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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Jahr China

© Stephanie Korte


Der Abschied fiel ihm nicht so schwer wie er erwartet hatte. Seine Frau und seine beiden Töchter hatten ihn zum Flughafen gefahren, die Mädchen voller Tränen und Gezeter, seine Frau traurig, aber gefasst. Sie hatte sich in ihr Schicksal gefügt, so schien es ihm, schließlich profitierte auch sie finanziell von seiner Entscheidung. Der Abschiedskuss war lang und zärtlich wie seit langem nicht mehr. Manfred staunte.
Während er die Gangway zum Flugzeug hinunterging, dachte er an seine Frau, wie sie die Kinder an sich drückte und schließlich sogar mit ihnen zum Abschied winkte. War es wirklich eine gute Idee, seine Familie ein Jahr hier zurück zu lassen? Er hatte das Angebot seiner Firma, für ein Jahr nach China zu gehen nur zögerlich angenommen. Doch wie er sich nun eingestand, würde er vermutlich nur seine Töchter vermissen. Sie waren seine Goldstücke, er liebte sie über alles. Tja, und seine Frau? Sie hatten sich auseinander gelebt, woran er nicht ganz unschuldig war, überlegte Manfred. Stets hatte er für seine Firma gelebt, nicht für seine Familie. Mit der Zeit war ihm Julia fremd geworden, ja, beinahe gleichgültig. Er hielt inne. Der Kuss vorhin war ihm nicht gleichgültig. Die Bordkarte in der Hand schloss er die Augen und dachte an seine verkorkste Ehe.
Das Flugzeug startete mit dröhnenden Motoren. Nun gab es kein Zurück mehr, ihm lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Würde dieses Jahr seine Ehe endgültig zerstören oder aber retten oder, was noch schlimmer wäre, in Gleichgültigkeit versinken? Die Finger tief in die Sitze gekrallt, dass ihm die Nägel brannten, flog Manfred seiner ungewissen Zukunft entgegen. Immer weiter entfernte er sich von seiner Heimat, seiner Familie und von sich selbst.
Bei der Ankunft in Shanghai hatte er in dieser riesigen Stadt Chaos erwartet, ein heilloses Durcheinander, doch nichts von alldem traf zu. Zwar strömten Hunderte Menschen durch die Gänge, um etwa zur Gepäckabfertigung zu gelangen, jedoch war alles geordnet und durchorganisiert. Manfred war überrascht und fühlte sich plötzlich nicht mehr so verloren. Nach einer Stunde war er schließlich durch alle Kontrollen, hatte seinen Koffer geholt, den er nun hinter sich her zog und schwitzte aus allen Poren. Er wollte nur noch in seine Wohnung, die die Firma ihm zugewiesen hatte, duschen und schlafen, vielleicht auch noch etwas essen, überlegte er. Allerdings sollte er abgeholt werden. So war es zumindest vereinbart. Also hielt er nach seinem Namen Ausschau. Endlich fand er ihn im Gewühl, wobei er auch nahezu kaum zu übersehen war. Ein riesiger fetter Chinese hielt ein Schild hoch: Dr. Manfred Stockmann. Zielstrebig ging er auf den Chinesen zu, obwohl er ihm zugegebenermaßen ein wenig einschüchterte. Als Manfred ihm auf Chinesisch sagte, wer er war, schaute der Riese nur auf ihn hinunter, wodurch Manfred sich noch kleiner fühlte, und bedeutete ihm ohne Gefühlsregung oder Worte mit zu kommen. Folgsam trottete er hinter dem Riesen her bis zu dessen Wagen. "Wird schon alles gut werden", betete er immer wieder wie ein Mantra, "wird schon alles gut."
