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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Tonite's the nite

© Christoph Ernst


Der Abend hatte beschissen angefangen und drohte so erbärmlich zu enden, wie die meisten, an denen ich zu Walther muss. Ich gehe nur hin, weil er für mich zahlt. Bis ich achtzehn bin. Das ist der Deal. Danach kann er mich mal.
Als ich endlich auf dem Bahnsteig stand, war es kurz vor halb elf. Noch drei Minuten bis zur nächsten U 1. Ich atmete durch. Kein Mensch zu sehen, aber ich hatte mein Restgift vergessen.
Walter hat manchmal Anwandlungen und will mir dringend erklären, was damals zwischen ihm und Maggie gelaufen ist. Sonst kriegt er sich ein, doch heute war es laut geworden. Ich solle gefälligst zuhören. Also war ich aufgestanden und gegangen. Dummerweise hatte ich dabei mein Pack liegen gelassen. Also zählte ich Kippen zwischen Gleis und Stromabnehmer und träumte von einer "Prince".
Mein Kopf fühlte sich taub an. Das tut er grundsätzlich, wenn ich von Walther komme. Der Therapeut, zu dem der Schulpsycho mich geschickt hat, behauptet, es läge daran, dass ich mich dagegen wehre, ihn als Vater zu akzeptieren. Mag sein. Schließlich hat er sich nie wie einer benommen. Jedenfalls nicht, als es zählte. Bloß wenn Maggie ihm aufs Dach steigt, springt er. So wie heute.
"Red du mit ihm, Walther. Ich weiß nicht mehr, wie ich das managen soll…"
Maggie benutzt gern amerikanische Ausdrücke. Sie arbeitet bei einer Werbeagentur. Von denen kann keiner mehr richtig Deutsch. Aber wenn Maggie managen sagt, meint sie auch managen.
Maggie ist meine Alte. Sie hat sich vor zwölf Jahren von Walther getrennt. Seitdem schröpft sie ihn. Zusammen mit dem Anwalt. Der heißt Rüdiger und hat arrangiert, dass das Sorgerecht bei ihr liegt. Wegen der Unterhaltszahlungen. Walther habe keine Eier, sagte er damals. Sie kicherte bloß und gurrte, "Na wie gut, dass du welche hast."
Sie dachte, ich bekäme das nicht mit. Schließlich war ich erst fünf und sollte längst schlafen. Doch ich bekam schon eine Menge mehr mit, als ich mitkriegen sollte. Zum Beispiel, dass sie und Rüdiger in Walthers Bett lagen. Als ich den dann am nächsten Tag fragte, wie das mit seinen Eiern gemeint sei, flog die Sache auf. Seitdem weiß ich auch, dass Walther tatsächlich keine hat. Denn sein Streit mit Maggie endete darin, dass er sie unter Tränen anflehte, ihn nicht zu verlassen.
Sie hatte mich rausgeschickt, aber als ich sie laut lachen hörte, dachte ich, nun sei alles wieder in Butter. An der Schwelle zum Wohnzimmer blieb ich stehen. Er saß vor ihr und wiegte den Kopf. Wie ein getretener Nickdackel.
Eingefallen ist mir diese Episode übrigens erst wieder, als der Psycho mich fragte, ob ich entsänne, wer von beiden früher "den Ton" angegeben habe. Da hätte er sich besser gleich nach ihr erkundigen sollen.
Maggie nennt mich ihren "Unfall". Sie sei noch nicht reif für die Mutterschaft gewesen. Obwohl sie mir keine Vorhaltungen machen wolle, habe sie durch mich auf vieles verzichten müssen. Wie etwa ihren Studienabschluss. Sonst stünde sie heute anders da. Insbesondere finanziell.
Dabei scheffelt die Schlampe. Und ihr schmieriger Winkeladvokat trägt auch satt nach Hause. Trotzdem habe ich das Märchen früher geglaubt. Bis ich darüber stolperte, dass sie schon sechs Jahre an der Uni rumdümpelte, bevor sie schwanger wurde. Das Studium kriegte sie bloß deshalb nicht fertig, weil sie dauernd nach Poona musste, zum Bodenturnen im Ashram.
Inzwischen wohnt Walther in Winterhunde und fährt Volvo. Marineblau, mittelmäßig und so langweilig wie alles, was er anpackt. Maggie frisst er noch immer aus der Hand. Trotz Scheidung. Weil die sonst die Schrauben anzieht. Und wenn Maggie meint, ich liefe zu sehr aus der Spur, spannt sie ihn ein.
