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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Alles verrutscht

© Mary Lange


Als ich gegen Mittag die Augen öffnete, sah ich einen ganz normalen Shit-Tag vor mir liegen. Immerhin lag neben mir niemand, meinem ängstlichen Blick nach rechts folgte ein befreites Aufatmen. Ich war nicht nur allein, sondern auch ziemlich okay, der Schädel leicht matschig, aber schmerzfrei.
Entschlossen huschte ich ins kalte Bad. Danach legte ich die "raketen" auf, baute mir einen Joint und zog ihn durch. So gestärkt begann ich mit "Feng Shui", also räumte die Bude auf, befreite sie von Müll und Krempel, und zwar so dermaßen, dass sie gegen 5 viel zu ordentlich, fast schon spießig aussah.
Doch es half nichts, ich musste los, "anschaffen" gehen, also kellnern, im "Würzhaus", einem kleinen, auf "rustikal" machenden Restaurant, in dem kleine, spießige Leute ihr kleines, langweiliges Leben mit delikaten Speisen oder exotischen Cocktails würzen können, wenn's ihnen zu fad wird und sie's mal hot and spicy mögen.
Etwa um sechs beginnt der Stress. Sind drei Tische besetzt, muss ich fast pausenlos rennen. An den Tischen 1 und 3 saßen jeweils Pärchen um die 50, an Tisch 4 zwei Frauen meines Alters. Die eine hatte braune Haare und die andere ebenfalls. Auch ihre Gesichter und Frisuren unterschieden sich kaum.
Also wählte ich die Farben ihrer Blusen, um sie auseinander zu halten: Eierschale und Olive. Eierschale und Olive waren vermutlich Freundinnen, die sich ein paar Tage oder Jahre nicht gesehen und sich bestimmt viel zu erzählen hatten, also kürte ich Tisch 4 zu meinem Lieblingstisch.
Die Zeit dehnt sich wie Gummi, wenn man arbeitet. Um mich fit zu halten, ziehe ich mir die Unterhaltungen anderer rein, wenn auch nur krümelweise. Da ich für die Gäste, wenn sie nicht gerade bestellen oder bezahlen wollen, sowieso nicht existiere, kreisel ich, sofern nichts anderes zu tun ist, geschäftig um meinen Lieblingstisch herum, wische die umliegenden Tische noch mal ab, rücke Stühle und Aschenbecher zurecht, tausche abgebrannte Kerzen gegen neue aus. Doch bei aller Emsigkeit, die auf meinen Chef übrigens einen guten Eindruck macht, halte ich meine Ohren gespitzt, um ja nichts zu verpassen.
"So bin ich halt eingestellt!", ruft die Eierschale kichernd und überzeugt mich damit sofort, dass Tisch 4 eine gute Wahl war. Die Eierschale sieht genauso aus, als hätte sie an Brust oder Rücken einen Schalter, den man so oder anders einstellen kann. Wie sie allerdings eingestellt ist, muss ich leider verpasst haben, als Tisch 1 endlich gewählt hatte und bestellen wollte. Aber jetzt bin ich wieder hier, und nur wenig später muss ich Schockierendes hören: "Ich verkaufe mich auch oft!" Was? Die Eierschale geht auch anschaffen? Diskret drehe ich mich um. Mit leidender Miene hält die einen grünen Fummel hoch, vermutlich frisch gekauft. Um auszudrücken, dass auch sie oft Fehlkäufe tätigt, sagt die Eierschale halt: "Ich verkaufe mich auch oft." Zurecht lacht da die Olive, die ich so gut wie nie verstehe, weil sie mindestens so stark nuschelt wie sie berlinert. Die Eierschale hingegen spricht Hochdeutsch, und zwar radikal, sie artikuliert sich so überdeutlich, als hätte die Olive einen Hörschaden oder würde kein Deutsch verstehen.
Vermute allerdings eher, dass die Eierschale immer so zwanghaft korrekt spricht und bin begeistert von ihrer naiven Exaltiertheit.
"Haben Sie schon gewählt?", frage ich, grotesk deutlich.
Während die Eierschale mit der Olive noch darüber diskutiert, ob sie statt der Kroketten lieber Reis zur Wachtel bestellen soll, gucke mir die Eierschale genauer an. Und muss gleich noch mal noch genauer hingucken.
Fuck, nur das nicht, flehe ich. Ich habe schon viel mit- und durchgemacht.