Die ersten acht Wochen war Manfred viel zu abgelenkt durch all die neuen Eindrücke in der Firma und in Shanghai, als dass er Heimweh an seine Familie verschwendete. Natürlich telefonierte er hin und wieder mit ihnen, aber ohne wirklich mit dem Herzen bei ihnen zu sein. Mit der Zeit jedoch fiel ihm auf, wie sehr er seine Kinder und sein Zuhause vermisste. Hier hockte er meist an irgendeinem Projekt oder manchmal auch mit einigen Kollegen zusammen, aber dies war nicht dasselbe. Selbst an Julia mit ihrer sanften Stimme und ihren langen kupferroten Haaren musste er wieder öfter denken. Erst in drei Monaten würde er sie alle wieder sehen. Lange hatte er sich nicht mehr so einsam gefühlt und er nahm sich vor, wieder mehr mit seiner Familie zu unternehmen, wenn er das Jahr überstanden hatte. Auch seine körperlichen Gelüste nahmen wieder zu, er hatte sie lange erfolgreich verdrängt. Mit seinen fünfundvierzig Jahren und der vielen Arbeit hatte sein Sexualleben zwar gelitten, aber Julia und er hatten immer Freude an den eher wenigen Malen in den letzten Jahren gehabt. Plötzlich durchzuckte ihn ein böser Gedanke. Was würde Julia in diesem Jahr machen? Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nichts wird sie machen, sie liebt mich, beruhigte er sich, doch sicher war er sich nicht. Liebte sie ihn wirklich noch oder war sie sogar froh, ihn für eine Weile los zu sein? Nachdenklich legte er die Stäbchen seines Chop Suey beiseite und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Und was werde ich machen, wenn ich nicht mehr onanieren will?
Die Antwort auf seine Frage kam zwei Wochen später in Form eines Arbeitskollegen, auch einem Deutschen, der schon seit drei Jahren in Shanghai arbeitete. Manfred mochte ihn nicht besonders wegen seiner plumpen Art, aber es gab nicht viele Deutsche hier, mit denen er sich unterhalten konnte. Willi war Ende Vierzig und geschieden, da war es ihm egal, ob er in China oder Europa arbeitete. Außerdem gäbe es hier keine Schwierigkeiten mit den Frauen, verkündete er gelassen und schenkte sich und Manfred chinesisches Bier ein. Als Manfred nachfragte, was er damit meine, sagte Willi nur süffisant und mit dem schleimigen Grinsen, das Manfred nicht ausstehen konnte und ihn anwiderte: "Hier sind die Frauen still und machen alles. Nur das Geld muss stimmen." Ein Ekel erregender und trockener Belag breitete sich in Manfreds Mund aus. So also lösten seine Kollegen das Problem. Natürlich hätte er sich das auch denken können. Er kam sich ein wenig naiv vor.
"Aber ich dachte, in China sei Prostitution verboten?", hakte er nach, während sich seine Hand um das Bierglas klammerte.
Wieder grinste Willi: "Man merkt, dass du noch nicht lange hier bist, hehe. Also pass mal auf. Wenn du hier bumsen willst, musst du schon ein bisschen Geld ausgeben. Chuan kennt wirklich sehr nette Mädchen, die dir bestimmt gefallen. Du musst ihnen nur das Appartement bezahlen und ein bisschen Taschengeld, schon gehören sie ganz dir und du kannst mit ihnen tun, was du willst. Ist also ganz einfach. Ich sag dir, die sind echt scharf." Willis schleimige Art ließ Manfred erschauern. Das war nichts anderes als moderner Sklavenhandel. Was tat er hier eigentlich? Trotzdem wurde er neugierig. Der Geschmack in seinem Mund verschwand ganz langsam.
"Sagen die Behörden nichts dagegen?", fragte er, nun ganz Ohr. Manfred spürte, wie ihm das Blut durch die Adern schoss.
"Ach was, alle bestochen. Die leben auch ganz gut davon."
"Das kostet doch bestimmt ein Vermögen. So was könnte ich mir nicht leisten", das sollte Manfreds Hauptargument dagegen werden, denn er hatte plötzlich Angst vor sich selbst. Willi jedoch sah die Sache ganz anders.
"Quatsch. Wir verdienen doch hier richtig gut, da machen ein paar Vergnügungsausgaben kaum was aus. Ehrlich, kostet wirklich nicht die Welt. Du wirst es genießen, das schwör ich dir", lachte Willi. Er holte Papier und Bleistift, legte sie vor sich und Manfred hin und fing an, die Kosten für ein chinesisches Mädchen aufzuschreiben. Er wisse dies alles aus eigener Erfahrung, erläuterte er und klopfte dabei Manfred verbrüdernd auf die Schulter. Als Manfred die Zahlen sah, staunte er nicht schlecht. Er konnte sich das reizvolle Spiel tatsächlich leisten. Seine Gedanken und sein Puls rasten, doch sein Gewissen plagte ihn. Er dachte an Julia. Sollte er ihr dies wirklich antun? Und doch … es prickelte leicht auf seiner Zunge. Er hatte soeben den verbotenen Apfel geschmeckt und dieser ließ ihn nicht wieder los. Diese jungen Chinesinnen hatten ihn schon immer verrückt gemacht und nun hatte er die Gelegenheit. Seine Schläfen pochten. Willi hatte die letzten Minuten ununterbrochen von dieser einmaligen Gelegenheit gesprochen, die sich ihm auftat, wie ein Vertreter für Kühlschränke. Doch eigentlich brauchte er Manfred nun nicht mehr überzeugen. Er hatte Blut geleckt. Der Mensch ist eben immer noch Tier, dachte Manfred, immer noch erstaunt über sich selbst. Zum Teufel mit der Tugend, der Treue und der Gradlinigkeit. Er wollte leben. Apropos leben, da war doch noch was …
"Wie ist es mit Krankheiten? Sind die Mädchen auch alle gesund? Ich will mir nichts einfangen", Manfreds Stimme zitterte leicht vor Erregung.