Diesmal ging es um den Verweis, den ich neulich kassiert habe. Mein zweiter. Wegen einer Tüte auf dem Schulhof. Walther eierte wie üblich herum, bevor er zum Punkt kam, kramte zwischen seinen Venyls und legte eine aus alten Tagen auf. Das tut er öfters, wenn er die Kumpelkarte zieht. Anschließend gestand er mir, dass er selber mal gehascht habe. Beim "Open Air" im Stadtpark. Er sagte tatsächlich "gehascht". Dazu grinste er blöde, sein schwachsinniges Hamburger Fotografengrinsen, von dem er glaubt, dass es Werbefuzzis einseift, und erklärte, Kiffen brächte nichts, aber falls es da was gäbe, über das ich reden wolle, könne ich jederzeit zu ihm kommen.
Die Zeile klang so hohl wie aus einer Soap.
Ich bin schon lange nicht mehr freiwillig zu ihm gekommen. Nicht mehr, seit ich damals vor Rüdiger abhaute. Im Alter von acht. Da bettelte ich ihn an, mich bei sich zu behalten. Meine Lippe war fett und ich heulte Rotz und Wasser. Er sagte, ich bräuchte nicht mehr zu weinen, und klar, ich könnte bei ihm bleiben. Doch dann rief Maggie an. Eine halbe Stunde später klingelte es und sie stand in der Tür.
Das habe ich ihm nie verziehen. Das weiß er. Inzwischen sagt er selber, er habe versagt. Wäre er gleich mit mir zum Arzt gegangen, hätte der Richter vielleicht anders entschieden.
Trotzdem versucht er es immer wieder. Immer auf dieselbe Tour. Tut so, als habe er für alles Verständnis. Dabei sehe ich ihm an, dass er keine Silbe schnallt. Haue ich mal einen kleinen Testkorken raus und stelle etwa fest, dass Görlitz in Mitteldeutschland liegt, guckt er höchstens gequält. Im Zweifelsfall rauscht es an ihm vorbei. Zu Juden hat auch keine Meinung. Entweder er verpasst es oder er grinst betreten und erklärt, ich solle mich mit solchen Äußerungen besser vorsehen. Das könne andere verletzten. Als ob er nicht wüsste, dass es genau das auch soll. Stattdessen fängt er an, mir Geschichtchen zu erzählen, von irgendwelchen armen Suppen, die man zu Sündenböcken gestempelt hat.
Was hat das mit den Juden zu tun, frage ich. Siehst du das denn nicht, Lennart? Nein, sage ich. Alles, sagt er. Dasselbe ist mit denen passiert.
Walther hält sich für tolerant und liberal. Aber er ist bloß feige. Er lässt es nie drauf ankommen. Dass er meine Glatze nicht mag, ist klar. Trotzdem hat er ohne Zucken die Knete für den "Lonsdale" Sweater rausgerückt. Obwohl ich ihm das Teil mit halboffener Jacke präsentiert habe, sodass nur die mittleren vier Buchstaben zu erkennen waren und jeder Hirntote es hätte raffen müssen.
"Das findest du also schön", stellte er mit schrägem Mundzucken fest.
Es klang eher wie eine Frage. Ich nickte.
"Okay" sagte er ächzend. "Schließlich habe ich es dir versprochen. Unter einer Bedingung…"
"Welcher?"
"Du fährst mit mir nach Neuengamme."
Ich wusste sofort, dass er von der Gedenkstätte sprach. Vorsichtshalber fragte ich ihn allerdings erst mal, was er in den Vierlanden zwischen all den Gewächshäusern suche.
"Ich will dir was zeigen", kam es.
"Gewächshäuser?"
"Nein. Das KZ."
"Das KZ? Wurde das nicht geschlossen, nachdem die Englänger unsere Leute aufgehängt hatten?"
"Das waren nicht unsere Leute."
"Aber Deutsche."
"Richtig. Deutsche Mörder."
An dieser Stelle hielt ich den Mund, weil er sonst die Brieftasche wieder weggesteckt hätte. Also ließ ihm seinen kleinen Triumph.
Walther glaubt, dass Knete alles regelt. Weil er selber käuflich ist. Vielleicht hofft er auch, dass ich ihm dankbar bin. Doch da täuscht er sich. Weshalb sollte ich dem Warmduscher dafür dankbar sein, dass er abdrückt?
