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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Don´t cry, please

© Vladimir Nikiforov


Der Geruch der Apotheke erinnert mich augenblicklich und eindeutig an eine gewisse Periode meiner Kindheit. Ich bin insofern ein glücklicher Mensch, als ich keine Zeitmaschine zu erfinden brauche, die mich, falls mich die Nostalgie überfällt, sofort in die Vergangenheit zurück versetzt. Nein, mir genügt es, die erstbeste Lokalität mit dem bekannten Symbol über der Eingangstür zu betreten, damit mich das Aroma der Medikamente im Nu viele Jahre zurück, in mein Heimatdorf (tausend Kilometer südlich von Moskau, tausend Einwohner, Anfang der sechziger Jahre) bringt. Die Apotheke, die Muse meiner Erinnerungen ...
Der russische Dichter des Symbolismus, Alexander Blok, schrieb vor ungefähr hundert Jahren:
Die Nacht. Die Straße. Die Laterne. Die Apotheke.
Ein sinnloses und mattes Licht.
Du kannst noch fünfundzwanzig Jahre leben, es wird alles dasselbe bleiben, es gibt keinen Ausweg.
Du wirst erwachen und versuchen, das Leben
wieder von vorne anzufangen, aber alles wird
sich wiederholen: die Nacht.
Das eiskalte Kräuseln des Kanals.
Die Apotheke. Die Straße. Die Laterne.
Ich würde dieses triste und deprimierende Bild nie befürworten. Schon allein deswegen, weil der Begriff "Apotheke" hier vorkommt. Ja, es gab die Nacht, die Laterne und die Apotheke, aber ich sah das ganze damals durch das Fenster meines Kinderzimmers. Es war Frühling, der Flieder blühte wie verrückt, ich befand mich in Rekonvaleszenz nach einer Lungenentzündung. Und ich wurde aufgeweckt durch das Geräusch des Kofferraums, der zugeklappt wurde. Ins Haus gegenüber waren neue Bewohner eingezogen.
In einem Teil des Hauses befand sich die Apotheke, die andere Hälfte war als Dienstwohnung für den "Hauptpharmazeuten" unseres Dorfes vorgesehen. Da keiner von den wirklichen Spezialisten auf längere Zeit in unserem von Gott vergessenen Loch bleiben wollte, gaben sich die Bewohner die Klinke in die Hand. "Das Apothekenhaus" und unseres waren durch einen gemeinsamen Hof verbunden - ein Erbe der vorrevolutionären Epoche, als beide Gebäude einem Besitzer, irgendeinem Kosakenoffizier gehört hatten.
Wir wohnten drei Jahre in dem Haus mit einer von Flieder überwachsenen Veranda, einem tiefen, romantischen Keller und aus Holz geschnitzten Fensterläden, und innerhalb dieser Zeit bekamen wir zweimal neue Nachbarn im Haus vis-a-vis. An dem ganzen Hin und Her interessierte meine Schwester und mich nur ein Aspekt: Ob die neuen Anrainer Kinder in unserem Alter hatten. Die ersten Nachbarn hatten Kinder: das Mädchen ging mit meiner Schwester in dieselbe Klasse, der Bub war ungefähr in meinem Alter. Beide rochen selbstverständlich bezaubernd nach Arzneimitteln. Ihre Mutter leitete als Pharmazeutin die Apotheke. Ihr Vater war der Militärkommissar des Kreises, und folgerichtig bekam das Mädchen in der Schule, so erzählte mir meine Schwester, sofort den Spitznamen "Major Pliss". Denn genauso waren die Anordnungen über die bevorstehende Einberufung zum Heer unterschrieben, die an jeder Ecke plakatiert waren.