Willi klopfte ihm leicht auf die Schulter. "Nein, nein, alles okay. Die Mädchen von Chuan sind in Ordnung", beruhigte er Manfred, "soll ich ihm Bescheid geben?"
Wieder plagte ihn kurz sein Gewissen, aber was hatte er schon zu verlieren. Julia war weit weg und Willi hielt sowieso dicht. Tja, und seine Kollegen? Die meisten hielten es genauso, wie er zu seiner Erleichterung erfuhr. Manfred war immer der biedere Typ gewesen, mit allem, was dazu gehörte und er hatte sich zuletzt tot gefühlt. Nun spürte er, wie wieder Leben durch seine Adern pulste. "Ja, sag Chuan Bescheid", hörte er sich sagen.
Seine Hände waren feucht und sein Herz klopfte, als er zum ersten Mal bei der jungen Chinesin anklingelte. Es hatte zwei Wochen gedauert, bis Chuan sich bei ihm gemeldet und das Treffen mit dem Mädchen arrangiert hatte. Heute war es soweit. Er solle sie "testen", hatte Chuan gesagt, wenn sie ihm gefiele, würde alles weitere besprochen.
Die Wohnung von Wen, so hieß sie, lag im fünften Stock einer Hochhaussiedlung, die fast ausschließlich von Konkubinen bewohnt war. Der Aufzug war ein ziemlich altes Gerät und schaukelte bedenklich, als er hochfuhr. Manfred merkte es nicht einmal, er war zu nervös. Endlich würde sein Traum wahr werden. Zwanzig Jahre sollte das Mädchen sein und bildschön, er war gespannt. Mit zitternden Händen klingelte er an ihrer Tür. Leichte Schritte kamen näher, dann öffnete sie. Manfred glaubte nicht, was er zu sehen bekam. Der Schreck saß tief in seinen Gliedern. Vor ihm stand ein blutjunges Mädchen in einem türkisfarbenen Minikleid, das nahezu alles offenbarte. Er taumelte leicht. Wen konnte unmöglich zwanzig sein, dachte er, sie war höchstens fünfzehn, wenn überhaupt. Er dachte an seine zwölfjährige Tochter. Wenige Jahre noch, dann wäre sie so alt wie dieses chinesische Mädchen, das sich für ein Dach über dem Kopf und ein wenig Taschengeld verkaufen musste. Ihm wurde schlecht. Seine Lust war schlagartig vergangen, Manfred fühlte sich nur noch beschämt, für sich selbst und seine Kollegen. Am liebsten wäre er fortgerannt, doch er blieb wie angewurzelt stehen. Erst als Wen ihn freundlich mit ihrer Kinderstimme herein bat, fand er seine Sinne wieder. Fluchtartig verließ er das Gebäude und rannte, bis er an seiner Wohnung angekommen war, immerhin fast fünf Kilometer. Keuchend und schwitzend warf er sich auf sein Bett und weinte, weinte so lange, bis keine Tränen mehr übrig waren, um seine Scham und seinen Kummer zu lindern. Dann erst stand sein Entschluss fest. Schleppend griff er zum Telefonhörer und wählte Willis Nummer. Seine Hände zitterten. Als er Willis Stimme hörte, unterdrückte er seinen Würgereiz und sagte nur knapp mit fester Stimme: "Sag Chuan, ich nehme die Kleine. Aber sie soll nur mir allein gehören, niemand anderes darf sie in diesem Jahr anfassen." Die anzügliche Antwort und das widerliche Lachen hörte Manfred nicht mehr. Er konnte das Mädchen zwar nicht für immer aus dem Elend befreien, aber in diesem Jahr würde sie niemand berühren, vor allem Manfred nicht.



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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