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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Pünktchen

© Doris Weber


Sie erwachte. Noch bevor sie Licht wahrnahm, spürte sie bereit wieder diese Traurigkeit. Jedes Hoffen war nun vorbei und so oft ihr der Verstand auch sagte, es ging nicht anders, so oft legte ihr das Gefühl eine Klammer ums Herz.
Dieses Mal sah doch alles so gut aus! Erst der gute Blutbefund und dann blieb auch tatsächlich die Periode aus. Nun noch ein bisschen abwarten mit Hoffnung und Angst. Würden sie das Kind diesmal behalten können? "Alles in allem, Blutuntersuchung, Ultraschall, sie sind schön schwanger!", hörten sie die Worte der Ärztin bei der ersten Untersuchung nach der Insemination. Freude ja, aber Glücksgefühl wollten sich noch nicht so richtig einstellen. Nach weiteren vierzehn Tagen kam etwas Gelassenheit. War doch beim ersten Mal in dieser Schwangerschaftswoche bereits alles vorbei gewesen. Dann die zweite Untersuchung und sie konnten es sehen. Ein winziger schwarzer Punkt zwar nur, aber ihr Baby.
Das ist nun alles vier Wochen her und sie liegt im Aufwachraum der Frauenklinik um ihr zweites Baby, Pünktchen, zu beweinen. Ein Pfleger kommt mit einem feuchtwarmen Tuch und wischt ihr behutsam über das Gesicht. "Weinen Sie nur, das steht Ihnen zu!", sagt er. Er ist noch so jung, könnte fast ihr eigener Sohn sein, und doch wirkt er verständnisvoll und beruhigend auf sie. Sie selbst, Krankenschwester, war auch immer stark, verstand die Leiden und Krankheitsverläufe der Patienten. Sie versuchte immer ein gesundes Verhältnis zu finden zwischen Mitleid, Toleranz, Verständnis aber auch Distanz. Aber es ist alles so anders, wenn man selbst Patient ist. "Wir fahren Sie jetzt wieder zurück in Ihr Zimmer", hört sie eine Schwester sagen. Der Pfleger drückt ihr die Hand und sagt: "Irgendwie geht es auch jetzt wieder weiter!" Hat er das wirklich gesagt? Oder waren es bereits ihre eigenen Gedanken? Sie versucht einen klaren Kopf zu bekommen. Ja, das Leben geht schon weiter, aber was wird nun mit ihrem Kinderwunsch? Ihre Gedanken schweifen zurück.
Sie hatten es gesehen, ihr Pünktchen. So hatten sie es von Anfang an genannt. Sie versuchte es diesmal gelassen zu nehmen. Er verhielt sich zurückhaltend, überraschte sie aber öfter mit kleinen Aufmerksamkeiten. Der Grund ihres Glückes wurde nur wenig erörtert. Wozu sollten sie auch darüber reden. Es war einfach so und so war es schön. Ein paar Wochen lang, waren sie ein wenig glücklich. Dann erfolgte die dritte Ultraschalluntersuchung. Die Ärztin brauchte sehr lange und wirkte sehr angespannt. "Es müsste bereits viel größer sein!", war die Erklärung. Sie spürte noch immer diesen eiskalten Schauer, der durch ihren Körper lief und das Gefühl von Trotz, welches sie sofort ergriff. Die Ärztin musste sich irren, denn sie selbst konnte auf dem Ultraschallbildschirm sehen, dass ihr kleines Pünktchen gewachsen war! Die Ärztin zeigte ihnen das Ultraschallbild. Der Fruchtsack war gewachsen, Pünktchen aber war klein geblieben. Es blieb ihnen noch eine Woche zum Abwarten, welche die Ärztin für angemessen hielt. Eine Woche voller Hoffen und Bangen. Sie hatte jetzt manchmal das Gefühl, die Luft welche sie atmete war so dünn, dass sie nicht ausreichte um ihr Kraft zu geben. Weinen wollte sie nicht, denn noch hatten sie ja diese kleine Hoffnung! Er wollte nicht darüber reden und versuchte sich selbst zu beschwichtigen. Dabei hatte er furchtbare Angst um Pünktchen, aber auch um sie. Denn er wusste noch von der letzten Fehlgeburt, wie schwer sie sich damit getan hatte. Auch um sich war er traurig, denn seine Hoffnung Vater zu werden, wäre dann vielleicht für immer dahin. Am Wochenende vor der nächsten Untersuchung machten sie ausgedehnte Spaziergänge, redeten über dies und das, aber nicht über die Dinge, die vielleicht am nächsten Tag auf sie zukommen könnten. Der Montag war der sechste Dezember, Nikolaustag. Es war eigentlich der Tag wo man schon früh ein liebes Geschenk im Schuh findet. Der Winter hatte sich gerade wieder verabschiedet und die Morgensonne verschlang den letzten Rest vom Schnee. Es war tatsächlich bis dahin ein ganz freundlicher Tag. Um vierzehn Uhr war der Termin, der ihnen Gewissheit bringen sollte. Und nun hätte die Sonne scheinen können, sie hätten es nicht mehr wahrgenommen. Für sie war es wie finstere Nacht ohne Sterne am Himmel. Sie hatten es wieder verloren, ein Pünktchen nur, aber für sie viel mehr.
