich die Nachtschwester rufe.
Ruhig fühlt diese den Puls.
"Ich rufe den Diensthabenden", sagt sie nur, "es hat begonnen, aber es kann noch dauern. Das Herz ist sehr stark."
Noch länger? Ist das Leiden immer noch nicht vorbei? Ich nehme meinen Platz wieder ein. Mein Finger an deinem Puls. Ich beobachte ihn. Unendlich langsam vergeht die Zeit. Ich erstarre selbst, während ich fühle, wie das Leben aus deinem geschundenen, zerfallenden Körper flieht. Und doch ringst du danach es zu erhalten.
Langsam zähle ich deine Atemzüge. Immer schneller setzt der Puls aus. Dann spüre ich ihn nicht mehr. Doch ich sehe ihn noch an deinem Hals flattern. Dein Herz will nicht aufgeben.
Ich drücke deine Hand. Eisige Kälte geht von ihr aus. Ich nehme nur am Rande wahr, dass die Ärztin und die Nachtschwester eingetreten sind. Sie stehen neben mir, beobachten schweigend. Die Ader hört auf zu pulsieren. Du versuchst noch einmal nach Luft zu ringen. Einem Fisch auf dem Trockenen gleich. Röchelnd entfährt das letzte Quäntchen Luft. Mit letzter Kraft öffnest du noch einmal die Augen. Dann brechen sie. Ein würgendes Geräusch entfährt den zusammenfallenden Lungen. Als würde diese Anstrengung sie erneut füllen können. Doch nichts ist zu hören.
Stille. Unerträgliche Stille. Schweigend nimmt die Ärztin meinen Platz ein. Sie drückt dir die Augen zu. Es ist vorbei. Was soll ich fühlen? Erleichterung? Trauer? Dankbarkeit, dass du erlöst bist? Ich fühle nichts. Mein Innerstes ist leer. Und doch spüre ich salzige Tränen auf meinem Gesicht.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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