Heute nacht erst. Kam Tom plötzlich auf die Idee, mit mir einen Porno drehen zu wollen. Haben wir eben einen Porno gedreht. Oder wenn sich Taxi im Suff die Pulsadern aufschneidet, bleibe ich jedes Mal cool und verbinde ihn. Oder als ich mich mit Sanne um Lutz kloppte, bis die Polizei kam - das hat mich kein bisschen aufgeregt. Pornos, Pulsadern, Polizei, das ist alles gar nichts gegen den Schock, den Eierschales Anblick in mir auslöst. Mechanisch notiere ich die Bestellung, die mit diversen Extrawünschen gespickt ist, mache kehrt und düse in die Küche. Dort suche ich hastig meine Zigaretten und inhaliere so intensiv, als könnte ich mir die Erinnerungen aus dem Hirn pusten. Die Eierschale, wer hätte das gedacht. Ich kenne sie, sie ging in meine Klasse, war das klassische Mäuschen, grau, doof, fleißig. Wie hieß sie noch? Popeike. Also eigentlich Heike, doch wir nannten sie Heike Popeike, später nur noch Popeike. Der Name gefiel ihr nicht.
Popeike. Früher komplett unscheinbar, heute ebenfalls eher unauffällig, aber elegant. Nach der Schule hatte Popeike wohl den Jens aus der B geheiratet, mit dem sie später, natürlich aus beruflichen Gründen, in den Westen zog, nach Frankfurt oder wer weiß wohin. Wärst du doch in Düsseldorf geblieben, Popeike! Meine Welt wäre noch okay, nun liegt sie in Trümmern und mittendrin thront Madame Popeike, bestellt dies und das, und ich muss springen. Let's face it, Baby: Ich muss denen das Wasser reichen - oder Wein oder was immer sie wollen - die mir nicht das Wasser reichen können. Alles ist verrutscht.
Was soll ich machen? Abgeben kann ich den Tisch nicht, bin allein am Start.
Sie ignorieren? Oder lieber offensiv vorgehen? Hallo Heike, lange nich gesehn, allet schön und schick? Ah, toll! Na prima, das alles so gut läuft, da kann man sich schon mal die Wachtel an Schnickschnack für 25 Euro gönnen.
Stop! Möchte ich etwa mit Popeike tauschen?, frage ich mich entsetzt, aber ernsthaft. Nö. Wohl kaum. Aber ich möchte sie auch nicht bedienen, muss aber. Warum? Weil ich es so wollte: Permanent exzessiv leben, in besetzten Häusern und oder auf Jamaica, mit Freunden unterwegs sein, ständig auf der Flucht vor dem Spießerleben. Diesen Spirit würde Popeike nie kapieren, für die bin ich Kellnerin. That's it.
Tisch 2 will schon wieder was bestellen und Tisch 1 zahlen. Dann steht auch schon das Essen für Tisch 4 bereit. Wie in Trance durchquere ich mit den Tellern den Raum, stelle sie vorsichtig ab und wünsche leise "guten Appetit", um sofort kehrt zu machen.
"Entschuldigung", flötet Popeike hinter mir her. "Ich hatte doch statt der Kroketten Reis bestellt!"
Langsam drehe ich mich um, blicke in Popeikes blasse Augen, die plötzlich aufleuchten. "Daniela Schumann?"
Heftig schüttel' ich den Kopf. Schon ewig werde ich Ela genannt. Außerdem war ich ein paar Jahre mit Pedro, einem spanischen Schwulen, verheiratet.
"Ela Gonzalez", antworte ich stolz, und eile zurück zum Tisch, um Popeikes Teller zu holen.
"Ich bin's, Heike, Heike Schuster! Ich glaube, wir gingen zusammen in eine Klasse!"
Ach Heike, so ein Überraschung! müsste ich jetzt rufen, dazu lächeln und fragen wie's ihr geht, obwohl ich das gar nicht hören will. Es wäre cool, aber ich bin im Moment alles andere als das, bringe nur ein schmales "sorry" über die Lippen und verschwinde mit dem Teller in die Küche. Während die Wachtel auf einen neuen Teller neben den Reis, einer eher schlichten Sättigungsbeilage, geschoben wird, und die lecker aussehenden Kroketten im Schweinetrog landen, kommt mir die Idee. Ich werde Popeike ihre Wachtel mit der diesmal korrekten Beilage vor die Nase stellen und ihr dabei ins Ohr flüstern: "Tut mir leid, Popeike. Es ist eben alles verrutscht." Und dabei werde ich sie ansehen wie früher, als ich noch Danni, die Klassenbeste und vor allem die Klassenschönste war, die an jeder Hand fünf Typen hatte.
Gelingt mir dieser Blick, wird Popeike sich nicht mehr trauen, mir blöde Fragen zu stellen. Sie wird ihre Wachtel runterwürgen, mir ein - hoffentlich ordentliches - Trinkgeld geben und diesen Laden so schnell wie möglich verlassen. Und ich werde ich aufatmen. Aber nur kurz. Denn auch wenn Popeike endlich weg ist, wird sie in diesen Räumen ein flash back aus schalen Gefühlen hinterlassen, der auf mich wartet und mich an jedem verdammten Shit-Tag, an dem ich anschaffen gehe, aufs Neue heimsuchen wird.



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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