Wir spielten inzwischen selbstvergessen im Apothekengarten "Grenzsoldat und Spion". Ich war der Grenzhüter, "Major Pliss" die Krankenschwester, ihr Bruder der Spion, und meine ältere Schwester - Regisseur und Drehbuchautor aller Spiele dieser Art - übernahm immer die Rolle des Schäferhundes, eine Unverschämtheit, denn eigentlich war diese Rolle die Schlüsselpartie in all diesen Spektakeln. Die Verwundeten wurden mit Traubenzucker-Tabletten und Gematogen-Würfeln, die uns auch als Ersatzschokolade dienten, versorgt.
Accessoires und Produkte der pharmazeutischen Kunst waren auch in unseren anderen Spielen genügend vertreten, was dem Haus mit der paradiesischen Schlange auf dem Schild zusätzlich eine alchemistisch-karnevalistische Dimension bescherte.
Der Gipfelpunkt der "Major Pliss-Ära" war aber das Feiern des Neujahrsfestes in der Apotheke. Zwischen den Schränken mit Mixturen und Salben, die den Tannenbaumkugeln und goldenen Nüssen zublinzelten, tanzten wir Reigen, meine Mutter spielte Väterchen Frost, und logischerweise gab es keinen Mangel an Watte für ihren weißen Bart ... Die grüne, struppige, mit Lametta geschmückte Henne mit ihrer glitzernden Brut ... Der Geruch der Apotheke, gewürzt mit dem Aroma des Nadelholzes ... Das universelle Reisenecessaire meines Gedächtnisses ...
Eine unwiderstehliche Faszination "der Apothekenkinder" bestand für mich auch darin, dass sie unter einem Dach mit dem Medikamentenlager hausten (deswegen sind für mich Wörter wie "Penaten" oder "Laren" pharmazeutische Termini). Ich hatte damals nicht die geringste Ahnung, dass das Wort "Apotheke" etymologisch von "Aufbewahrungsort für Kräuter" oder einfach "Behälter für Arzneien" stammt. Im Russischen reimt sich "apteka" auf "biblioteka", wo meine Mutter arbeitete. Ich fragte mich oft: Warum können wir nicht in eine Bibliothek einziehen?
Es gefiel mir auch unglaublich, auf den Stufen vom Eingang auf der Straßenseite zu sitzen und den Betrieb zu beobachten. Links stand die Kirche, die visuelle Dominante des Dorfes - noch eine wichtige Schachfigur in der Partie meiner Kindheit. Rechts lag das Krankenhaus.
Ich dachte: Zum Arzt kommt der Mensch mit einem Problem. In der Apotheke kreuzt er bereits mit einem Rezept auf. Die Apotheke ist zwar eine hübschere und leichtsinnigere Cousine der Ordination, aber die Namen von Medikamenten prägen eine historische Landschaft genauso, wie populäre Heilmethoden, Automarken oder musikalische Hits.
Wie ich schon gesagt habe, wechselten die Chefs der Apotheke oft, aber das übrige Personal (das waren drei Frauen, die Hilfsfunktionen erfüllen mussten) blieb praktisch unverändert. Zweifellos verband uns mit dem Apothekenvolk eine geistige Verwandtschaft. Für mich waren unsere Häuser so etwas wie die Stützen einer gewissen Loge, die nach einem geheimnisvollen, aber nicht besonders strengen Statut geleitet wurde. Vielleicht handelte es sich in diesem Falle um irgendein Ferment des Erinnerungsvermögens, das beide Gebäude produzierten. Für meine Mutter waren diese Leute von nebenan anscheinend die personifizierte öffentliche Meinung. "Warten wir ab", sagte sie oft, "was die Apotheke dazu sagt". Oder: "Wir wissen noch nicht, ob das der Apotheke gefallen würde". Außerdem war das Nachbarhaus für meine Mutter eine Quelle der medizinischen Kenntnisse, ihre Universität sozusagen, ihr Club und die Wiege ihrer zukünftigen Funktion als Heilerin und Wundertäterin bei uns daheim.
