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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Synkope

© Leonie Christina Zabel


Wohlig läuft das Wasser an ihrem Körper hinab. Das stete Rauschen, regelmäßige Glucksen im Abfluss. Es prasselt, der Spiegel beschlägt. Sie dreht auf kalt, zittert eine halbe Minute und trocknet sich dann ab. Rücken, Arme, Beine, Füße, zuletzt Bauch. Heute ist Donnerstag, sie trägt die dunkle Hose mit der grauen Bluse. Nebenan in der Küche sprudelt das Wasser, sie gießt es in die Kanne, kleine Kräuterstücke lösen sich aus dem Filter und sinken zu Boden. Fünf Minuten muss sie warten, denn sie mag den Tee nicht zu heiß. Währenddessen schneidet sie Brot. Eine Scheibe, Butter und Aprikosenmarmelade. Nach dem Zähneputzen betrachtet sie ihr Gesicht. Sie kämmt sich, greift nach der Tasche und verlässt das Haus. Drei Minuten braucht sie zur Bushaltestelle und sie trifft die Frau mit dem Dackel, den alten Mann mit den vielen Zeitungen und den Postboten. "Guten Morgen", es sind freundliche Leute. Der Bus ist pünktlich und sie fährt bis zum Büro. Dass heißt, sie hat noch einen Fußweg von sieben Minuten, aber das Wetter ist gut. Es ist kalt und noch nicht ganz hell, aber es verspricht so zu werden wie gestern. Sie läuft Treppen, denn das tut ganz gut. Der Flur ist noch leer, aber die Kollegin sitzt schon am Schreibtisch. "Guten Morgen" - "Guten Morgen". Sie lässt die Tasche von der Schulter gleiten, zieht ihren Mantel aus. Der rechte Haken ist noch frei. Dann nimmt sie die Tasche und geht zu ihrem Schreibtisch. Die Briefe von heute liegen schon da, sie beginnt. Es ist ein großer Stapel und sie braucht lange. Sie muss antworten, nachlesen, nachschauen, schreiben. Es ist gut. Sie hat das Gefühl, als sei ihr dies niemals eintönig vorgekommen. Um halb eins geht sie in die Kantine. Der Salat ist hier immer sehr gut, damit geht man kein Risiko ein. Um eins macht sie weiter. Es ist eine halbe Stunde vor Schluss, als sie nach dem letzten Brief greift. Sie hält inne, stutzt. Er ist nicht an sie adressiert. Wie kommt er hierher? Der Absender schreibt an die Kollegin. Warum liegt der Brief auf ihrem Schreibtisch? Das ist ihr noch nie passiert. Was macht sie jetzt? Sie blickt neben sich. Die Kollegin telefoniert, jetzt hat sie aufgelegt und schreibt irgendetwas auf dem Computer. Sie schaut wieder auf den Brief. Nein, eindeutig nicht an sie, und doch lag er in ihrem Stapel. Sollte sie einfach hinübergehen und, ja, vielleicht wäre das das Klügste. Sie steht auf und bleibt einen Moment, bevor sie sich zögernd zu der Kollegin wendet. Die blickt kurz auf, lächelt und schreibt weiter. Soll sie jetzt? Sie kommt hinter dem Schreibtisch her, geht langsam. Die Kollegin schaut wieder auf. Jetzt! "Dieser Brief, hier ist ein Brief, meine ich, der ist" - "Oh", die Kollegin schaut auf die Schriftzüge in ihrer Hand, "ist der an mich adressiert? Da hat sich wohl jemand vertan" Sie lächelt, greift nach dem Brief, legt ihn neben sich und arbeitet weiter. Sie bleibt stehen. Unschlüssig. "Bist du schon fertig?" Die Kollegin schaut rüber auf ihren Schreibtisch. "Na dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend!" Es ist erst halb vier. Sie dreht sich um und kehrt zum Tisch zurück. Hier ist nichts mehr. Es ist noch keine Zeit und sie kann noch nicht gehen. Soll sie hier sitzen bleiben und warten? Sie setzt sich. Sie schielt zur Nachbarin. Die würde das nicht verstehen. Was soll sie auch hier noch? Warten und über sich wundern lassen? Oder - gehen? Sie steht auf. Bleibt. "Tschüss!" Die Kollegin lächelt freundlich. So, damit hat sie es entschieden, sie