Manchmal wünschte ich, einer wie Maik wäre mein Alter. Maik ist das genaue Gegenteil von Walther. Er verdient zwar weniger, aber er kriecht keinem die Darmzotten hoch. Und er muss nicht vor Bräuten kuschen. Die haben Respekt vor ihm. Er ist kein Weichei wie Walther oder das schleimige Etwas von Rüdiger, das Maggie die Füße leckt.
Maik bringt uns Aikido bei. Auch ein paar der Tricks, die er damals den Leuten mit Spezialaufträgen beigepult hat. Er kommt aus Zwickau und arbeitet in der City Nord. Als Wachschutz. Das ist ein lauer Job. Vor dem Mauerfall war er Nahkampfausbilder für die Staatssicherheit. "Schwert und Schild" nennt er das, abgekürzt zu "S und S". Das spricht er so zackig aus, dass es fast wie "SS" klingt.
Er weiß, wie das auf die Jungs wirkt. Dem fetten Brandauer, der beim Training grundsätzlich schwitzt wie ein Schwein und seine schwabbeligen Stampfer nie über Brusthöhe bekommt, leuchten dann sofort die Augen und er bittet schnaufend um Kriegsgeschichten. Ist Maik aufgelegt, lässt er ab und zu was hören. In letzter Zeit allerdings weniger. Seit die Dumpfbacke Brandauer sich "Unsere Ehre heißt Treue" auf den Oberarm hat ritzen lassen, damit beim Harburger Sturm angeben wollte, in Wilhelmsburg an drei Kanaken geriet, erkennungsdienstlich behandelt wurde und ausgerechnet an diesem Tag sein Adressbuch in der Tasche tragen musste.
Jedenfalls weiß ich durch Maik, dass die DDR gar nicht so schlecht war. Zumindest ausländertechnisch hatten die was los. Da gab es keine Türken und die Handvoll Bimbos wurde in geschlossenen Wohnheimen untergebracht. Genauso wie die Schlitzaugen. Sauber von den Deutschen getrennt. Ließ sich eine von den Fidschis dick machen, flog sie ruckzuck raus. Zurück nach Vietnam. Ganz einfach. Nicht so wie im Westen, wo sich die Anatolen wie Karnickel vermehren und jeder Kaffer bloß "Asyl" zu stammeln braucht und an den Sozialtropf gehängt wird.
Gerade als ich zwischen dem fetten Brandauer und Walthers weinerlicher Gedenkstättenvisage pendelte, hörte ich die Gleise kreischen. Der Zug rollte an. Ich stand ziemlich weit vorn. Bevor ich einstieg, kriegte ich noch mit, wie ein einzelner Mann den Aufgang hoch hastete. Er schwenkte die Arme und brüllte irgendetwas, aber das Neon über der Treppe war defekt und das Knacken der Lautsprecheranlage zerschnitt sein Gerufe. Außerdem war ich sowieso woanders. Denn noch während der Zug einlief, sah ich bereits den Barden.
Der Barde wirkt wie eine Karikatur der Typen, auf die Maik im Osten früher angesetzt war. Besser gesagt wie das, was ich mir unter einem Zonenhippie so vorstelle. Selber getroffen habe ich nie einen. Ich bin Gesamtdeutscher. Als der Asbestbeton fiel, war ich drei. Schade eigentlich. Bei "Schwert und Schild" stelle ich mir die Veranstaltung ganz amüsant vor. Zumindest mit einem Führungskader wie Maik.
Jedenfalls hockte der Barde in einer Ecke und stierte durch Vier-Dioptrien-Gläser aus dem Abteilfenster. Mir direkt ins Gesicht. Im selben Moment war das taube Gefühl zwischen meinen Schläfen weggewischt: Hier sitzt deine Chance, durchzuckte es mich. Wie eigens für dich bestellt. Auf dem Präsentierteller. Dein Test. D e r Test.
"Tonite's the nite…"
Keine Ahnung, wieso mir ausgerechnet das Genöle von Neil Young durch den Kopf geisterte. Vielleicht, weil Walther mich so oft damit gequält hat. Immerhin gab der Titel ein gutes Motto ab. Sonst ist der göttliche Ludwig van eher mein Fall. Auf Synthesizer. Wie in "Clockwork Orange".
Ich checkte die Spielwiese. Außer zwei Türkenmuttis und einem schmalbrüstigen Neger, die am anderen Ende des Waggons saßen und sofort ganz verschreckt wegguckten, atmete das Abteil nur Tunnelluft. Der Wagen vor uns war leer. Der hinter uns auch. Die Arena gehörte mir.
