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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Nirgendwo

© Astrid Ebner-Zarl


Peter vernahm die Nachricht von dem tragischen Zwischenfall während seiner täglichen Fahrt mit dem Intercity von St. Pölten Richtung Wien Westbahnhof. Zwar lag eine aufgeschlagene Zeitung auf seinen Knien, doch ihr hatte Peter die erschreckende Neuigkeit nicht entnommen, denn seine Müdigkeit kombiniert mit den harmonischen Bewegungen des Zuges hatten seine Gedanken bald von der Berichterstattung der Presse abschweifen lassen. Tatsächlich war es ihm gelungen, nach einer kurzen und somit wenig erholsamen Nacht doch noch einige Minuten Schlaf zu bekommen. Zumindest hatte er diesen beinahe magischen Zustand zwischen Schlaf und Erwachen erreicht, der für Peter dieselbe Wirkung zu haben schien wie Medizin: Ein angenehmes Gefühl der Gleichgültigkeit schob seine Ängste und Sorgen für einen Moment in den Hintergrund. Es verdrängte seine Frustration über den Pendlerjob, der ihn jeden Morgen schon um fünf Uhr aus den Federn riss, nur damit er eineinhalb Stunden später seine Arbeit in Wien antreten konnte. Und es stoppte den Kreislauf seiner Gedanken, die sich ansonsten ständig um seinen Arbeitgeber drehten, der bereits wieder Personalkürzungen angekündigt hatte. Den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt, lauschte Peter nur dem sanften Rattern des Zuges.
Doch die tröstende Wirkung erfuhr eine jähe Störung, als die schrille Stimme einer überaus gesprächigen Dame alles andere übertönte und ihn unsanft aus seinem imaginären Zufluchtsort vertrieb. Widerwillig öffnete Peter die Augen und erhob sich langsam, um herauszufinden, woher der plötzliche Lärm stammte. Sein Blick wanderte noch etwas schläfrig über die Sitzreihen und erkannte sechs Personen, die mit ihm den Waggon teilten.
Drei Reihen schräg vor Peter - auf einem Viererplatz - saßen zwei junge Mädchen, wahrscheinlich Studentinnen. Eine von ihnen hatte ihre Seite des kleinen Tischchens noch weiter herausgeklappt und hämmerte darauf Informationen in ihren Laptop. Die andere hielt ein Buch über technische Mathematik der linken Hand, während sie mit der rechten eilig einen Kugelschreiber über einen Notizblock wandern ließ. Ein formell gekleideter Herr auf der anderen Seite des Ganges hatte soeben durch eine ungeschickte Bewegung den Inhalt seines Kaffeebechers auf Anzug und Fahrkarte entleert. Durch hektisches Wischen mit einem Stofftaschentuch versuchte er, den Schaden zu begrenzen. Als er einsah, dass ein Tuch wohl nicht reichen würde, stand er auf und verließ den Waggon, wobei er vier Reihen weiter beinahe über eine bunte Handtasche am Boden stolperte. Mit empörtem Kopfschütteln griff die Besitzerin, eine Dame Mitte vierzig, nach ihrer Tasche. Ohne ihren Schwindel erregenden Redefluss zu unterbrechen platzierte sie die Tasche auf der freien Fläche neben sich und wandte sich danach wieder - wild gestikulierend - dem Ehepaar auf der anderen Seite des Ganges zu. Mit weit aufgerissenen Augen berichtete sie offensichtlich über etwas sehr Schreckliches, das sich vor kurzem zugetragen haben musste. Keine Frage, Peter hatte die Quelle des Lärms entdeckt.
