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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Paar italienische Schuhe

© Gaby Cadera


Harald packte seine Aktentasche, eilte aus dem Büro und fuhr mit der U-Bahn nach Sinshausen zu dem kleinen Laden. Hier hatte Inge die italienischen Schuhe gesehen und sich kaum vom Schaufenster lösen können. Das Bild vor Augen, wie sie sich mit den schwarzen Pumps, deren Riemchen sich schmeichelnd um ihre Fesseln legten, mal von dieser, mal von jener Seite im Spiegel betrachtete, betrat er das Geschäft. Schnell war das Paar gefunden. An der Kasse wurde ihm klar, warum seine Frau die Schuhe wieder ins Regal gestellt hatte. Er schluckte, bezahlte und ging zurück zur U-Bahn Station.
Uringeruch stieg ihm in die Nase, Graffitis waren an die blassblau geflieste Wand gesprüht und auf einer Bank lag, die Arme vor der Brust verschränkt, ein Penner, der seinen Rausch ausschlief. Von einem Werbeplakat lächelte ihm eine hübsche Brünette in Dessous entgegen. Eine grauhaarige Dame in dunklem Mantel stützte sich auf ihre Krücke und starrte ins Nichts; eine junge Frau schob den Kinderwagen hin und her, damit das Kleine nicht aufwachte, und der Herr mit Hut und Zigarillo las Zeitung. Ein Farbiger in Jeansjacke stand etwas abseits.
Harald empfand diebische Freude und ein zufriedenes Lächeln heftete auf seine Lippen. Er konnte es kaum abwarten, nach Hause zu kommen, um Inge mit den Schuhen zu überraschen.
Am Wochenende wollte er sie zum Essen ausführen. Vielleicht danach noch ins Kino in die Spätvorstellung ...
... dazu das rote geschlitzte Kleid mit dem tiefen Ausschnitt - sie wird traumhaft aussehen!
Ständig blickte er auf die Uhr, und er hatte den Eindruck, dass der Sekundenzeiger sich heute langsamer als sonst bewegte.
Zwei junge Männer, bekleidet mit Lederjacken, Jeans und Stiefeln, kamen lässig die Treppe herunter und schlenderten über den Bahnsteig. Der Dunkelhaarige schnippte seine Kippe auf die Gleise und steckte sich eine neue Zigarette an.
Sie stellten sich zu dem Farbigen.
"Irgendwie stinkt's hier", pöbelte der eine.
"Hast Recht", stimmte ihm der andere zu, dessen Haare kurz geschoren waren.
Ganz in Gedanken an den geplanten Abend versunken, hatte Harald noch nicht bemerkt, was da vor sich ging.
Der Farbige wollte weiter gehen, aber der Dunkelhaarige stellte sich ihm in den Weg. "He, Nigger, wo willste denn hin?"
Ängstlich schaute der Afrikaner zu Boden.
Harald schielte hinüber.
Wieder solche Spinner.
Der Kurzgeschorene rempelte den Farbigen an, der Dunkelhaarige schubste ihn noch heftiger, sodass er ins Stolpern kam.
Die ältere Dame stierte immer noch ins Leere. Der Herr mit Hut schien in seine Zeitung vertieft und die junge Frau mit dem Kinderwagen ging in die andere Richtung.
Weitere Passanten traten auf den Bahnsteig, aber niemand achtete auf das, was dort geschah.
"Los, Niggerschwein, rück' dein Handy und die Kohle raus!" Ruppig packte der Dunkelhaarige ihn an der Jacke. Mit dem Unterarm am Hals drängte er den Farbigen an die Wand und hielt ihm die Zigarette bedrohlich dicht vor die Augen.
"Ich habe kein Geld", entgegnete dieser mit zittriger Stimme.
"Gut, wie du willst." Er drückte ihm die Zigarettenglut auf die Wange. Das Opfer schrie.
Warum tut denn keiner was?
Harald hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da schlug der Dunkelhaarige dem Farbigen mit einem Fausthieb in den Magen. Er krümmte sich, der nächste Schlag traf ihn von unten ins Gesicht. Er sackte zusammen, Blut quoll aus seiner Nase.
Die ältere Dame holte ihren Blick aus dem Nichts zurück und für einen Moment traf sich ihrer mit Haralds. Der Herr mit Hut trat seinen Zigarillo aus und blätterte die Zeitung um, wobei er sie so hoch hielt, dass sein Gesicht dahinter versteckt war. Die anderen Menschen wirkten erstarrt, wie in einem Wachsfigurenkabinett.
Alle schauen weg.
Zu gerne hätte Harald dem Gepeinigten geholfen. Bei dem Gedanken daran schnürte es ihm die Kehle zu und ein flaues Gefühl in der Magengegend machte sich breit. Er hatte Angst. Blanke Angst.
Was kann ich schon ausrichten? Nichts. Ich werde genauso zusammen geschlagen, liege genauso blutend am Boden. Dann kann mich Inge mit den Kindern im Krankenhaus besuchen ... oder im schlimmsten Fall ... nein ...
Harald starrte auf die große Uhr.
Bloß nicht hinsehen ...