Ich pflanzte mich ins Eck. Direkt vor den Barden. Breitbeinig, aber so, dass ich die Tür im Blick hatte. Sein bleiches Krötengesicht wirkte noch blasser als sonst. Das lag am Kunstlicht. Oder der fehlenden Gitarre. Entweder er reiste ohne oder irgendwer hatte dem Jaulen endlich ein Ende gemacht und der Schrammelklampfe den Hals gebrochen.
Mit dem Teil stand er sonst an der Kellinghusenstraße, belagerte den Eingang zur U-Bahn, die fettigen, halblangen Haare hinter viel zu groß geratene Ohren geklemmt, und greinte ebenso laut wie falsch irgendwelchen ausgelutschten Popschrott. Ein grotesker Zombie, der höchstens drei Akkorde beherrschte und keine englische Silbe korrekt aussprechen konnte. Der ideale Kandidat. Doch am Bahnhof war immer zu viel Betrieb. Öffentlichkeit ist übel. Da taucht die Schmiere immer garantiert dann auf, wenn's anfängt, spannend zu werden. Nun allerdings waren wir zwei ungestört.
"Tonite's the nahahahight…"
"Kaltblütigkeit könnt ihr nicht lernen", erklärte Maik mal, als Brandauer ihn bei einer Vollkontaktübung danach fragte. "Ihr könnt Techniken lernen, euch die Varianten aneignen und sie so lange wiederholen, bis ihr sie im Schlaf beherrscht. Aber erst am Tag X werdet ihr merken, ob ihr aus dem nötigen Holz geschnitzt seid."
Kurz darauf, als ich unter der Dusche war, blieb er neben mir stehen und lächelte schmal.
"Hat mir gefallen eben. Du steckst was weg und stehst gleich wieder auf der Matte."
"Danke."
"Bleib dran."
Er wandte sich ab.
"He Maik…"
"Was denn?"
"Das da vorhin, was Brandauer wissen wollte, das mit dem Kehlkopfschlag …"
Maik ist ein sehniger Typ, durchtrainiert und ziemlich muskulös, der trotz seiner zweiundvierzig kein überflüssiges Gramm Fett hat. Wenn er grinst, erinnert er mich immer ein bisschen an William Dafoe. Nun grinste er.
"Wieso interessiert dich das?"
"Andy sagt, wer wirklich gut sein will, sollte den mal ausprobieren."
"Hör nicht auf dieses Gewäsch."
"Aber Andy…"
"Redet viel, wenn der Tag lang ist. Weil er nicht das Zeug dazu hat. Höchstens mit fünf Kumpels im Rücken. Unter anderthalb Promille."
Er legte den Kopf in den Nacken und schob die Unterlippe vor.
"Merk dir eins, Lennie: Die meisten halten sich für härter als sie sind. Aber drüber zu reden und es zu tun sind zwei Paar Schuhe. Was wirklich in dir steckt, weißt du immer erst hinterher."
Er wollte abgehen.
"Und was, wenn du wirklich gut bist?"
Er sah mich einen Moment lang an.
"Dann machst' das im Alleingang. Ohne Stoff."
Seit diesem Tag will ich es wissen.
Der Barde musterte mich kurz, dann floh sein Blick gleich wieder aus dem Fenster. Ich fischte mein Butterfly aus der Tasche, klappte es auf und fing an, mir die Halbmonde unter den Fingernägeln zu putzen. Nicht, dass die verdreckt wären. Ich lege Wert auf Sauberkeit. Aber ich wollte ihn erst mal reif machen. Er sollte mitkriegen, was auf ihn zukam und noch ein bisschen Achterbahn fahren. Dann, kurz vorher, würde ich das Messer wieder einstecken, so, als ließe ich ihn noch mal davonkommen, um im selben Moment, wo er sich entspannt hatte, zuzuschlagen.
Ich hatte die Szene tausend Mal im Kopf durchgespielt. Trotzdem spürte ich, dass ich nervös war. Mein Puls rauschte, meine Handflächen fühlten sich nass an und das Butterfly zitterte. Vermutlich das Adrenalin. Also versuchte ich mich auf den linken Daumennagel zu konzentrieren und kühl zu bleiben. Flach atmen, sagte ich mir. Ganz ruhig. Du musst kalt sein. Eiskalt.
"Hübsches Messer", hörte ich da. "Kannst auch damit umgehen?"
