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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Silvestervision

© Wolfgang Bartsch


Das Leben ist wirklich ein herrliches Chaos, in dem der Mensch nicht ein und aus weiß, oft - viele Menschen zumindestens. Obwohl, einmal, einmal da war mir so, als ob ich einen Eindruck gekriegt hätte, wie - was - wo der Sinn, einmal war mir als ob der Augenblick mir eine Ahnung vermittelt hätte davon, was diese Fülle des Lebens für uns verborgen hält.
Das war - zu dieser Jahrtausendwende - zu diesem Jahreswechsel, wo die ganze Menschheit wie verrückt das Millennium eingeläutet hat, Spektakel rund um den Globus, gemeinsame Ekstase auf dem ganzen Erdball, Jubel-Trubel-Heiterkeit, ausgelassenes Feiern der Massen - ein neues Jahrtausend und wir dürfen es erleben, von Sydney bis Rom, von Nowosibirsk bis zum Kap der guten Hoffnung. Und mich hat das so angewidert, so was von keinem Interesse dafür entwickeln können - aber was hätte ich denn sollen: Alleine bei einer Flasche Sekt "Prosit 2000" grölen, wo doch gar kein Jahr Null existiert hat und alles eigentlich ein Jahr später dann erst wirklich wäre. Und überhaupt, das ist doch nur eine Zeitrechnung unter vielen, alles so konstruiert, so eine eventartige, kitschige Massenhysterie von uns ach so modernen Menschen erzeugt, die eigentlich nur einen Anlass suchen, um sich in der Aura des Besonderen zu wiegen, die meinen, ihrem Leben Sinn zu geben, oder eine Stimmungsmache, dass sich irgendwer deppert verdient mit Krachern, Festveranstaltungen, Alkohol und Auslandsaufenthalten. Die Concorde ist per Überschall mit "betuchten Koffern" rund um die Welt geflogen, dass sie x-mal diesen einmaligen Augenblick hintereinander feiern haben können! Pah, wie mir da noch der Zorn aufsteigt, wenn ich dran denk, richtig schämen muss ich mich wie kindisch Menschen doch sind, wie sie sich einlullen lassen von einer nebulosen Zahl, die ihnen nichts mehr bringt als einen noch größeren Rausch am 1.1.2000 als die anderen Jahre und noch weniger Geld in der Brieftasche als sonst. Der Hauch der Geschichte, dass ich nicht lach. Wenn schon nicht alleine oder im Familien- und Freundeskreis, ich hätt mich ja auch in die Menschenmassen werfen können und anonym durch die Stadt der Mitternacht entgegenfiebern. Einem Stockbesoffenen neben mir zuprosten und mir von einem anderen den alkoholbrummenden Schädel voll labern lassen, aber ich hab das nicht wollen. Ich bin weg, raus aus der Metropole, aufs Land, mit dem Zug in die Berge, in einem so einen Dorf ausgestiegen, völlig zurück'blieben, bin die Flanken hinauf und im oberen Ort, in so einer miesen Landpension, dort hab ich locker ein Zimmer bekommen für die Nacht. Und wie es dann zu Null Uhr gegangen ist, bin ich hinaus in die Natur, hinauf auf einen nahen Hügel, in die Nähe eines Waldriegels - es war so kalt, sternenklar wie ich es noch nie zuvor gesehen habe und so gut um die minus 10 Grad. Aber das hab ich bald nicht mehr gespürt. Ich bin dort hinauf, es war dunkel, und ich hab mich allein, in dieser unendlichen Ruhe der Berge, einfach in den Schnee gelegt und in den unendlichen Sternenhimmel geschaut. Und es war einfach phantastisch. Es ist in Worte so schwer zu fassen, die Sprache mag nie ein Mittler der Gefühle sein, wie man es sich wünscht, um eine solche einmalige Erfahrung anderen Menschen greifbar vermitteln zu können: Also, ich liege hier - im Schnee, es ist ruhig, nur ganz dumpf und leise höre ich erste Raketen aus dem Dorf weiter unten im Tal. Über mir der Sternenhimmel, diese unendliche Weite, so rein, so klar, so unendlich tief. Er wirkt auf mich wie eine Kuppel, eine offene Halbkugel, die sich mir geöffnet hat, mir einen Blick erlaubt in die Ewigkeit. Ich spüre nicht mehr, dass ich liege, ich höre nicht mehr, was sich um mich herum abspielt, es ist als ob ich schweben würde. Ich bin aufgehoben in dem Raum, hier zwischen Himmel und Erde, zwischen Firmament und Boden, ich bin umstrahlt von dieser Corona des Lichtes, von dem Weltall, deren Teil ich bin, deren unbedeutender Teil, wenn ich diese Weite spüre, diese Unendlichkeit, diese Größe, die ein Mensch oft vergisst. Alles scheint sich so zu fügen, wie es gefügt ist, alles so einfach nur zu sein, wie selten einem das Sein bewusst wird. Als Teil eines Ganzen, das unbegreiflich ist, im letzten nicht erfassbar, aber in diesem Moment nur ist - unhinterfragt - einfach ist. Es ist als ob mich die