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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Seitensprung

© Ellen Kraft


Schuld waren die nassen Bodenplatten, sonst wäre das alles nicht passiert. Ich arbeitete in einem Cafe, als ich auf einer feuchten Fliese ausrutschte. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und schüttete einem Gast einen Cappuccino auf die helle Leinenhose. Mit meiner Gesichtsfarbe hätte ich Reklame für Tomatensaft machen können. Als Wiedergutmachung gingen Jan und ich abends in eine Weinstube, die am Ort in einer Seitenstraße lag. Jan war für drei Wochen zu einer stationären Reha-Maßnahme in dem kleinen Kurort. Wir hatten uns viel zu erzählen. Jan sprach von vielen verrückten Dingen, die er gerne machen würde. Ich bekam das Gefühl, viel in meinem Leben verpasst zu haben, wenn er davon erzählte, bei Sonnenuntergang eine Flasche Schampus an der Nordsee zu trinken, sich die Hände am Lagerfeuer zu wärmen und unter freiem Himmel zu zelten. Leider würde er das nicht mehr erleben, weil seine Frau dazu keine Lust verspüre und die Ehe seit langer Zeit nur noch auf dem Papier bestand.
Sind die Motive für einen Seitensprung unterschiedlich oder immer die gleichen? Bei mir war es die pure Neugier, nach fünfzehn Jahre Ehe wieder einmal einen anderen Mann nackt zu spüren. Zu wissen, wie der so ist, und wie es ist, mich ungezwungen meiner Lust hinzugeben. Diese Neugier erwachte, nachdem ich mit Jan zu viel Rotwein getrunken hatte. Rotwein beflügelte meine Sinne bis zum völligen Leichtsinn. Es nisteten sich kleine Schmetterlinge in meinem Bauch ein. Als ich erst nach zwölf Uhr nachts nach Hause kam, fragte mich mein Mann nach dem Grund. Mir fielen stotternd nur zwei Sätze ein: "Die Spülmaschine war kaputt. Wir mussten das ganze Geschirr mit der Hand abtrocknen."
In den folgenden Tagen traf ich Jan so oft es ging. Ich schlich mich heimlich in sein Zimmer im dritten Stock der Kurklinik, und wir verbrachten kurze, leidenschaftliche Stunden in seinem Bett. Ich war süchtig nach ihm und der Liebe, die ich mit ihm erlebte. Mein schlechtes Gewissen, das mich hinterher plagte, konnte ich erfolgreich verdrängen. Erst als Jan sich von mir verabschiedete, weil seine Reha-Maßnahme beendet war, stellte ich fest, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Ich gestand meiner Freundin das Verhältnis. Sie schüttelte nur mit dem Kopf und gab mir einen Rat: "Bau dein Glück nicht auf dem Unglück anderer auf!" Ich schlug diese Warnung in den Wind.
Jan war als Außendienstmitarbeiter bei einem Konzern in Hamburg beschäftigt. Das ermöglichte ihm, dass wir uns zweimal wöchentlich in einem kleinen Hotel treffen konnten. Erst als ich meinem Mann die vielen Ausreden nicht mehr glaubhaft verkaufen konnte und er mich nach Arbeitsende beschattete, bekam mein Leben eine unerwartet schnelle Wendung. Mein Mann forderte mich auf, sein Haus zu verlassen und mir eine neue Bleibe zu suchen. Ich fühlte mich von dieser langweiligen Ehe erlöst. Ich hatte keine Lust mehr, mehrmals in der Woche wegen Damen, Königen oder Buben alleine zu Hause zu sitzen. In Jan sah ich den Traummann, den ich gerne geheiratet hätte, der mir vor meiner Heirat aber nie begegnet war. Ich suchte mir eine kleine Wohnung und richtete sie mir wie ein Liebesnest im vorderen Orient ein. Nach kurzer Zeit erklärte Jan, dass er mit seinem Leben und der Beziehung zu seiner Frau unglücklich sei. Er deutete an, sich von ihr zu trennen und mit mir ein neues Leben zu beginnen. Ich war glücklich.
