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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Mein Spiegelbild?

© Regina Hesse


Mit einem tiefen Seufzer ließ Klara sich auf ihr Bett fallen. Es war voll bedeckt mit Kleidungsstücken, die sie aus dem Schrank gezerrt, angeschaut und dann auf einen Haufen geworfen hatte. Es war nun wirklich nichts dabei, was sie anziehen konnte. Im Laufe des letzten Sommers hatte sie über zwanzig Pfund abgenommen, und bis jetzt hatte sie sich mit viel zu weiten Sachen begnügt. Aber heute war sie eingeladen, zusammen mit ihrer Schwester ihre Mutter abzuholen, die eine alte Schulfreundin im Rheinland besucht hatte.
‚Warum habe ich nur zugesagt? Es ist zwar nett, dass Ellen mich für einen Tag aus meinem Trott herausholen möchte, aber so kann ich doch nicht unter die Leute gehen. Ich werde sie anrufen und absagen.'
"Kommt nicht infrage, dass du kneifst", sagte Ellen, "wir gehen vorher schnell etwas Passendes für dich kaufen. Es gibt doch bei euch so einen schicken Laden. Du hast es wirklich mal verdient, dass du dir etwas Schönes gönnst. Ich sause sofort los und bin in einer halben Stunde bei dir, o.k.?"
Klara hatte keine Chance für eine Entgegnung. Ellen hatte aufgelegt.
Unterwegs war Klara sehr schweigsam.
"Was ist? Fühlst du dich nicht wohl?"
"Doch, aber ich mache mir Sorgen wegen Jürgen. Wie wird er reagieren, wenn er aus der Tagesstätte nach Hause kommt und ich bin schon wieder nicht da. Als ich nach meinem Zusammenbruch in der Klinik war, hatte er wieder diese aggressiven Phasen, die uns alle so viel Angst machen. Ich allein bin imstande ihn zu beruhigen."
"Günter ist doch da und kann sich um ihn kümmern."
"Ja, er hat es versprochen, wenn nur nicht wieder irgendjemand von seinen vielen Freunden anruft und er Hals über Kopf verschwindet, wie so häufig."
"Hat er noch immer nicht eingesehen, dass Jürgen auch sein behindertes Kind ist und er nicht alles auf dich abwälzen kann?"
"Seit meinem Zusammenbruch kümmert er sich wirklich mehr um ihn. Er gönnt mir auch diese Fahrt, aber er verlässt sich auch gerne auf Katrin."
"Katrin ist gerade sechzehn und ein junges Mädchen muss sein eigenes Leben führen können. Ihr solltet sie nicht überfordern."
"Ich passe schon auf. Jürgen hängt sehr an seiner Schwester. Katrin sagt es auch ehrlich, wenn es ihr zu viel wird."
Ellen lenkte das Gespräch auf ihre gemeinsame Kindheit.
"Wie mag es wohl jetzt in der Ahornallee aussehen? Ob das Haus noch steht in dem wir gewohnt haben?"
"Es wäre schön, wenn wir alles unverändert vorfinden würden. Aber das wird wohl nicht so sein."
Mutters Freundin, die sie Tante Käte nannten, empfing sie mit Herzenswärme und beantwortete ihre vielen Fragen nach ehemaligen Schulfreundinnen, so weit ihr das möglich war.
Die Zeit verging wie im Flug und Klara schaute schon mehrmals auf die Uhr.
"Was ist", sagte Tante Käte, "wollen wir nicht einen Spaziergang machen? Ihr könnt dann sehen, wie sich unsere Stadt verändert hat."
Ellen und ihre Mutter stimmten zu.
Klara hatte Einwände wegen der fortgeschrittenen Zeit.
"Nun drängel nicht so", sagte Ellen. " Es dauert höchstens ein Stündchen."
Tante Käte und Mama gingen voran und die Schwestern staunten über ihren flotten Schritt.