Aus irgendeinem Grund erscheint vor meinen Augen folgende Episode: wir haben eine himbeerfarbene Möbelgarnitur gekauft (die erste im Dorf, eine Sensation!); die Möbel wurden von einem Lastwagen auf das grüne Gras herunter geladen, und "die Apotheke" ließ ihre Glasbehälter mit destilliertem Wasser im Stich und setzte sich wie in einem Ritual der Reihe nach auf Stühle, Diwan, Plüschbank ...
Die Apotheke ist einer der Protagonisten meiner Kindheitsmythologie, ein Archetyp "des Hauses gegenüber" schlechthin (etwas, was man ununterbrochen beobachtet, was man liebt und beneidet), sowie der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit. Die hell erleuchteten Fenster des Hauses vis-a-vis sind für mich so etwas wie die Strophen des ersten Gedichtes im Leben.
"Major Pliss" und ihr Bruder, der Spion, verließen leider bald unser Krähwinkel, da ihre Eltern neue Arbeit woanders bekommen hatten. Sie sind verschwunden, noch bevor ihre Gesichter die gesunde, dörfliche Farbe angenommen hatten.
Einen Monat später kam die neue Chefin, diesmal eine unverheiratete Frau, aber auch mit Kind. Das Mädchen (sie hieß Sweta) war meine Schulkameradin.
Ein Mädchen mit einer weißen durchsichtigen Haut. Sie war auch meine Tischnachbarin im Klassenzimmer. Ich war betrunken von dem vertrauten Geruch. Ihre Mutter, "Tante Schura", lud mich oft ein, mit ihnen gemeinsam Lotto zu spielen. Sowohl die Gewinnbonbons, als auch die kleinen hölzernen Lottofässchen und die Bohnen, die als Spielmarken dienten - alles roch nach Medikamenten.
"Sing was vor, Swetik, geniere dich nicht", spotteten meine Klassenkollegen, die Dorfbengel. Das war ein Zitat aus der Fabel von Iwan Krylow, wo der Fuchs der Krähe, die im Schnabel ein Stück Käse hält, schamlos schmeichelt, damit die Krähe den Schnabel aufmacht und der Schlaumeier den Käse erbeuten kann (was im Endeffekt auch geschieht). Die dummen Kerle hatten keine Ahnung (ich übrigens auch nicht), dass "Swetik" früher in der Stadt eine Ballettschule besucht hatte. Während eines Festes zu Ehren der Großen Oktoberrevolution kamen sie aus dem Staunen nicht heraus, als mein Apothekenengel im authentischen Ballettdress und im Alleingang den "Tanz der kleinen Schwäne" darstellte. Hier, wo Fuchs und Hase einander gute Nacht sagten, wehte plötzlich ein Hauch vom Bolschoj-Theater. Alle waren sprachlos. Am sprachlosesten meine Schwester, die auf die Nachbarin böse war, weil sie immer den Auftritt bei den "Spionage-Festspielen" verweigert hatte.
Nach einem halben Jahr machten sich Tante Schura und "Swetik" auf den Weg in Richtung Gebietshauptstadt - zusammen mit dem ganzen Ballettzubehör, Tschajkowskijs Schallplatte und Apothekengeruch. Kurz danach sind auch wir in ein anderes Haus übersiedelt. Unser schwarzweißer sibirischer Kater lief eine Weile immer wieder zum alten Hof (haben sie ihn dort vielleicht mit Baldrian gefüttert?), aber mit der Zeit beruhigte auch er sich.
Als ich viele Jahre später im Fernsehen sah, wie Maja Plissezkaja, ein Star des russischen Balletts, den "sterbenden Schwan" von Saint-Saens tanzte, bildete ich mir plötzlich - in einem Anfall seltsamer Sentimentalität - ein, dass diese Szene in Wahrheit davon handelte, dass "Major Pliss" und "Swetik das Haus gegenüber und die einzigartige Nacht der Ankunft, den nassen blühenden Flieder und den Neujahrsbaum, die Laterne und den sibirischen Kater und unsere unverwirklichte Liebe beweinten.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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