Sie klingelt nach der Schwester, weil sie noch bevor er sie abholen kommen würde, einen Blick in den Spiegel werfen will. Er soll Ihre Tränenspuren nicht sehen. Er soll nicht gleich damit konfrontiert werden. Sie würden noch genügend Zeit damit verbringen, gemeinsam traurig zu sein. Das Aufstehen geht gut, der Blick in den Spiegel weniger. Sich zu verstellen ist eben nicht ihr Ding. Die Schwester ist sehr zurückhaltend. Sie will sich nicht auf eine weitere Unannehmlichkeit mit der Patientin einlassen. Als sie nämlich am Vormittag ankam und sich bei dieser Schwester meldete, erklärte die ihr, dass sie, da ihr Aufenthalt ja nur auf einige Stunden begrenzt sei, in ein Zusatzbett in einem Zimmer gelegt werde. Damit hatte sie kein Problem. Ihre Gedanken waren nur dabei, das alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. In ihr war alles leer und eine seltsame Ruhe hatte sie ergriffen. Dann aber wurde sie in ein Zimmer geführt, in dem drei Frauen gerade auf den Betten saßen und ihre neugeborenen Babys stillten. In ihr löste sich eine Explosion des Schmerzes und sie begann zu schreien: " Nein, das lasse ich nicht mit mir machen!" Das große Glück, was sie erhofft und nun verloren hatten, hielten diese drei Frauen in ihren Armen. Die Schwester begriff wohl erst in diesem Moment das Ausmaß des Geschehens und versprach sofort eine andere Lösung zu finden. Sie führte sie behutsam aus dem Zimmer. Draußen auf dem Gang der Station nahm er sie in seine Arme und langsam konnte sie sich wieder etwas beruhigen. Nun, da die gleiche Schwester ihr beim Aufstehen behilflich war, erinnerte sie sich wieder. Sie schämte sich kein bisschen für ihren Gefühlsausbruch. Eine Stunde später war er da nahm sie in seine Arme und weinte.
Sie wussten, es würde eine schwere Zeit für sie werden, aber sie waren sich auch klar darüber, dass sie sich durch diese Not noch viel näher gekommen waren. "Irgendwie geht es auch ab jetzt wieder weiter!", hatte der junge OP-Pfleger gesagt und er hatte Recht damit. Es dauerte einige Monate, bis das Leben wieder schön wurde, bis die schmerzliche Erinnerung ein wenig verblasste. Und noch Jahre danach denken sie an ihr Pünktchen. Manchmal rechnen sie sich aus, wie alt ihr kleines Mädchen jetzt wäre. Denn laut genetischer Untersuchung wäre es ein gesundes Mädchen geworden. Untersuchungen hatte aber auch ein Rätsel gelöst. Sie sind sich ähnlich, wie es nur nahe Verwandte sind. Die Natur hat für solche seltsamen Sachen immer einen Notfallmechanismus parat. Das war ihnen passiert. Sie starteten sie noch weitere Versuche. Sie ließ sich auf Anraten der Ärzte sogar mit Körperzellen von ihm immunisieren. Das wurde ein voller Erfolg. Für zwei Jahre war die Möglichkeit geschaffen, ein Kind auszutragen.
Es glückte nicht wieder.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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