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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Liebe

© Monika Dlugosch


Er fragt nicht. Nein, niemals würde er fragen. Er trägt keine Frage auf der Zunge, die nicht gespalten ist. Er schaut. Er schaut sie an und wechselt die Farbe seiner Augen. Aus dem hellen Grün wird ein klares Blau. Er antwortet ihr nicht. Nein. Es ist, als habe er die Frage nicht gehört. Es ist, als höre er niemals irgendwelche Fragen. Er legt seine Hand auf ihre Schulter. Gebogen ist die Schulter, vielleicht zurechtgebogen. Er spürt, dass sie vibriert. Jetzt, wo sie da liegt.
Warm ist sie und dann lacht er. Nein, er lächelt nicht. Er lacht. Ein leises gurgelndes Lachen, das von innen kommt. Irgendwoher. Er sieht.
Sieht ihre Unsicherheit. Ist es Angst? Wovor? Er weiß es nicht. Es gibt keinen Grund, meint er. Der See liegt friedlich und still vor ihnen. Sie sitzen auf einer alten abgesessenen Holzbank. Ein Schwarm Stare pickt auf der Wiese. Angst? Kein Grund.
Sie. Sie schaut auf den See. Spürt seine warme Hand auf ihrer Schulter.
Es beruhigt. Ein wenig. Nicht genug. Sie lauscht seinem Lachen. Er hat schöne Zähne, denkt sie. "Was bedeute ich dir?", hat sie eben gefragt.
Der Wind trägt die Frage über den See. Die dunklen Buchen greifen nach der Frage, aber sie weht weiter ... hinüber zu den Staren. "Du", sagt sie jetzt und sie weiß, er wird nicht antworten. Sie weiß nicht, warum. Weiß nicht, warum er nicht antworten wird und nicht, warum sie weiß, dass er nicht antworten wird. Sie sitzt und wartet nicht mehr. Sie lauscht ihrer Frage und seinem Lachen. Einer war gekommen und hatte gesagt, das wäre keine Liebe. Da hat sie sich wund gefühlt. Wund und voller Angst. War sie schon immer da gewesen - die Wunde? Einer. Woher nimmt er die Macht, diese Wunde zu öffnen? Woher war sie gekommen im Dunkel der Nacht? Nun ist es Tag. Aber die Sonne scheint nicht. Träger Nebel verhängt sogar die Wolken. Es ist kalt. Sie fröstelt. Seine warme Hand auf ihrer Schulter bewegt sich nicht. Sie möchte ihn spüren. Seine Hand. Seine warme Haut, seine feinen Haare, die auf ihr kitzeln. Sie möchte seine Wärme, seine Nähe, ihn in sich fühlen. Wie er sich bewegt, wie er sie umarmt, wie er sie küsst, liebevoll.
Sie tastet nach seiner Hand, die er ihr lässt. Sie streichelt seine Finger. Darf ich das? denkt sie. Mit welchem Recht nehme ich seine Hand?
Mit welchem Recht sitze ich hier? Mit ihm. Allein. Vielleicht ist er morgen schon weg. Für immer. Vielleicht sehe ich ihn nie wieder. Oder er sitzt morgen mit einer anderen hier. Und lacht. Liebe. Vielleicht läuft er weg. Geht fort. Interessiert sich nicht weiter für sie. Wenn er erstmal alles erfahren hat, was er wissen wollte. Was will er überhaupt wissen? Er hat nichts gefragt. Vielleicht hat Einer Recht. Sie ist einfach nur aufgefallen. Weil sie schön ist. Weil sie sich in den Vordergrund drängt. Weil sie ihm schöne Augen gemacht hat. Weil sie so gesprochen hat. Weil er gelauscht hat und im Singsang ihrer Stimme die Einladung gehört hat. Die Einladung, sie zu nehmen, wie eine Frau von einem Mann genommen werden möchte. Sie ist wund. Woher nur kommt diese Wunde? Weiß er es? Kann er sie sehen? Sie ist hungrig und ängstlich.
Darf sie sich nähren, ohne bestraft zu werden? Darf sie einfach diese Finger nehmen? Darf sie entlang seiner weißen Haut unter dem Ärmel entlang streichen? Darf sie ihn küssen? Darf sie denken, dass der blaue Blick ihr gilt? Vielleicht gilt er nur den Vögeln auf der Wiese?
Vielleicht hat er noch gestern Abend jemand anders gegolten? Darf sie den Mann neben ihr lieben, auch wenn sie hungrig war? Auch wenn sie noch immer hungrig ist? Wird er fortlaufen? Wird er fortlaufen vor ihrem Hunger und ihrer Liebe? Sie wartet. Wartet, dass er seine Hand wegzieht.
Wartet, dass er sich erhebt und ihr sagt, er liebe sie nicht. Wartet.
Auf den Moment, in dem er sie mit seiner Hand fortstößt. Wäre es dann nicht wie immer?
Sie ist fünf. Sie nimmt die Hand ihres Vater. "Papa", sagt sie. Die große Hand stößt sie fort. Hebt sich. Landet mit Wucht in ihrem Gesicht.
Ihr Hals knickt um. Sie zieht die Schulter hoch. Weint. Rote Wange.
Heiß. Sie hat verstanden. Sie wird es nicht wieder probieren. Es ist etwas Gefährliches dran. Gefährlich, ihm nah zu sein. Besser nicht. Sie stöhnt leise. Eine heiße Träne rinnt über die Nase hinab in den Mundwinkel. Er hat es gesehen. Sie ist noch da. Die Hand. Warm. In ihrer. Er hebt seine andere Hand zu ihrem Gesicht. Sie zuckt leicht.
Zärtlich hebt er die Träne aus ihrem Mundwinkel. Es kitzelt. "Siehst du", sagt er und nickt mit dem Kopf nach oben. Dahin ist der Schwarm aufgestiegen und fliegt lärmend davon. Sie lächelt. Aber sie weiß nicht, ob es das nächste Mal nicht wieder so sein wird.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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