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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Frau Schmidt passt auf, alles ist gut!

© Tobias Raupach


Ich bin eigentlich kein großer Frühstücker und sehe diese Mahlzeit eher als lästige Unterbrechung des morgendlichen Schlafs an. Doch an jenem Morgen, es war so gegen 9 Uhr, verspürte ich den tiefen inneren Wunsch, mich mit einer großen Tasse Kaffe, einem gekochten Ei und einigen Scheiben Brot in die Küche zu setzen und in aller Gemütsruhe die Zeitung zu lesen.
Nachdem ich in meinen großen, dunkelblauen Bademantel gehüllt aus der Dusche kam, setzte ich einen Kaffee auf und begab mich vor die Tür, um die Zeitung hereinzuholen.
Gut gelaunt lief ich wieder zurück in den vierten Stock, denn dort liegt meine Wohnung.
Doch wo war mein Haustürschlüssel? Hektisch durchsuchte ich die beiden Taschen meines Bademantels. Leer!
Jetzt entsann ich mich der Tatsache, dass ich den Schlüssel schon vor dem Duschen neben die Kaffeemaschine gelegt hatte, um ihn ja nicht zu vergessen.
Völlig perplex starrte ich einige Minuten auf die fest verschlossene Tür. Nun ja, da half wohl nur noch ein Schlüsseldienst.
Ich klingelte nacheinander bei Mayer, Meier, Müller, Schulz, Lehmann, Grubmeyer und zuletzt bei der alten Schmidt; doch jedes Mal vergebens.
Was haben anständige Menschen um diese Uhrzeit auf ihrer Arbeit verloren, fragte ich mich, während ich einige Sekunden über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die Ungerechtigkeit mir gegenüber im Besonderen nachdachte.
Vor allem die alte Schmidt! Wo trieb sich diese neugierige Hexe, die nichts anderes zu tun hatte, als die Nachbarn zu beobachten, denn herum?
Wütend ging ich noch einmal hinunter in den ersten Stock und klopfte minutenlang gegen ihre Tür. Vielleicht war sie ja einfach nur zu schwerhörig?
Es geschah jedoch nichts und so setzte ich mich frustriert auf die Treppe. Jetzt blieb mir nur noch zu warten, bis einer meiner Nachbarn zurückkäme.
Ich saß gute fünf Minuten auf der Treppe, bis mir klar wurde, dass meine Nachbarn höchstwahrscheinlich erst gegen Abend mit ihrer Arbeit fertig werden würden. Natürlich, mir machte es nichts aus, einen ganzen Tag nur mit Bademantel bekleidet im Treppenhaus zu sitzen! Doch was wäre, wenn ich verhungerte? Meine letzte Mahlzeit lag nun schon mindestens 14 Stunden zurück. Oder erfrieren? Vor allem im Winter geschah es häufig, dass Leute erfroren. Natürlich, wir hatten Juni, noch dazu einen recht heißen, aber das war keine Garantie dafür, dass ich nicht doch erfrieren könnte.
Und da der Juni so heiß war, bestand die Gefahr des Verdurstens! Überhaupt, man verdurstete deutlich schneller, als man verhungerte. Erschrocken bemerkte ich, wie mein Hals nach und nach trocken wurde. Mir schien es, dass ich hautnah mitverfolgen konnte, wie ich Stück für Stück dehydrierte.
Das konnte ich nicht zulassen. Um meine Kräfte zu schonen, die ich wahrscheinlich noch brauchen würde, ging ich behutsam die Treppe hinauf und besah meine Tür aufs Genauste: Holz, wahrscheinlich Pressspan, mit Birke furniert. Sie sah massiv aus, aber wie ich meinen Vermieter kannte, hatte er die billigste und instabilste für den Einbau verwendet. Ich konzentrierte mich, zählte in Gedanken bis vier und warf mich mit voller Wucht gegen die Tür.
Minutenlang lief ich, meinen völlig tauben Arm wild hin und her schwingend, über den Flur. Anscheinend war die Tür doch standhafter, als ich vermutet hatte.
Meine Gedanken rasten wie wild hin und her. Tief im Inneren hatte ich mich mit meinem grausigen Schicksal als Verdursteter, Erfrorener oder Verhungerter noch nicht abgefunden. Es musste doch Möglichkeiten geben, die Wohnung zu betreten. Der Balkon! Genau, das war es.
Wenige Minuten später kletterte ich über das Geländer der alten Schmidt, nur um einem Trapezkünstler gleich hinauf auf den Balkon der Meyers zu gelangen.
Gerade als ich mich auf den Balkon der Familie Lehman gezogen hatte, hörte ich vom Boden eine laute Stimme: "Geben Sie sofort auf, Sie haben keine Chance!"
Entsetzt blickte ich hinab zu den zwanzig Polizisten, die mit gezogenen Waffen im Hinterhof standen.
"Jetzt klettern Sie ganz langsam wieder herunter", erklärte mir der Einsatzleiter, während ich resigniert die ganze Strecke zurück kletterte. Als ich unten ankam, sah ich die alte Schmidt. Anscheinend hatte sie die Polizei gerufen.
"Das ist er!", zeterte sie los und deutete auf mich. "Zuerst hat er versucht, in meine Wohnung zu gelangen. Dann hat er im vierten Stock randaliert, und zuletzt ist er über den Balkon gekommen."
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, wurden mir Handschellen angelegt.
"Wahrscheinlich ist er ein Sittenstrolch", rief die alte Schmidt aufgebracht. "Ja, das muss es sein. Er hat nur einen Bademantel an! Und nichts drunter!" Sie erbleichte zusehends bei diesem Gedanken.
Die Beamten sahen mich mit einer Mischung aus Abscheu und Mitleid an. In ihren Augen konnte ich sehen, dass meine Zukunft eine Zelle bereithielt.
Niemand würde mir glauben, dass ich nur dort oben in den vierten Stock wollte, um in meine Wohnung zu kommen - aus der, wie ich jetzt bemerkte, dunkle Rauchschwaden kamen.
Ich hatte mich schließlich meinem Schicksal ergeben. Ich würde zwar nicht erfrieren, dafür aber in einen flauschigen Bademantel gekleidet bis zum Ende meiner Tage gottverlassen in einem Gefängnis sitzen, bei Wasser und Brot. Nun ja, immerhin würde ich weder verdursten noch verhungern - sondern als einsamer, seniler Greis sterben.
Rauchschwaden? Die Kaffeemaschine! Entgeistert starrte ich auf die offene Balkontür, aus der immer dichtere Rauchschwaden hervor quollen.
"Ga… gaga… ga…", stammelte ich völlig fassungslos. Ich tanzte im Kreis, meinen Kopf immer in Richtung des Balkons streckend. Zuerst starrten mich die Polizisten entsetzt an, bis einer den Rauch sah und schnell zu seinem Dienstwagen eilte.
Die ganze Nachbarschaft hatte sich im Innenhof versammelt; einen Wohnungsbrand bekam man schließlich nicht alle Tage zu sehen.
Die Polizei, das ganze Ausmaß meiner persönlichen Katastrophe begreifend, hatte mich gerade von meinen Handschellen befreit, als ein Feuerwehrmann aus dem Hauseingang heraustrat.
"Bernd!", rief er einem Kollegen zu "Hol' mir mal die große Axt, wir müssen die Tür aufbrechen, die ist verschlossen!"
"Wieso das denn?" Die alte Schmidt hatte sich irgendwie an den Polizisten vorbei geschoben. "Schauen sie mal unter der Fußmatte! Da bewahrt er immer seinen Ersatzschlüssel auf!"



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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