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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Freundschaft

© Sören Prescher


Es war Anfang letzter Woche, als mir mein Freund Marc Peterson etwas schier Unglaubliches erzählte. Ich weiß es noch, als wären nur wenige Minuten seit unserem Gespräch vergangen. Aber wahrscheinlich werde ich seine Worte auch noch in zehn Jahren im Ohr haben. Denn nicht jeden Tag bekommt man zu hören, dass man ohne seinen besten Freund bereits tot wäre.
Wir hatten uns an diesem Spätnachmittag in meiner Küche zu einem leckeren Earl Grey eingefunden, nachdem wir uns in den letzten Wochen kaum gesehen hatten. Zunächst unterhielten wir uns über meine Freundin und über unsere Arbeit, doch schon bald wurde dies zur Nebensache. Schon von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass Marc etwas auf der Seele brannte. Aber ich wollte ihn nicht drängen, sondern abwarten, bis er selbst mit der Sprache herausrückte.
"Also gut", sagte er schließlich. Ich hatte gerade mein Teeglas angesetzt, als er zu erzählen begann. "Das Ganze klingt wirklich sehr merkwürdig, aber ich schwöre dir, dass es die volle Wahrheit ist."
Marc holte tief Luft und runzelte sorgenvoll die Stirn.
"Ohne mich wärst du schon lange tot."
Vor Schreck verschluckte ich mich an meinem Tee und stellte das Glas hustend auf den Tisch zurück. Ich wusste, dass Marc kein Freund von dummen Scherzen war und über so etwas wie den Tod keine Witze reißen würde. Dennoch fiel es mir aus gut nachvollziehbaren Gründen schwer, ihm zu glauben.
"Wie meinst du das?"
Der Blick meines Freundes wurde noch düsterer.
"Erinnerst du dich noch an den einen Freitagabend vor knapp fünf Jahren, als du zum Judo wolltest und ich dich nicht habe gehen lassen?"
"Oh ja", stimmte ich zu. Obwohl dieser Abend schon ewig zurück lag, war er mir noch gut in Erinnerung geblieben. Ich war damals schon spät dran gewesen, als es plötzlich an der Haustür geklingelt hatte. Kurz überlegte ich, das Klingeln einfach zu ignorieren. All meine Freunde wussten, dass ich um diese Zeit immer zum Kampfsport ging. Von ihnen würde mich also nur jemand stören, wenn es wirklich wichtig war.
Deshalb war ich auch überrascht, als ich meinen besten Freund vor der Wohnungstür erblickte. Er hatte ein puterrotes Gesicht, schnaufte wie nach einem Dauerlauf und wartete gar nicht erst ab, bis ich ihn hinein bat. Hinzu kam, dass er irgendwie anders älter aussah und sich auch seine Kleidung sehr von der unterschied, die er normalerweise trug.
"Mehre Stunden lang habe ich dich nicht gehen lassen", fuhr Marc fort, "und habe dir von allen möglichen Dingen erzählt, die mir gerade durch den Kopf gingen. Ich habe so getan, als wäre alles sehr wichtig. Im Grunde genommen war es das auch. Aber es ging mir gar nicht um das, worüber wir uns unterhielten. Wichtig war nur, dass du nicht zum Judo gehen konntest. Wenn ich versagt hätte, könntest du jetzt nicht hier sitzen und mit mir Tee trinken. Dann würdest du nämlich jetzt nicht mehr leben."
Als ich das hörte, schluckte ich hart. Ich wusste nicht, was ich von seinem Geständnis halten, geschweige denn darauf erwidern sollte. Aus diesem Grund zog ich es vor, einfach zu schweigen.
"Wenn du nach draußen gegangen und auf dein Fahrrad gestiegen wärst, hättest du nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter dich bringen können. An der großen Kreuzung, noch bevor du auch nur in die Nähe der Turnhalle gekommen wärst, wäre ein schwarzer Mercedes aus einer Seitenstraße herausgeschossen gekommen und hätte dich von der Seite gerammt. Das Ganze wäre so schnell abgelaufen, dass du nicht einmal registriert hättest, was überhaupt mit dir geschieht. Der Aufprall hätte dich mehrere Meter weit geschleudert und du wärst mit dem Hinterkopf hart auf den Asphalt aufgekommen. Die Folge davon wären irreparable Kopfverletzungen und mehrere gebrochene Halswirbel gewesen. Noch bevor der Typ aus dem Mercedes auch nur den Notarzt hätte anrufen können, wärst du bereits gestorben."
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und mein Mund war schrecklich trocken. Marc war es wirklich gelungen, mir Angst einzujagen.