Halbkugel des Firmaments umschließt, aufnimmt, mit fort auf eine Reise, deren Beginn und Ende im Dunkeln sind, deren Geschehen aber so immanent, dass es einen bis in alle Haaresspitzen erfasst. Eine Reise in die Offenheit des Ganzen, in die Ferne des Unendlichen, in den Kern des Unfassbaren. Der Hauch eines tiefen Prinzips umweht meinen Korpus, eine Ahnung von dem, was alles Erahnbare übersteigt. Das letzte Geheimnis - es scheint so nahe, wie es niemals einem Menschen nahe gewesen sein hat können, so greifbar und doch bleibt es ungeoffenbart, doch bleibt es eben ein Geheimnis. Sekunden erscheinen wie Stunden, Ewigkeiten werden zu Momenten, der Mund bleibt sprachlos offen, staunend - der Kopf wird geflutet von Eindrücken, der Bauch wird durchwirbelt von Gefühlen. Das All, die Welt, das versteckte Geheimnis, der Urgrund allen Seins, Gott, der ewige Impuls des Übersinnlichen - Worte können nicht ausdrücken, welche tiefen Kräfte selbstverständlich sind in diesem Augenblick. Ich lebe, ich bin tot, ich bin - ! Ich bin da und überall, ich bin am Leben oder nicht, ich bin leicht, ich schwebe durch mich selbst, losgelöst von allen, was einen Menschen fesseln kann, frei wie ein Vogel im Wind. Ich empfinde, ich sauge auf, ich gehe auf in dem Sternenhimmel, zwischen Schnuppen und Planeten, zwischen Firmament und Tiefe. Mich durchfährt eine Erkenntnis des Daseins, die nicht ausdrückbar ist, die vermittelt, dass ich aufgehoben bin, eingebettet, geborgen in einem Fluss von abertausend Dingen. Ich bin nicht verloren in der Weite, ich bin nicht beengt in Begrenztheit, ich bin einfach und das weiß ich, wie ich den Sternenhimmel ober mir, unter mir, um mich weiß. Ich frage nicht, ich verstehe, ich zweifle nicht, ich erkenne, ich lehne nicht ab, ich akzeptiere - wortlos und überzeugt. Es gibt so etwas wie einen Platz für mich in diesem grenzenlosen Gefüge, einen Platz dort, wo für jeden ein Platz ist, der ein Teil davon ist. Ich weiß mich verankert im diesem Moment, wo ich losgelöst bin, weiß mich aufgefangen in einem Netz, das mich hält, weiß mich geführt von einem Stern, der mir leuchtet, von hundert Sternen, die dort prangen, wohin meine Reise mich führt. Meine Reise, die nie aufhören soll, meine überwältigende Reise, die mich so ruhig, so erkennend, so geborgen macht. Meine Augen sind geschlossen und ich sehe, mein Mund ist zu und ich preise die Herrlichkeit des Augenblicks, meine Ohren hören nichts von dieser Welt, mein Herzen und mein Gefühl erfährt die Atmosphäre des ganzen Alls. Ich wache nicht, ich träume nicht, ich gehe auf. Es ist kein Trugbild - nein - es ist das, wonach die Menschen streben, ein Zustand des Glücks und der ewigen Harmonie, eine Zweisamkeit mit allem und jeden, ein Hochgefühl des Angenommenseins und des Eingebundenseins. Ich will es festhalten, ich will es zur Gänze erfassen, ich will es gelüftet haben, das letzte Geheimnis, dessen Nebelwand sich soeben etwas gelichtet hat. Ich möchte es bis zum Letzten begreifen, und nicht wieder hergeben müssen, dieses Gefühl, diesen Augenblick, der in die Ewigkeit aufgegangen scheint, ich möchte diese Höhen auf ewig in mir spüren, nicht wieder loslassen - aber die Reise geht zu Ende, ich höre dumpf an den unteren Enden der Halbkugel des Sternhimmels die ersten lauten Raketen in den Nachthimmel aufsteigen, die Lichter werden wieder blasser, diese euphorische Anspannung lässt nach, ich klammere mich an die Euphorie dieses Augenblicks, aber vergeblich, sie geht mir soeben verloren. Ich erfahre, dass das Unerfahrbare unerfahrbar bleibt im letzten, dass die Nebelwand sich wieder verdichtet, dass sich meine Augen öffnen und die irdische Welt wieder erblicken, die Ohren die Silvesterkracher und die "Prosit 2000"-Jubelrufe hören und mein Bauch den Abflug der Schmetterlinge dieser übermannenden Erfahrung erlebt. Ich starre umso intensiver in den Sternenhimmel, ich sehne mich nochmals nach dieser Vision, mit aller Kraft wünsche ich sie mir herbei, ich bettle regelrecht wie ein Suchtkranker nach seinem Stoff. Aber das Fenster hat sich wieder geschlossen, mein kurzer Blick in das Verborgene des Seins sein Ende gefunden.
Ich raffe mich auf, mein Gewand ist schneenass, mir fröstelt, die Leute grölen besoffen im Dorf, Wolkenfelder verdunkeln plötzlich den sternklaren Himmel - ich gehe nach Hause und beginne zu weinen.



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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