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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gott-Sucher

© V. Groß


- Eine Warnung -
"Kannst du denn Urgrund Gottes denn erforschen,
bis zur Vollkommenheit Schaddais gelan-gen?
Höher als der Himmel - was willst du be-ginnen?
Tiefer als das Totenreich - was kannst du wissen?

(Ijob - 11,7/8)
Schäden waren geblieben.
Auch jetzt noch, zu einem Zeitpunkt also, an dem er das eigentliche Trauma längst verarbeitet hatte, den Weg durch die bleierne Hölle seelischer Qual bis zu Ende gegangen war: Gewisse Unwägbarkeiten im Umgang mit anderen Menschen; ein unbestimmtes, jedoch stets gegenwärtiges Misstrauen; eine von vorneherein pessimistische, negative Erwartungs-haltung den Dingen und der ganzen Welt gegen-über. Das aber war, und daran konnte sich Lukas noch genauestens erinnern, auch einmal anders gewesen. Vorher.
Vor der Gott-Krise.
Vor der Erkenntnis der Wahrheit.
Damals war er noch vollkommen unbeschwert gewesen, ja geradezu naiv in seinem kindlichen Vertrauen in die Welt, die Menschen und in das Leben an sich. Alles war einfach nur wunderschön gewesen, jeder Tag hatte ein weiteres, aufregendes Abenteuer versprochen, hatte mit immer neuen Überraschungen und Freuden aufgewartet. Die Anderen hatten ihm zu dieser Zeit noch allesamt als Brüder und Schwestern gegolten, Mitmenschen, die das aufregende Abenteuer des Lebens, welches vor ihnen allen lag, wie eine unerforschte, paradiesische Landschaft, mit ihm teilen würden; Wesen, mit denen man, wie selbstverständlich, Freude und Leid gemeinsam durchlebte, alle verschieden und doch auf eine gewisse, fundamentale Art und Weise gleich. Dunkle Wolken waren damals nur selten am Himmel über dieser Landschaft aufgezogen und hatten sich auch immer sehr rasch verzogen, um wieder dem gewohnten, ewig strahlenden Sonnenschein Platz zu machen.
Doch schleichend, heimtückisch, wie ein maskierter Dieb, der im Schutze von Dunkelheit und Schatten auf Beute aus ist, mehrten sich die Vorkommnisse, die Lukas in der Folge zunehmend bedrückt, verwirrt oder schlicht ratlos zurückließen. Eines Abends legten seine Eltern ihm zwei Prospekte vor, auf denen große Gebäude abgebildet waren. Sie sagten ihm, es handle sich um Internate, und er, Lukas, habe zu wählen. Erstmals spürte er in diesem Augenblick, wie das Grollen eines noch weit entfernten Gewitters, dass die Welt, wie sie ihm bis zu diesem Zeitpunkt erschienen war, so einheitlich und behütet, einen Riss bekommen, sich teilen, zersplittern, auseinander brechen würde und nicht, wie erwartet, von zeitloser Dauer war; eine Tatsache, mit dem er einfach nicht gerechnet hatte in dieser Zeit, in der jegliches rechnen, jedes berechnen noch vollkommen außerhalb jeder lebenstechnischen Notwendigkeit gestanden hatte.
Er entschied sich an jenem Abend für ein Prospekt, dessen Abbildungen ein großes Gebäude inmitten einer weiten Waldlandschaft zeigten. Ganz einfach weil es ihm am besten gefiel und ohne weiter darüber nachzudenken. Alle waren zufrieden und Lukas vergaß diesen folgenschweren Augenblick, dessen tatsächliche Konsequenzen er nicht im Mindesten abzuschätzen gewusst hatte.
Ein halbes Jahr später fand er sich zutiefst verschüchtert, verzweifelt und ängstlich, an einem Fenster stehend wieder, während draußen, es war bereits dunkel, seine Eltern in den Wagen stiegen und davonfuhren, um ihn alleine an einem fremden, kalten Ort zurückzulassen.