Er nestelte an der Tüte, in der die teuren Schuhe waren, und warf einen Blick hinein.
... nicht hinsehen ...
Wieder hörte er einen dumpfen Schlag und das Wimmern des Menschen, der dort zusammengeschlagen wurde.
... nicht hinsehen ...
Aber Harald konnte nicht anders. Aus dem Augenwinkel heraus lugte er an dem Herrn vorbei, der Zeitung las. Die Passanten starrten entweder zu Boden oder auf das strahlende Lächeln der Frau in Dessous.
Niemand griff ein.
Die ältere Dame schnäuzte sich die Nase. Und wieder traf sich ihr Blick, der Bedauern und Entsetzen in sich barg, mit dem seinen.
Ich kann nicht! schrie es in seinem Kopf.
Ich alleine schaffe das nicht ...
Er beobachtete die anderen Passanten. Eine Frau hielt ein Handy in der Hand und schrieb eine SMS. Drei kräftige Männer konnte er ausmachen.
Das machte ihm Mut.
"He, Sie, in der roten Jacke! Sie haben doch ein Handy. Rufen Sie die Polizei!", hörte er sich sagen. Verwirrt blickte die Frau auf, dann tat sie, was er ihr aufgetragen hatte.
"Und Ihr drei, geht nicht weg."
Der Herr mit der Zeitung schaute zu Harald herüber und schüttelte den Kopf.
"Ja, Sie mit der Zeitung, kommen Sie! Und Sie auch."
Die ältere Dame schien erleichtert, schnäuzte wieder ihre Nase und nickte Harald zu. Der Herr faltete seine Zeitung zusammen und ging, wenn auch zögernd, mit auf das Geschehen zu.
Die Menge kam in Bewegung, wie eine Woge, die auf den Strand zuspülte.
Als die Peiniger bemerkten, was sich tat, ließen sie von ihrem Opfer ab, das gekrümmt am Boden lag, und liefen, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Die Menschen scharten sich um den Afrikaner, schauten den Flüchtenden fassungslos hinterher.
"Ihr Schweine!", rief die ältere Dame ihnen nach.
Harald beugte sich zu ihm hinunter. "Können Sie aufstehen?", fragte er besorgt.
Den Schock ins Gesicht geschrieben, starrte der Afrikaner Harald mit aufgerissenen Augen an, schüttelte den Kopf und Tränen liefen ihm über die Wangen. Er fasste Harald am Arm, sah ihn dankbar an.
Die Passanten um sie herum murmelten durcheinander.
"Hat jemand den Krankenwagen gerufen?"
"Und die Polizei? Es muss Anzeige erstattet werden."
"Die sollten mindestens genauso verprügelt werden", hörte Harald die ältere Dame sagen.
Die U-Bahn fuhr ein und der Menschenauflauf löste sich auf. Nur Harald und die ältere Dame blieben zurück, warteten auf das Eintreffen der Rettungskräfte. Der Verletzte wurde versorgt und abtransportiert, während die Polizei Haralds Personalien für eine spätere Zeugenaussage notierte.
Kurze Zeit später kam die nächste U-Bahn.
"Nehmen Sie auch diese Linie?", fragte Harald die Frau.
Sie schüttelte den Kopf. "Meine kommt aber auch gleich."
Harald wandte sich ab und ganz gefangen von dem Erlebnis stieg er ein. Den Kopf an die Scheibe gelehnt, konnte er das Gesicht des Afrikaners mit der Brandwunde nicht vergessen.
Zu Hause angekommen, fühlte er sich erschöpft und leer. Noch bevor er den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, öffnete seine Frau die Tür.
"Liebling, ich habe mir Sorgen gemacht."
Wortlos schloss er sie in die Arme.
Da fiel ihm ein, was ihn zu dieser U-Bahn Station geführt hatte.
Die Schuhe!
Das Paar italienische Schuhe.
"Du bist kreidebleich. Was ist passiert?"
Harald hängte das Sakko über die Stuhllehne und setzte sich an den Küchentisch. Inge holte einen Cognac aus dem Schrank. "Ich glaube, den kannst du jetzt gut vertragen."
In einem Zug leerte er das Glas und dann erzählte er ihr alles. "In der Aufregung muss ich die Schuhe an der Station stehen gelassen haben", schloss er.
"Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist."
"Trotzdem schade um die schönen Schuhe ..."
"Du hast Mut bewiesen und gehörst nicht zu den Menschen, die wegsehen! Ich bin stolz auf dich!"
Als er ihre Hand nahm, klingelte es. Verwundert über den späten Besucher, ging er zur Tür und öffnete.
Vor ihm stand die ältere Dame aus der U-Bahn-Station. Sie hielt ihm seine Tasche entgegen. "Ich glaube, die haben Sie vergessen."
"Aber woher kennen Sie meine Adresse?"
"Als der Beamte Ihren Ausweis in der Hand hatte, fragte er, ob 'Buchfinkenweg 12' stimmte." Die Falten, die sich beim Lachen tief in ihr Gesicht gruben, machten es noch sympathischer.



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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