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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Kunst der gefalteten Flügel

© Gabriele Feyerer


Hausnummer sieben. In der Straße von irgendwoher nach irgendwohin. Der Schmerz war linksseitig. Er saß im Rücken, in etwa zwischen den Schulterblättern, und er zog sich unter dem linken Rippenbogen nach vorne. Weh tat es eigentlich immer. Bisweilen mehr, dann wieder weniger.
Annabelle presste die Fingerkuppen ihrer rechten Hand auf die Stelle, an der ein Praktiker der Medizin vor exakt neun Monaten den Ansatz einer dritten Brustwarze entdeckt hatte. Das war an jenem denkwürdigen Tag geschehen, als all ihre Haare sich sträubten und nicht mehr aufgehört hatten, sich zu sträuben. Woraufhin Annabelle schlecht umhin konnte, diesem Sträuben auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis stürzte sie mitnichten in Verwunderung.
Depressionen, Panikattacken, Vegetative Dystonie ... so oder ähnlich pflegten kluge Experten mit ihren vielen, schamlos an die Wand gepflasterten Diplomen diese Erscheinung mangelhafter Hingabe an die Erfordernisse des täglichen Lebens zu benennen. Für Annabelle jedoch war es einfach so, dass ihre Körperhaare sich sträubten. Nicht mehr und auch nicht weniger. "Das kommt davon, wenn man mit den Wölfen heult", sagte der Engel. Aber sie hörte ihm damals nicht zu.
Besagter Arzt also entdeckte im Rahmen seiner gewissenhaften Untersuchung - einer Leibesvisitation, durch welche er posthum die Visitation der Seele zu ermöglichen hoffte - direkt unterhalb von Annabelles linker Brust den Ansatz einer dritten Saugvorrichtung.
"Das kommt aber selten vor", ließ er mit gedeckter Stimme vernehmen, "äußerst selten, in der Tat ..." Sprach's und wiegte seinen Kopf bedächtig hin und her.
Patientin zu sein ist an sich schon kein Leichtes. Es bedeutet, was sprachlich Gebildeten wohl bekannt sein dürfte, Duldende zu sein. Und so war sich Annabelle nicht sicher, was von dieser revolutionären Entdeckung zu halten wäre. Ob dieses kleine Wunder einfach nur geeignet sei, sie hinfort von der Masse brusttragender, emotionsbeladener Individuen abzuheben, oder aber, ob sie sich dieser womöglich pathologischen Tatsache zu schämen hätte. Endlich fiel ihre Entscheidung zu Gunsten der ersten Option. Dies deshalb, weil auch der Schmerz, der an ungefähr derselben Stelle saß, etwas ganz Besonderes, nur für sie allein Geschaffenes zu sein schien.
Annabelle atmete. Einatmen - ausatmen. Wirbelsäule langsam strecken. Kopf aufrecht halten.
Der Schmerz ließ geringfügig nach. Aber er würde wieder aufflammen, sobald sie des kommenden Tages gedachte. Sodann jenen danach realisierte. Und den, der diesen beiden unbeirrbar folgen würde. Ein Sonnenaufgang anonym wie der andere. Eine endlose zielgeordnete Reihe abstrakter Maßeinheiten. Tage, welche nur die Präsenz des Vergänglichen markierten. Das unbarmherzige Fortschreiten der Zeit, aber kaum ein Weiterkommen.
Annabelle stöhnte leise. Sie lag ausgestreckt auf dem Sofa und hob erschöpft ihre Hand, um einen Lichtstrahl zu brechen, der durch die geöffneten Vorhänge mitten auf ihr Gesicht fiel. Da berührten sich ihre Fingerspitzen. Der Schmerz nahm zu. "Vertrau mir", flüsterte er. Ganz sanft glitt seine flache Hand an die Stelle unter ihrer linken Brust. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
Vertrauen? Wann hatte sie das letzte Mal jemandem vertraut? Vertrauen implizierte den Verdacht, sich auszuliefern. Und wie immer würde sie dabei den schwarzen Peter erben.
"Nein", deklamierte sie laut hörbar. "Vergiss es! Wer bist du überhaupt?" Der Schmerz nahm gigantische Ausmaße an. Jede kleinste Bewegung verursachte unerträgliche Qualen. "Es liegt an den Flügeln", stellte er lapidar fest, "besonders der linke. Du verstehst nicht, ihn richtig zu falten." Annabelle meinte ihren Ohren nicht zu trauen. Und was sie zu sehen glaubte, war geeignet, ihre vagen Begriffe von Realität vollends ad absurdum zu führen. Sie dachte sofort an die Sience-ficiton-Serie "Star Trek" - Klappe: erste Begegnung der Crew mit der erbarmungslosen Spezies Borg: "Sie werden assimiliert werden - Widerstand ist zwecklos ..."