kann nicht bleiben. Dieses Wort der Nachbarin hat, sie geht zum Haken, zieht den Mantel an und hängt sich die Tasche über. "Tschüss." Draußen, im Flur. Sie schaut auf die Uhr. Da fällt ihr ein, dass der Bus erst um zwanzig nach vier fährt. Den nimmt sie immer. Was soll sie jetzt …? Sie geht, verlässt das Gebäude und geht zur Haltestelle. Sie versucht zu trödeln und ist trotzdem viel zu früh. Es ist kalt. Sollte sie vielleicht eine Haltestelle zu Fuß gehen? Ach nein, warum. Es ist kalt und sie hat Zeit. Aber sie fährt immer direkt nach Hause, wenn sie von der Arbeit kommt. Aber heute ist sie zu früh. Sie geht. Nach einigen Schritten spürt sie, wie Wärme durch ihren Körper fließt und das tut gut. Weiter vorne stehen viele Menschen. Sie muss sich einen Weg bahnen. Die Ampel ist rot. "Helfen Sie mir?" Sie erschrickt. Wer? "Bitte, ich kann mich nicht bücken, mein Portemonnaie ist mir runter gefallen!" Die alte Dame deutet auf den Boden. Sie bückt sich und reicht ihr die Geldbörse. "Danke sehr" "Ja" Sie zögert. "Bitte" Lächeln. Die Ampel ist grün. Auf der anderen Seite bleibt sie stehen und schaut der Dame nach. Langsam verschwindet sie im Gewühl. Sie steht und starrt. Irgendwie erinnert all das. Dieser Tag ist ein Tag, kein Donnerstag. Aber er erinnert, und deshalb will sie schnell zum Bus. "Junge Dame, nutzen auch Sie unseren Sonderverkauf! Nur noch heute, Qualität wie gewohnt, Preise auf fast alle Waren bis zu fünfzig Prozent reduziert!" Sie blickt in das Gesicht eines jungen Mannes, der mit Prospekten beladen ist und sie mit dennoch ausgebreiteten Armen zur Tür drängt. Mehr Leute. Die elektrische Tür öffnet sich. Musik schallt von innen und Stimmen. Sie will zum Bus und dreht sich. Tausend Farben lässt sie hinter sich? Sie dreht sich wieder. Geht, weiß nicht. Da ist sie schon im Haus. Gedrängt von Tisch zu Tisch. Sie schließt sich den anderen an. Es gibt ein Durcheinander, aber es gibt auch eine Richtung. Am Parfüm vorbei, Uhren, Schmuck, Schreibwaren. Männerkleidung. Was soll dieser Tag? Jeans und Hemden, es tut weh! Warum ist sie nicht im Bus! Es tut alles weh. Betrug, es hat nichts mit den Jeans zu tun, wenngleich … nein, die sieht sie öfter. Aber alles hier. "Oh wie schön!" Warum fährt sie jetzt Rolltreppe? Küchengeräte. Ich brauche nichts, warum bin ich hier? Hier sind mir zu viele Menschen, wo soll ich hin? Raus, zum Bus. Ich drehe mich. Ein Ausgangsschild, Gewühl. Warum kommst du mir heute immer in den Kopf? Was ist denn passiert, dass du auf einmal so sehr da bist, wie lange nicht mehr? Ich will raus. Gewühl, ich finde den Ausgang nicht. Da ist eine Rolltreppe. Sie fährt in die falsche Richtung. Eine Kasse. Fragen? Niemals. Geh aus meinem Kopf! Dort geht es nach unten. War hier nun das Erdgeschoss? Ich gehe noch eine Etage tiefer. Wieso kannst du heute meine Mauern durchdringen? Mir wird schwindelig und dabei bist du sonst nicht hier gewesen! Nein, ich bin falsch. Puppen, Spielwaren, hier war ich nicht. Ich werde mir zu Hause einen Tee kochen. Ach, was für ein Entschluss, ich koche mir immer einen Tee. Aber heute muss er mich beruhigen. Ich musste mich lange nicht mehr beruhigen. Ich bin im Keller. Wo geht es raus? Hier hoch, nein, dort hoch. Dann weiter. Der Ausgang. In dem Moment, als sie das Kaufhaus verlässt, geht der Alarm los. Ein Kind schreit und sie bleibt mitten auf der Schwelle stehen. Leute rennen. Es passiert nichts und sie steht. "Schalt doch einer die Scheiße ab!" Ein Baby weint. Die Glocke tönt. Da kommt ein Mann in Anzug. "Sie da, kommen Sie mal!" Sie steht. "Hallo!" Der Mann packt ihren Arm. "Ja". "Sie müssen mir ihre