Seine Stimme klang überraschend fest. Ganz anders, als wie wenn er sang. Ich sah auf. Ihm direkt in die kleinen, wässrigen Krötenaugen. Da war etwas an seinem Blick, das mich störte. Irgendwas fehlte. Etwas ziemlich Entscheidendes. Die Angst.
"Denke schon", sagte ich langsam.
Es sollte sich drohend anhören, doch aus irgendeinem Grund waren meine Stimmbänder verschleimt.
"Hast schon mal damit zu gestochen?"
Die Frage erwischte mich kalt.
"Wie bitte?"
"Ob du schon mal damit zu gestochen hast, will ich wissen."
Seine Tonlage blieb neutral. Gelbgraue Augen fixierten mich. Klein, lauernd und beinahe spöttisch. Verdammt. Ja, das war Spott. Wut kochte in mir hoch. Wart's ab, Schweinebacke. Das wird dir gleich vergehen.
"Wieso interessiert Sie das?"
Das "Sie" kam völlig unabsichtlich. Es purzelte mir einfach so aus dem Mund. Ich merkte, wie ich rot wurde und unwillkürlich die Augen niederschlug. Dabei siezt man solchen Abschaum nicht.
"Es gibt ziemlich viele Irre in der Stadt", grinste er. "Man muss sich vorsehen."
Er entblößte große, gelbe Zähne.
"Ich mach Musik", schob er dann nach. "Auf der Straße und in der U-Bahn. Aber das weißt du ja. Bist ja schon öfters an mir vorbeigetrabt, wenn ich gespielt hab."
Er pausierte zwei Sekunden, so, als erwarte er eine Reaktion. Verflucht, dachte ich. Er kennt dich. Er erinnert sich daran. Und er ist sauer.
"Einmal hast du ausgespuckt", hörte ich ihn sagen. "Direkt neben mein Gitarrenetui. Das war an der Kellinghusenstraße. Oder weißt du das nicht mehr, weil du grundsätzlich vor Leuten ausspuckst, die in der U-Bahn spielen und nicht so teuer angezogen sind wie du?"
Auf einmal war das Grinsen erstarrt. Und das, was ich da in seinen Augen las, war echter Hass.
"Warum antwortest du mir nicht?"
Ich hob die Schultern und verzog keine Miene. Mein Rücken brannte. Die Sache war schon Monate her. Ganz harmlos. Nur eine beiläufige Geste. Mein üblicher Assiqualtzer. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht.
"Na los, spuck es aus", bohrte er. "Weshalb hast du kleiner Pisser mir vor die Füße gerotzt?"
Er nennt mich wirklich "kleiner Pisser". Doch aus irgendeinem Grund bin ich gar nicht empört. Stattdessen beschleicht mich ein ganz komisches Gefühl. Als drehe mir jemand den Saft ab. Ich bin plötzlich gar nicht mehr in Stimmung. Vielleicht sollte ich einfach nach Hause fahren. Zu meiner Playstation. Oder noch ein bisschen ins Netz.
Dann, als ich so in seine Augen sehe, registriere ich ein eigenartiges Flackern. Der hat längst geschnallt, warum ich hier sitze, denke ich. Trotzdem zeigt er keine Furcht. Im Gegenteil. Es scheint ihm sogar Spaß zu machen. Irgendwas läuft hier gewaltig schräg. Es ist ein Fehler gewesen, in diesen Waggon zu steigen. Schließlich hat der Typ mir wirklich nichts getan. All das Geprahle von Andy und Brandauer ist sowieso nur Sülze. Sagt selbst Maik.
Der rechte Arm des Barden zuckt. Nur eine kurze Bewegung. Plötzlich liegt ein Bowie Messer auf seinem Schoß. Er hält es ganz locker in der Rechten. Offenbar trägt er das Ding in der Parkatasche. Ich bin einigermaßen fassungslos, wie er so fix aus der Scheide bekommen hat. Es ist ein fettes Teil. Beinahe ein Bajonett. Vor Überraschung oder Schreck oder beidem lasse ich das Butterfly los. Es glitscht mir aus den Fingern und plumpst auf den Boden. Dem Barden direkt vor die Stiefel. Er tritt mit der Sohle darauf und grinst. Mein Mund ist auf einmal ganz trocken und mein Nacken heiß.
"Ich weiß es nicht", würge ich.
"Du weißt es nicht?"
"Nein."
Sein Gesicht verzieht sich zu einer höhnischen Grimasse.