"Entsetzlich, nicht wahr?" Peter drehte sich um und blickte in das Gesicht einer zierlichen, jungen Frau. Obwohl sie direkt hinter ihm saß, hatte er ihre Anwesenheit während der ganzen bisherigen Zugfahrt nicht wahrgenommen. "Wissen Sie, worüber sich die drei da vorne unterhalten?", fragte sie, als er nicht antwortete, und Peter musste zugeben, dass er es nicht wusste. Die junge Frau beugte sich vor und senkte die Stimme. "Gestern Abend hat es einen blutigen Zwischenfall in der Wiener Innenstadt gegeben", flüsterte sie, "Ein siebenjähriges schwarzafrikanisches Mädchen und ihr zehnjähriger Bruder sind von Skinheads attackiert und dabei ganz fürchterlich zugerichtet worden. Die Dame hat heute Morgen im Radio davon gehört." Sie blickte bekümmert zu Boden. "Manchmal", sagte sie leise, "manchmal frage ich mich wirklich, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. Die armen Kinder …" Peter konnte nur stumm nicken. Obwohl der Waggon gut beheizt war, wurde ihm eiskalt. Mit Bestürzung dachte er an seine eigenen Kinder, die etwa im gleichen Alter waren wie die Opfer. Und er verstand, wie hilflos sich die Eltern fühlen mussten: Sie hatten die bittere Erfahrung machen müssen, ihre Kinder nicht beschützen zu können, solange die Gesellschaft Hautfarbe oder Religion noch immer als Kriterium für Akzeptanz oder Ablehnung betrachtete.
Peter wollte seine Gedanken gerade äußern, als die eloquente Handtaschenbesitzerin einen schrillen Schrei ausstieß: "Was zum Himmel ist das?" Mit einem Ruck war sie aufgestanden und starrte jetzt in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Entsetzen aus dem Fenster. "Wo sind wir? Wohin fahren wir? Das ist doch unmöglich!", rief sie aus, ohne den Blick vom Fenster zu wenden. Peter glaubte, echte Panik in ihrer Stimme zu erkennen. Innerhalb von Sekunden hatte die wortgewandte Frau von vorhin eine Verwandlung in ein ängstliches Häufchen Elend durchgemacht. In ihrem Gesicht, das zuvor noch von lebhafter Mimik durchzogen gewesen war, stand jetzt die Ausdruckslosigkeit wie ein großes Fragezeichen: "Können Sie … können Sie sich das erklären?"
"Mein Gott", hörte Peter auf einmal auch die junge Frau in der Reihe hinter sich flüstern. Verwundert wandte er den Blick zum Fenster und verstand sofort, was die beiden so schockiert hatte. Inzwischen war es im gesamten Waggon totenstill geworden. Die beiden Studentinnen hatten Laptop und Buch von sich geschoben; die gesprächige Frau - jetzt blass und stumm - stand immer noch aufrecht vor ihrem Sitz und presste beide Handflächen an die Fensterscheibe. Niemand wagte es, zu sprechen. In diesem Moment kam der Mann im Anzug wieder von draußen zurück. Auch seine Gesichtsfarbe war einen Teint heller geworden. Offensichtlich hatte er bemerkt, dass sich Furcht erregendere Ereignisse angebahnt hatten als ein Kaffeefleck auf dem weißen Hemd.
"Das hier kann nicht Niederösterreich sein, richtig?", stammelte er. Das Taschentuch baumelte noch immer von seiner Hand. "Der letzte Ort, an dem wir vorbeigefahren sind, war Purkersdorf. Hier gibt es normalerweise keine Wüsten, habe ich Recht?" Tatsächlich bewegte sich der Zug durch eine ausgedörrte, wüstenähnliche Landschaft. Abgesehen von jeder Menge rötlich-braunem Sand, gab es absolut gar nichts, nicht einmal einen Baum oder einen Streifen Gras. Aber am trostlosesten war der Anblick der Ruinen. Überall waren Ruinen von Häusern über das ganze Blickfeld verstreut. Offensichtlich hatten hier einmal Menschen gewohnt, doch verfallen, wie die Häuser waren, musste das schon sehr lange her sein. Die ganze Gegend bestand nur aus diesem trockenen Sand und den Steinhaufen der zerstörten Häuser. Nichts deutete an, dass in dieser unwirtlichen Gegend noch irgendjemand oder -etwas lebte. Es schien, als hätte ein katastrophales Ereignis, ein Krieg vielleicht oder ein atomares Unglück, jegliche Lebensenergie aus der Region gesogen. Mit offenem Mund starrte Peter auf die beklemmende Leere, in der lediglich der Wind die roten Sandkörner zum Tanzen brachte. Als ein Schwall Sand gegen den Waggon geschleudert wurde, füllte plötzlich Dunkelheit den Raum. Die Körner bahnten sich knirschend und kratzend ihren Weg über die Fensterscheibe. Jemand schrie, als das erste Glas splitterte.