"Du hattest nicht die geringste Chance.", sagte er traurig und rieb sich die Augen. "Alles geschah so schnell, dass du keine Möglichkeit hattest, irgendwas dagegen zu tun. Der Schock über deinen Tod war sehr groß. Deine Eltern waren seit diesem Tag nie wieder dieselben und auch bei deinen Freunden hinterließ es Folgen. In mir zum Beispiel herrschte lange Zeit eine große Leere. Mir war vieles gleichgültig und ich machte mir keine großen Gedanken mehr über mein Leben. Dein plötzliches Sterben hatte mich auf einen Schlag total verändert und ich wünschte mir nichts mehr, als dass ich das Unglück rückgängig machen könnte.
Und nun kommt der wirklich phantastische Teil der Geschichte. Würde mir jemand so etwas erzählen, ich wüsste nicht, ob ich ihm glauben würde. Eines Tages kam ein grauhaariger Mann in einem maßgeschneiderten Anzug auf mich zu und erzählte mir, dass er mir helfen konnte und auch genau wüsste, was mir fehlte. Obwohl der Alte ein sehr seltsamer Kauz war, vertraute ich ihm. Er hatte eine Art an sich, die mich einfach nicht an seinen Worten zweifeln ließ. Er führte mich in eine heruntergekommene Seitenstraße voller Abfall und Geröll. Es stank bestialisch nach Fisch und unter einem Berg aus Pappe hörte ich etwas rascheln.
Der Alte sagte mir, dass er mich zurückschicken könnte. Zurück zu dem Tag, wo alles passiert ist, damit ich korrigieren konnte, was damals falsch gelaufen war. Nun bekam ich doch Zweifel und wollte den Greis mit seinen verrückten Ideen allein lassen. Doch er hielt meinen Arm fest und beteuerte, dass dies kein Witz sei und er es wirklich ernst meinte. Ich schaute ihm tief in die Augen und erstaunlicherweise glaubte ich ihm auch jetzt jedes Wort. Was soll's, dachte ich mir. Viel zu verlieren hatte ich ohnehin nicht mehr.
Er führte mich in eine alte Lagerhalle am Rande der Stadt, irgendwo im Industrieviertel. Von außen sah das Gebäude wie ein abrissfälliges Haus aus, doch von innen war es ein High-Tech-Wunderwerk wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Überall standen Computer und seltsame technische Apparate. Männer liefen in weißen Kitteln umher und machten einen sehr beschäftigten Eindruck. Alles wirkte sehr steril.
"Das ist nur das Labor", sagte der Alte, als er meine Verwirrung bemerkte. Ich folgte ihm in eine bläulich leuchtende Kammer, in der eine Reihe klobiger, Maschinen standen, die allesamt monoton brummten. Seltsame Röhren und Spulen hingen von der Decke hinab und wiesen alle auf eine rundliche Kapsel in der Mitte.
Das war die Zeitmaschine, teilte mir der Alte mit ernstem Blick mit und klärte mich über gewisse Regeln auf, die ich zu befolgen hatte. Außer dem Unfall durfte ich keine anderen Dinge beeinflussen, ansonst könnte er mich nicht mehr in die Gegenwart zurückholen.
Nachdem er mir alles erklärt hatte, stieg ich in die rundliche Kapsel am Ende des Raums. Die Spulen begannen sich aufzuladen und meine Gedanken fingen an, sich zu überschlagen. Zu viel passierte auf einmal. Alles drehte sich um mich herum. Grelle Lichter schossen in atemberaubender Geschwindigkeit an mir vorbei. Plötzlich legte sich ein unglaublicher Druck auf meine Ohren. Ich hatte das Gefühl, gleich würden meine Trommelfelle zerplatzen. Ich war der Ohnmacht nahe. Eine seltsame Trägheit erfasste mich und ich schloss für einen Moment meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, fand ich mich in der Vergangenheit wieder. Genau wie der Alte es gesagt hatte.
Es war genau der Tag, an dem der schreckliche Unfall passiert war. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass du in Kürze in Richtung Turnhalle aufbrechen würdest. Und wenn ich das zuließ, würde alles umsonst gewesen sein.
Dazu wollte ich es keinesfalls kommen lassen. Ich rannte so schnell ich konnte und war überrascht, wie gut ich mich in der Gegend noch auskannte. Und das obwohl ich jahrelang nicht hier gewesen war.
Völlig außer Atem erreichte ich euer Haus und stellte erleichtert fest, dass dein Fahrrad noch draußen stand. Du warst also noch daheim und nicht auf dem Weg in dein Verderben. Ich eilte die Treppen zu eurer Haustür hinauf und klingelte. Den Rest der Geschichte kennst du."