Was folgte, war, mit einem Wort, das Lukas heute, über zwanzig Jahre später, immer wieder dafür benutzte, nichts anderes, als eine "Gehirnwäsche", ein subtiles Suggerieren von Werten, Gedanken, Weltsicht, oder, noch deutlicher, ein über alle Maßen perfides Spiel mit der naiven und verletzlichen Unschuld einer kindlichen Seele. Ihm wurde, wie er erst Jahre später begriff, die "Ehre" einer streng christlich-missionaren, einer jesuitischen Erziehung zuteil. Er lebte von nun an in einem hermetisch abgeschlossenen Mikrokosmos aus plakativen, schöngeistigen Parolen, die ihm eine Welt vorgaukelten, die nirgendwo außerhalb der Mauern seiner Schule existierte; eine Welt, in der die beständig dargebotenen, fatalistisch-religiösen Weisheiten und Sinnsprüche auch tatsächlich zu funktionieren schienen, jedoch einzig nur, da sie ja stets von wachen, auf ideologische Konformität ausgerichteten Augen aufs sorgsamste bewahrt und aufrechterhalten wurden. Man fütterte ihn mit den fauligen Früchten christlich-missionarischen Eifers, dem drücken-den Bewusstsein höherer Weihen und unentrinnba-rer, schicksalhafter Prädestination. Niemand aber verlor in diesen langen Jahren auch nur ein einziges Wort darüber, wie die Welt, wie das Leben wirklich funktionierte, wie grausam und selbstsüchtig die Menschen waren und worauf es ankam, wenn man denn in der Realität bestehen wollte.
"Gott schützt dich! Er lässt dich nicht fallen!", so hall-te es durch die Räume und Linoleumflure des Inter-natsgebäudes, so stand es auf unzähligen, romanti-sierenden Wandbildern überall um ihn herum. Dass aber Gott dort draußen in der Welt nicht vorhanden ist, sondern nur ein moralisch-geistiges Konstrukt darstellte, von Menschen selbst erschaffen, das hat-te ihm niemand gesagt und er erfuhr es erst viel später.
Nach dem Abitur, mit 18 Jahren, verließ er das In-ternat und geriet fast augenblicklich in einen Strudel aus Lüge, Verführung und Verderben, auf den ihn niemand vorbereitet hatte und der ihn, vielleicht we-gen des Kontrastes zur heilen Welt seiner Erzie-hungsjahre, irgendwie faszinierte, ihn anzog, wie der ausgestreute Zucker die Biene. Er hielt sich wa-cker, kein Zweifel: Im Bewusstsein der ihm einge-pflanzten Lehren war er inmitten von vermeintlichem Unwissen, von Orientierungs- und Sinnlosigkeit, ein fester Punkt optimistischer, gesunder Weltsicht, hilfsbereit und immer Willens zu verzeihen, wegzu-stecken, was ihm an Beleidigungen und Missetaten zugefügt wurde.
Aber je weiter man sich von der Quelle des Lichts entfernt, umso dunkler wird es nun mal, und je län-ger man geht, umso mehr schwinden die Kräfte. Er begann sich Fragen zu stellen; Fragen, die im Zuge seiner Internatsjahre nicht gestellt worden waren, nicht hatten gestellt werden dürfen oder die, wenn sie denn, zum Entsetzen aller, doch einmal auf-tauchten, mit den immergleichen, erhebenden Phra-sen abgetan worden waren.
"Liebe deinen Nächsten!", oder, noch schlimmer, "Liebet eure Feinde!".
Und so ergab es sich, dass Lukas dort eisern aus-harrte, wo er hätte das Weite suchen müssen, und sich zu genau den Menschen hingezogen fühlte, die er hätte meiden sollen. Er hielt aus und steckte ein und hielt aus und stand wie ein Turm in der Schlacht, immer dem ihm eingetrichterten Glauben anhängend, dass er das richtige Tat, und dass Gott ihn schützen, ihm beistehen, ja ihn irgendwann ein-mal sogar für sein märtyrerhaftes Verhalten beloh-nen würde
Die Zeit verging und Lukas geriet mehr und mehr in Bedrängnis. Immer öfter betete er nun um Beistand, um Hilfe. Und immer öfter erschien es ihm, als er-hielte er keine Antwort auf sein Bitten. Er fühlte sich verlassen. Sein logischer Verstand legte ihm nahe, dass, wenn er nun keinen Beistand mehr erhielt, er folglich etwas falsch machen musste, sich falsch verhielt, womöglich selbst ein schlechter Mensch sei, denn noch war er nicht in der Lage die Moralität seiner Erziehung oder gar die Existenz Gottes selbst in Zweifel zu ziehen. So gab es nur diesen einen Ausweg: Die Schuld lag bei ihm, er war nicht gut.