Schließlich kam das Licht zurück und die Insassen des Zuges wurden mit einem ganz anderen Szenario konfrontiert. Peter schätzte, dass es hunderte, wenn nicht sogar tausende Männer in Uniform waren, die draußen durch einen Wüstensturm stapften. In dieser Region schien es sogar noch Leben zu geben: Menschen flohen in Verzweiflung aus ihren Häusern, Männer wie Frauen, Kinder wie sehr alte Personen. Manche versuchten noch, Habseligkeiten oder Vieh zu retten: Einer schleppte sogar einen Computerbildschirm auf dem Rücken mit sich, ein anderer versuchte sein Auto in Gang zu bringen. Doch die Soldaten schossen mit ihren Gewehren auf alles, was sich bewegte.
"Mein Gott", murmelte die junge Frau ein zweites Mal und hielt sich die Hände vor die Augen. "Das kann doch nicht wahr sein!", meldete sich der Mann im Anzug wieder zu Wort und Peter begriff sofort, was er ausdrücken wollte, "Schauen Sie nur! Dort hinten kann ich den Stephansdom sehen!", fuhr er fort und zeigte auf einen Punkt in der Nähe des Horizonts, "Und hier drüben steht das Riesenrad!". Ratlos zupfte der Mann an seiner Krawatte und hob danach fragend die Hände: "Was ist passiert und wo in aller Welt sind wir?"
Doch so plötzlich die schaurige Vision vor den Fenstern des Waggons aufgetaucht war, so schnell verschwand sie auch wieder. Die kriegerische Landschaft wurde durch die gewohnte Westbahnstrecke ausgetauscht und der Schaffner kündigte via Lautsprecher die Endstation an. Einige Minuten der Stille folgten. Jeder der Fahrgäste hatte mit einem Gefühlscocktail aus Erleichterung und Verstörung zu kämpfen, während der Zug langsam in den Westbahnhof einfuhr. Die gesprächige Frau erholte sich am schnellsten. Sie gestikulierte schon wieder mit Händen und Füßen. "Was wird meine Nachbarin wohl sagen, wenn ich ihr davon erzähle?", rief sie in vorfreudiger Aufregung. Die anderen konnten dem vorangegangenen Erlebnis weniger abgewinnen. Betreten blickten sie in die Runde und im Ausdruck mancher glaubte Peter zu erkennen, dass soeben ihr gesamtes Weltbild ins Wanken geraten war. Der Zug hielt.
"Nun gut", die Handtaschenfrau erhob sich, "was auch immer das gewesen ist, Hauptsache es ist vorbei." Mit einem Nicken nach allen Seiten verabschiedete sie sich und eilte in Richtung Ausgang. Als Peter ihr nachsah, stellte er fest, dass sie sich noch beim Aussteigen ihr Handy ans Ohr hielt: "Elfriede? Du wirst nicht glauben, was mir gerade passiert ist …". "Was immer es gewesen ist …", wiederholte Peter leise und strich kopfschüttelnd das Titelblatt seiner Zeitung glatt, "was immer es gewesen ist …". Einige Minuten lang blieb er stumm sitzen und dachte über das Erlebte nach. Als er schließlich aufstand, um ebenfalls zu gehen, erhob sich auch die junge Frau hinter ihm und hielt ihn kurz zurück. "Es war ein Zeichen", sagte sie mit fester Stimme, "Da bin ich mir ganz sicher."



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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