Taschen zeigen!" Oh Gott, geh aus meinem Kopf! Gerade dachte ich, doch der Anzug, die Stimme. "Warum muss ich Ihnen meine Taschen zeigen? Ich habe nichts getan! Lassen Sie mich los!" Ich schreie und nur weil alles um mich so leise ist, weiß ich, dass ich laut bin. Der Alarm und du bist im Alarm, du bist der Alarm. "Ich gehe in kein Büro!" "Es ist gut." Der Mann lässt mich los. "Ich war zu voreilig. Aber darf ich trotzdem schauen, was in der Tasche ist? Meine Pflicht." Sie öffnet die Tasche und lässt ihn hineinschauen. "Alles in Ordnung, Madame, es tut mir Leid. Einen schönen Abend." Sie geht nach draußen und spürt wie alle starren, aber das ist egal. Draußen schaut sie auf die Uhr und der Bus ist weg. Sie hat zu lange gebraucht. Das Suchen, die schrille Glocke. Und jetzt? Ewig wiederkehrende Frage. Der nächste Bus fährt in einer Dreiviertelstunde. Sie muss nichts einkaufen, das tut sie montags. Bist du wiedergekommen, weil ich etwas anders gemacht habe? Dann will ich zur Haltestelle gehen und in der Kälte warten, aber nicht etwas tun. Sie geht. Leuchtende Fenster. Ein Café. Sie trinkt immer einen Tee. Sie könnte sich in ein Café setzen, warten, bis der Bus kommt. Dort ist es nicht kalt, gemütlich. Sie schaut auf die aushängende Karte. "Viel zu teuer", sagt ein Mann und geht. Sie findet es auch zu teuer. Ja. Da kommt eine Schulklasse. "Was jetzt? Sie versperren den Weg!" Sie will zur Seite treten, aber die Kinder drängen. Und drinnen … sie ist drinnen. Dort in der Ecke ist ein einsamer Tisch. Sie setzt sich, legt die Tasche neben sich und hält den Griff fest umklammert. "Was darf es sein?" "Oh … haben Sie … ein Kakao, bitte." Die Bedienung geht. Spinne ich? Ein Kakao. Oh, wie kommst du hierher? Warum sitzt du plötzlich neben mir? Nein, ich will hier … Ich trinke einen Kakao. Ich bin allein. Ich denke. Fass nicht meine Hand! Ich gehe. Fort! Sie steht auf. Hastig greift sie den Mantel. Der Kellner schaut. Sie kann aber nicht. Ich gehe, geh nicht mit! Draußen ein Schwall kalter Luft. Der Kopf wird klarer. Ende. Es reicht. Über die Brücke zur Haltestelle. Meinetwegen frieren. Sie geht los. Autos rasen über die Brücke, so dass man das Wasser nicht rauschen hören kann. Sie geht schnellen Schrittes, dreht leicht den Kopf. Die Sonne geht unter. Das Wasser glänzt und hinter Allem liegt das Land in Schwärze. Sie bleibt stehen. Auf der Mitte der Brücke. Legt die Hände auf das Geländer. Ein längst vorbeigezogenes Schiff hat das Wasser so sehr aufgewühlt, dass es noch jetzt leise Wellen schlägt. Dabei sehe ich das Schiff nicht mehr. Es ist fort und das Wasser kräuselt sich leicht und färbt sich in der Sonne rot und orange. Das Schiff hat das Wasser nur gestreift, hat jeden Tropfen leicht berührt um dann zu entschwinden. Es hat die Wellen hinterlassen, ein Abbild seines Daseins. Vielleicht, so denke ich, ist es inzwischen aber auch der Wind, der das Wasser sanft bewegt.
Ich klettere und lasse los. Nein, es war nicht schwer. Oh, wie der Wind nun saust in meinen Ohren! Ich hätte nie gedacht … Ich breite die Arme. Romantisch könnte ich nun sagen: Ich komme zu dir. Jetzt werden wir uns wieder sehen. Ich folge dir auf deinem Weg. Das wäre nicht wahr. Ich springe nicht aus Verzweiflung, denn dann wäre ich schon viel früher, nach dem Wissen, gesprungen. Ich springe nicht aus Trauer, denn dann wäre ich an Heiligabend gesprungen, oder an deinem Geburtstag. Ich springe heute. Am Donnerstag, der ein Tag war.
Sonnenwasser! Heulender Wind, da, jetzt! Kälte? Es ist wie …



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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