Als er endete, starrte ich ihn ungläubig an und suchte nach Worten.
"Ich weiß, wie verrückt das in deinen Ohren klingen muss, aber es ist die Wahrheit. Nicht ein einziges Wort davon ist erfunden."
"Aber es ist trotzdem schwer zu glauben."
Marc nickte und schaute mich fragend an. Er erwartete von mir eine Bestätigung oder Zustimmung. Auf jeden Fall irgendeine Reaktion. Doch ich war mir noch immer nicht sicher, was ich von alledem halten sollte.
Ich wünschte, er hätte irgendwelche Beweise für seine Behauptung. Doch so etwas gab es offenbar nicht. Er konnte mir schließlich nicht nachweisen, dass ich hätte tot sein können. Nach kurzem Überlegen fiel mir aber doch etwas ein, das möglicherweise die Wahrheit beweisen konnte. Die Lagerhalle, schoss es mir durch den Kopf. Die Lagerhalle, von der aus Marc in die Vergangenheit gereist war. Wenn wir sie fanden, würde ich wissen, was ich von der ganzen Sache halten sollte.
"Weißt du noch, wo sich diese Lagerhalle befand?"
Er rollte nachdenklich mit den Augen.
"Ich glaub schon", sagte er einen Augenblick später. "Irgendwo in der Nähe der Howard Street."
"Dann lass uns dorthin fahren. Danach wissen wir vielleicht mehr."
Eine Stunde später hielt mein alter Ford im Industriegebiet vor einem heruntergekommenen Gebäude, das in meinen Augen mehr Ähnlichkeit mit einer baufälligen Scheune, als einem High-Tech-Labor besaß.
"Das ist sie", rief Marc aufgeregt und zeigte auf die heruntergekommene Lagerhalle. Nun gab es für mich kein Halten mehr. Ich riss die Wagentür auf und sprang hinaus.
Ein säuerlicher Geruch erfüllte die Luft und ich musste an die Dinge denken, die ich neulich in der Zeitung über diese Gegend gelesen hatte. Doch auch das konnte mich nicht davon abhalten, die Laderampe hinaufzueilen. Marc folgte mir.
Der Eingang bestand aus einer hölzernen Schiebetür, von der bereits die Farbe abblätterte. Die Türgriffe waren verrostet und schienen schon seit Jahren nicht benutzt worden zu sein. Meine Befürchtung, die Tür könnte verschlossen sein, erfüllte sich Gott sei dank nicht. Zu meiner Überraschung ließen sie sich sogar problemlos öffnen. Lediglich ein rostiges Quietschen war zu hören.
Im Inneren der Halle war es dunkel. Nur durch die milchigen Fensterscheiben und die Ritzen in den brüchigen Holzwänden drang Licht hinein. Es war nicht viel, aber es genügte, um zu sehen, was sich hier befand.
Absolut nichts erinnerte an das, was mein Freund beschrieben hatte. Die Lagerhalle war weder steril, noch voller Computer. Auch die beschäftigt aussehenden Männer in weißen Kitteln waren nirgendwo zu sehen. Außer einem staubigen Zementboden mit allerlei undefinierbarem Geröll war überhaupt nichts zu sehen.
"Ich versteh das nicht", sagte Marc und schaute sich irritiert um.
"Vielleicht ist es die falsche Halle", überlegte ich laut, aber davon wollte Marc nichts wissen.
"Nein, wir sind hier richtig. Ich selbst bin hier entlanggelaufen und habe die Computer und technischen Geräte bestaunt. Irgendwas hat sich verändert."
Wir betraten sogar den Raum, in dem sich die Zeitmaschine befunden haben sollte. Aber auch dort war alles leer und verlassen. Es gab kein Anzeichen dafür, dass in den letzten Jahren irgendetwas hier gewesen war.
Ich habe noch immer keine Ahnung, was ich von Marcs Geständnis halten soll. Mein bester Freund hat mich noch nie belogen und ich glaubte auch nicht, dass er es diesmal getan hat. Anderseits gibt es keinen einzigen Beweis für seine unglaubliche Geschichte.
Vielleicht werde ich gelegentlich an der Howard Street vorbeifahren und mich umsehen. Möglicherweise wird sich das geheime Labor irgendwann hier befinden. Bis dahin kann ich nichts anderes tun, als abzuwarten. An meiner Beziehung zu Marc wird diese Sache nichts ändern. Wir waren vorher die besten Freunde und werden es auch in Zukunft bleiben.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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