Und es hatte keinen Zweck, sie fühlte das. Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. Da stand er. Groß. Strahlend. Unverfroren lächelnd. Und er besaß so etwas wie Flügel. Waren es Flügel? "Natürlich sind es Flügel", erwiderte er mit einem leicht beleidigten Unterton. "Wir haben doch alle welche. Glaub' bloß nicht, du wärst eine Ausnahme."
Annabelle begann, die schmerzende Stelle unter ihrer Brust heftiger zu drücken, doch die Erscheinung ließ sich nicht vertreiben. "Also gut", erwiderte sie, nachdem sie ihrem permanent die Worte ‚Jetzt spinnst du' flüsterndem Gehirn einen rigorosen Schweigebefehl erteilt hatte. "Ich kann also meine Flügel nicht richtig falten. Und warum, wenn ich fragen darf, erfahre ich das erst jetzt? Nach endlosen Jahren permanenten Leidens? Nachdem meine Ärzte nicht schlecht verdient und ein paar klinische Psychologen sich an mir saniert haben? All die Jahre hast du es vorgezogen, dich im Hintergrund zu halten? Und jetzt hopst du einfach so ins Zimmer, strahlst mich an wie frisch gewaschen und willst mir erzählen, wie man seine Flügel faltet? Na, großartig! Um nicht zu sagen: fantastisch." Sie fasste sich an den Kopf. Er kam ihr nicht heißer als sonst vor.
Er hörte nicht auf zu lächeln. Es war ein Lächeln, das sich so fordernd und endgültig in ihr Herz drängte, dass jede Weiterführung der Diskussion sinnlos erschien. "Alles zu seiner Zeit", hörte sie ihn sagen.
Ungläubig nahm Annabelle zur Kenntnis, wie der eisige Schmerz nachließ und einem warmen Strömen Platz machte. Die Falttüren alter Linienbusse kamen ihr in den Sinn. Wie sie mit einem zischenden Geräusch auf und zu klappten und hin und wieder stecken blieben. Der Fahrer musste dann wohl oder übel aussteigen - besonders im Winter bei klirrender Kälte kam das vor - um beim Schließen der Türen nachzuhelfen. Blieben sie offen, war jede Weiterfahrt unmöglich. Zu großes Sicherheitsrisiko. Konnte es mit ihren Flügeln eine ähnliche Bewandtnis haben? Das Strömen wurde intensiver. Es erfasste ihren Nacken, durchflutete ihren Oberkörper und erreichte endlich die Beine. Sie schaffte es nicht, Widerstand zu leisten. Das sanfte, drängende Pulsieren dieses warmen Stromes saugte sich an ihr fest und ließ sie in ein angenehmes Nichts versinken. Der Schmerz fiel von ihr ab wie eine nutzlos gewordene Hülle. Sie hätte aufspringen und tanzen mögen. Lachen und weinen zugleich. Ihre Erleichterung laut heraus schreien. Sie nahm die prüfende Hand des Engels wahr, zuerst unter ihrer linken Brust, dann auf ihrem Rücken. Dort wo die Flügel saßen.
"Du lernst erstaunlich schnell", hörte sie ihn sagen und fühlte, wie jemand frech einen Kuss auf ihre Wange drückte. Es war ein Kuss, den kein Jahrhundertregen je wieder abwaschen würde. Annabelle atmete tief. Tränen liefen über ihr Gesicht. Der Schmerz war vollkommen verschwunden.
Das Läuten des Telefons holte sie in die Realität zurück. Verwirrt, wie in Trance, griff sie nach dem Hörer, nannte ihren Namen. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die Vorzimmerregentin jenes Leib- und Seelenkurators, welchem die Entdeckung eingangs beschriebener irregulär-anatomischen Gegebenheit seiner Patienten vergönnt gewesen war. Annabelle ahnte bereits den Grund der Nachfrage. Sie hatte es verabsäumt, den längst fixierten Termin wahrzunehmen.
Nur mit Mühe gelang ihr das Kunststück, der dienstbeflissenen Arzthelferin klar zu machen, dass Annabelle keiner weiteren laientherapeutischen Hilfe mehr bedurfte. Der Kontakt wurde abgebrochen. Die Sprechstundenhilfe schüttelte verständnislos den Kopf. Doch als Mitarbeiterin eines Psychotherapeuten ist man schließlich Einiges gewöhnt. Die Leute werden ja immer seltsamer. Nicht alle schaffen es, durch eine Therapie in die raue Wirklichkeit zurückzufinden. Oder was unsere Experten gemeinhin so zu nennen pflegen. Die weiß bemäntelte Vorzimmerdame zuckte die Schultern und seufzte. Ein anstrengender Arbeitstag ging seinem Ende zu. Sie war rechtschaffen müde und hungrig.
Auch im festlich gedeckten Esszimmer des Hauses Nummer sieben, in der Straße von irgendwoher nach irgendwohin, faltete jemand gekonnt seine Flügel und zelebrierte seit langem wieder ein ausgiebiges, feierlich umrahmtes Abendessen. All das in himmlisch angenehmer Gesellschaft.



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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