Die Zeit verging. Wir waren schon zwei Jahre zusammen, als ich wegen der bisher noch immer nicht erfolgten Trennung von seiner Frau unruhig wurde. Ich sprach Jan ständig darauf an. Jan verstand es sehr gut, mich zu vertrösten. "Die Zeit ist noch nicht reif, um mit ihr darüber zu sprechen. Habe noch etwas Geduld!" Ich fühlte mich an fünf Tagen in der Woche einsam und hatte keinen Spaß daran, meinen Urlaub auch noch allein zu verbringen. Von Jan besaß ich nur seine Handy-Nummer. Irgendwie hatte ich ihn nie nach seiner kompletten Adresse gefragt. Warum auch? Unter fadenscheinigen Argumenten erkundigte ich mich im Lohnbüro seiner Firma nach seiner kompletten Anschrift und seiner Telefonnummer. Ich bekam die Angaben ohne Probleme. In Gedanken setzte ich mir für seine Trennung eine allerletzte Frist.
Diese Frist ließ Jan wieder verstreichen. Ich beschloss, mir seine Umgebung in Hamburg anzusehen. Schon am frühen Morgen parkte ich mein Auto etwas abseits von seinem Haus, sodass ich es gut beobachten konnte. Jan hatte mir erzählt, dass er jeden Sonntag ab 11 Uhr seinem Hobby Tennisspielen nachging. Seine Frau würde den ganzen Sonntag mit irgendwelchen Freundinnen unterwegs sein. Als sich die Gartenpforte öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Ich erkannte Jan. Er umarmte eine hübsche, schlanke Frau. Beide waren sehr vertraut. Zu meinem Entsetzen trug Jan auf einem Arm ein etwa ein Jahr altes Kind. Das andere Kind lief hopsend den beiden voraus. Jan hatte mir nie etwas von Kindern erzählt. Ich war verletzt, dass das einjährige Kind schon in unserer Zeit entstanden war. Aber vielleicht war alles ganz anders! Warum hatte Jan nicht den Mut, diese für ihn unglückliche Ehe zu beenden?
Am Abend rannte ich wie ein Leopard in meiner Wohnung herum. Ich war so unruhig, dass ich es nicht mehr aushielt und Jan zu Hause anrief. Seine Frau war am Telefon, weil Jan nicht zu Hause war. Warum hatte er mir immer wieder Hoffnungen gemacht? Nach ein paar Sätzen hatte sie verstanden, dass ich Jan liebe. Ich dachte, meine Probleme wären damit gelöst. Ihre fingen mit meiner Wahrheit erst an. Jans Frau trug die Konsequenzen und zog mit beiden Kindern zu ihren Eltern nach Süddeutschland. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass sie bereits im vierten Monat schwanger war. Für Jan war es unerträglich, seine Kinder nicht mehr jeden Tag zu sehen. Unsere Liebe bröckelte dadurch wie ein trockener Fels. Wir trafen uns ein letztes Mal in dem kleinen Cafe, in dem wir uns kennen gelernt hatten. Nach zwei Monaten, nachdem seine Frau ausgezogen war und die Kinder mitgenommen hatte, trennte sich Jan von mir. Meine ausgesprochene S Wahrheit wurde uns zum Verhängnis. Er fühlte sich von mir verraten. Hatte er nicht auch meine Liebe zu ihm verraten? Ich ging mit Tränen in den Augen nach Hause, schloss die Wohnungstür, zog das Telefonkabel aus der Steckdose und legte mich erschöpft auf das Sofa. Ich erinnerte mich an die Worte meiner Freundin: "Bau dein Glück nicht auf dem Unglück anderer auf." Erst jetzt verstand ich, was sie mir damit hatte sagen wollte. Noch nie in meinem Leben war ich dem Tod so nahe wie in diesen Minuten ...



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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