Da der Gott seiner Kindheit und Jugend offensichtlich jedes Interesse an ihm verloren hatte, begab er sich in der Folge auf die Suche. Diese Suche galt irgendeiner Instanz, die ihm seine Fragen womög-lich würde beantworten können, die ihm helfen würde zu bestehen inmitten des verwirrenden Chaos auf das man ihn nicht vorbereitet hatte, in das er hineingeworfen worden war, wie ein Opferlamm, das nicht versteht und nicht weiß. Es wurde eine lange, haltlose und getriebene, manchmal auch eks-tatische Suche. Wie ein irregeleiteter, halbwahnsinniger Alchimist in den rußgeschwärzten, fackelbeleuchteten Gewölben seines unterirdischen Labors, manisch auf der Suche nach dem Stein der Weisen, dem Lebenselixier, rührte er die ätzenden Ingredenzien eines tödlichen Erkenntniscocktails zusammen. Er nahm ausreichend Philosophie, eine große Portion Mystik und Tiefenpsychologie, Theologie aller Rassen und Völker, und fand doch nichts von dem, was er zu suchen sich aufgemacht hatte; fand kei-nen Halt, keine Sicherheit, keine zuverlässige Erklä-rung oder wirklich haltbare Basis für seine Existenz. Aberdutzende von Systemen machte er sich zu ei-gen, schlüpfte wie ein Chamäleon in deren Welt-sichten … wurde Buddhist, Existentialist, dazwi-schen immer wieder, seinen Gott innig um Verzei-hung anflehend, Christ, wurde Wissenschaftler, Empirist, Rationalist Nihilist, Antichrist … Bekenner, Leugner, Opferlamm, und verstieg sich zuletzt gar in den trügerischen, falschen Glanz dunkler, magisch-okkulter und kabbalistischer, Lehren.
So verlor er, indem er alles zu gewinnen trachtete, sich selbst, entfernte sich mehr und mehr von sich und von der immer schon gegebenen Einfachheit des bloßen Daseins.
Schließlich brach er zusammen.
Er war den Weg der Mystik gegangen, hatte sein Selbst, sein "Ich" überwunden und nichts gefunden außer vielleicht dem Nichts selbst. Aber er hatte unendlich viel verloren, sich selbst, seine Unbe-schwertheit, seinen Glauben, seine Hoffnungen, seine Liebe, seine Zukunft, sein unbefangenes Le-ben im Umgang mit anderen Menschen, denen sein innerer Kampf immer verschlossen geblieben war, und die ihn zuletzt nicht mehr verstanden, wenn er zu ihnen sprach. Alles um nichts, um Relativität, um ein bisschen feste Materie, derer man sich sicher sein konnte und dem deutlichen Bewusstsein der Notwendigkeit einer strikten Trennung zwischen Glauben und Wissen.
Natürlich, das musste man eingestehen, verfügte er jetzt, wiederum Jahre später, nachdem die Wogen sich geglättet hatten, immer noch über ein recht an-sehnliches Wissen. Aber nach wie vor musste er behutsam vorgehen, wenn er sich auf irgendetwas einließ. Seine Fähigkeit, vorbehaltlos, voller Begeis-terung auf etwas einzusteigen, war für immer dahin. Er trug den Fluch der Passivität, der absoluten De-fensive, der Isolation mit sich, wie ein Stigma der Verdammnis.
Lukas saß über den Aufzeichnungen, die er wäh-rend seiner Suche stets mit größter Sorgfalt geführt hatte und wusste nicht mehr, was er sagen sollte angesichts der frappierenden Sinnlosigkeit seines damaligen Verhaltens. Wie mühsam war der Weg zurück gewesen, das zähe Ringen um die Wieder-gewinnung eines Selbst, eines "Ich-Punktes", den er sich zuvor ja mit Gewalt ausgetrieben hatte.
Irgendwie war doch alles nur eine Lüge: die Heils-versprechen, das angeblich so wertvolle, geheime Wissen der Jahrtausende, all die Götter …
Lukas legte die zu einem Bündel wertlosem Papier gebundenen Aufzeichnungen zurück in die Schatul-le, zog den kleinen goldenen Schlüssel, den er, nur für alle Fälle, immer an einer Kette um den Hals trug hervor, steckte ihn ins Schloss und drehte um,
… schloss ab.
Und Gott?
Nun, Gott war ihm egal geworden. Er spielte einfach keine Rolle mehr. Lukas dachte einfach nicht mehr über ihn nach.
Es war sinnlos.
Was im Leben zählte war eine gesicherte, materielle Basis der Existenz
… nicht mehr, aber auch nicht weniger.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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