"Aber ich. Soll ich's dir verraten? Weil du ein erbärmlicher Hosenscheißer bist. Du glaubst du bist stark, wenn du Schwächere quälst. Dabei beneidest du bloß alle, die sich nicht genauso beschissen fühlen wie du ..."
Die U-Bahn bremst. Sein Gesicht entspannt sich, während er die Klinge spielerisch über den Breitkord der Hose gleiten lässt. Ich teste den linken Handballen. Zum Draufstützen wenn ich hoch springe. Dummerweise sitze ich falsch. So wie ich mich vor ihn hingehockt habe, lande ich direkt in seiner Klinge.
"Schön ruhig bleiben", zischt er leise. "Wir fahren noch ein Stück zusammen."
In diesem Augenblick spüre ich die Angst. Wie eine kalte Pranke im Genick. Er hat Recht. Es gibt viele Geisteskranke in Stadt. Echte Psychopathen. Die sehen völlig harmlos aus. So wie er.
"Es tut mir Leid", stottere ich. "Ehrlich."
Der Barde schnalzt tadelnd mit der Zunge.
"Du bist nicht der erste von deiner Sorte", sagte er dann nachdenklich, während sein Blick in den hinteren Teil des Wagens gleitet, "und du wirst auch nicht der letzte sein."
Die Lichter der Station rieseln durch den Waggon. Stahl kreischt. Der Zug hält ruckend an einem menschenleeren Bahnsteig. Rechterhand das "König der Löwen" Plakat. Ich höre helles Zischen, als im hinteren Teil des Wagens die Tür aufgeht, wende den Kopf und sehe, wie die zwei Türkinnen und der Schwarze aussteigen. Sie streben ohne einen Blick auf mich zu verschwenden zur Treppe. Wir sind allein. Kein Menschenseele mehr weit und breit.
Tonite's the nite…
Das nennt man Ironie des Schicksals. Scheiße. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich muss auf der Stelle raus. Sonst komme ich nicht mal mehr bis Ohlsdorf. Vielleicht noch zehn Sekunden, dann rauschen die Türen wieder zu und ich sitze in der Falle. Zehn Sekunden sind eine lange Zeit. In zehn Sekunden laufen manche hundert Meter. Ich brauche bloß vier zu schaffen. Vier Meter bis zur Tür. Doch ich bin wie gelähmt. Mein Herz rast und in den Ohren ist Watte. Fast so wie früher, wenn Rüdiger mich in die Mangel nahm.
Da. Getrappel auf dem Bahnsteig. Jemand läuft in unsere Richtung. Als der Lautsprecher bereits quäkt, poltern Schritte hinten durch den Waggon. Während die Türen knallen und der Zug anrollt.
"Lennart!"
Hätte mir einer vor fünf Minuten prophezeit, dass ich mich je freuen würde, wenn ich Walther sehe, hätte ich ihn mindestens für verrückt erklärt. Jetzt spüre ich bloß Erleichterung. Walther kommt schwer atmend durch den Gang auf mich zu, in der Hand die Packung mit den vergessenen "Prince".
"Ich konnte dich so nicht gehen lassen. Aber ich war nicht schnell genug. Hudtwalker hab ich dich noch gerufen, doch da stiegst du schon ein."
Er ist mitgefahren, mir hinterher. Der Zug ist lang. Es hat gedauert, bis er bei meinem Abteil angelangt ist. Bloß wegen der Geste. Dabei verabscheut er Zigaretten, seit er es selber aufgegeben hat.
Verehrte EU-Gesundheitsminister: Schaffen Sie die schwachsinnigen Aufdrucke ab. Rauchen kann Leben retten.
"Danke", sage ich bloß.
Walther setzt sich, streift den Barden mit einem Blick und deutet ein Nicken an. Der Barde lächelt und nickt zurück, bevor er wieder aus dem Fenster sieht. Genauso unbeteiligt wie vorhin. Sein Schoß ist leer. Auch mein Butterfly ist auf wundersame Weise verschwunden. Walther sagt, dass er mich noch ein Stück bringt. Ich habe nichts dagegen. Als der Zug abbremst und wir in Ohlsdorf einrollen, streift der Barde sein Haar hinters Ohr und erhebt sich. Im Aufstehen fragt er mich: "Ist das dein Vater?"
"Ja", sage ich.
"Da hast du aber Glück." Er grinst. "Na dann. Bis zu nächsten Mal…"



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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