Sie kamen an ihrer alten Schule vorbei, an dem Geschäft, wo sie manches Bonbon geschenkt bekommen hatten und das es tatsächlich noch immer gab, und an vielen vertrauten Gebäuden, die noch genau so aussahen wie zu ihrer Kinderzeit.
Natürlich gab es auch unbekannte Häuser und Tante Käte erzählte von einem ganz neuen Viertel, das unmittelbar vor der Stadt entstanden war.
Sie gingen durch die Bachstraße, bogen rechts ab und da war auch schon die Ahornallee.
Ganz langsam gingen sie weiter, blieben hier und da stehen und erforschten ihr Gedächtnis nach den Namen der ehemaligen Bewohner.
Dann standen sie vor dem Nachbarhaus mit dem schönen Erker. Die Gardinen waren zurück gezogen und man konnte deutlich sehen, dass zwei Personen hinter dem Fenster saßen.
Klara stützte sich auf Tante Käte und sagte kaum hörbar: "Ist das etwa Frau Schneider mit Ursula?"
"Ja, Klara, das stimmt. Frau Schneider lebt hier noch immer mit ihrer behinderten Tochter."
"Da gab es doch auch einen Sohn, ich glaube, er hieß Ulf", sagte Ellen
"Ulf hat geheiratet und ist nach Bayern gezogen. Er kommt nie mehr hierher. Und auch Herr Schneider hat damals, kurz vor Ende des Krieges, seine Familie verlassen. Frau Schneider ist nichts mehr geblieben als dieses Kind."
"Besucht die Ursula eine Werkstatt oder einen Förderbereich?"
"Nein, Klara, Frau Schneider hat sie damals vor den Nazis versteckt und lebt noch immer in der Angst, dass ihr jemand etwas antun könnte."
"Das ist ja schrecklich", sagte die Mutter.
,Ja, wirklich", sagte Käte.
"Was wird aus ihr, wenn ihre Mutter stirbt? Ursula war kaum älter als Klara und ich. Dann muss Frau Schneider inzwischen über siebzig sein."
"Ja, das stimmt. Aber bisher ist es noch niemand gelungen sie davon zu überzeugen, dass es für Ursula besser wäre, wenn sie in ein Heim käme. Wenn Frau Schneider nicht mehr da ist, dann kommt sie zwangsläufig dorthin. Es wäre besser, sie könnte sich noch eingewöhnen, solange ihre Mutter noch lebt."
Klara überfiel ein Zittern. Sah sie hier im Spiegelbild ihre eigene Zukunft? Nach ihrem Zusammenbruch hatte die ganze Familie sie gedrängt, Jürgen in ein Heim zu geben. Es gab inzwischen gute Einrichtungen mit angeschlossenem Förderbereichen und Werkstätten. Aber Klara hatte sich strikt geweigert, auch nur darüber nachzudenken.
Inzwischen hatte sie ihre alte Kraft fast wieder erreicht. Aber die Ärzte hatten sie gewarnt:
"Die Belastung ist zu groß für Sie. Möglicherweise brechen Sie über kurz oder lang wieder zusammen. Was wird dann mit ihrem Sohn?"
Vielleicht ereilte sie das gleiche Schicksal wie Frau Schneider. Katrin hatte auch ein Recht auf ein eigenes Leben, das nicht mit der Sorge um den Bruder angefüllt sein durfte. Was dachte Günter? Na, ja, er hatte es schließlich auch schon mehrmals in Erwägung gezogen für Jürgen einen Heimplatz zu suchen.
Auf dem Nachhauseweg sagte Klara zu ihrer Mutter: "Vielleicht sollte ich mich doch mit dem Gedanken vertraut machen, Jürgen in ein Heim zu geben. Es muss ja nicht heute und morgen sein."
"Na endlich", sagte ihre Mutter, "nimm dir alle Zeit, die nötig ist. Du wirst schon etwas Passendes finden."
Klara dachte:‚An die Begegnung mit Frau Schneider und Ursula werde ich mich wohl bis an mein Lebensende erinnern.'



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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