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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Verspieltes Vertrauen

© Daniela Sattler


Es war an einem Sommerabend vor zwei Jahren. Ich saß im Vorgarten des Bauernhauses, in welchem ich kurze Zeit zuvor eine Vierzimmerwohnung gemietet hatte und trank Tee. Es wurde langsam dunkel. Gedankenversunken rührte ich mit dem Löffel in der übergroßen bauchigen Tasse und ließ die Stunden des vergangenen Tages im Geiste noch einmal Revue passieren.
Wie lange hatte ich mich auf diese Woche gefreut. Sozusagen auf diese Zeit hin gelebt. Während der letzten Monate war ich häufig für meinen Arbeitgeber unterwegs gewesen und hatte mein kleines Reich nur selten genießen können. Jene Tage jedoch sollten angenehmer werden. Voller unbeschwerter, fröhlicher Stunden. Meine Nichte verbrachte ihre Ferien bei mir.
Jasmina war damals elf Jahre alt. Sie wurde von ihrem Vater, meinem Bruder, alleine aufgezogen. Sarah, ihre Mutter, hatte sich das Leben genommen, Jasmina war gerade zwei Jahre alt. Unsere Eltern kümmerten sich fortan um die Kleine. Als Jasmina neun Jahre alt war, verunglückten die beiden bei einem Autounfall tödlich, und so nahm mein Bruder seine Tochter schließlich wieder zu sich. Große Unterstützung bei seiner verantwortungsvollen Aufgabe als Alleinerziehender erhielt er von einer älteren Witwe. Lina, so ihr Name, sorgte sich nicht nur besonders liebevoll um das Wohlergehen der Kleinen, sie kümmerte sich ebenso pflichtbewusst um den Haushalt der zwei. Man hätte glauben können, Robert und Jasmina wären Linas eigen Fleisch und Blut.
Vater und Tochter lebten also so, wie wir es vielleicht schon in Fernsehserien mitverfolgen konnten. Oder so, wie wir es bereits in Liebesromanen gelesen hatten: Ein gut aussehender Mann, der seine Tochter alleine aufzieht. Es hätte nur noch eine ebenso gut aussehende Frau in Roberts Leben treten müssen und an Stoff für einen Roman wäre genug vorhanden gewesen. Alleine Roberts Freundin fehlte noch. Bis zu jenem Zeitpunkt war ihm noch keine Frau begegnet, die den Platz als seine Geliebte hätte einnehmen können.
Meine Beziehung zu meinem um drei Jahre älteren Bruder ist zwar gut, nicht aber besonders tief. Wir waren von unseren Eltern vor allem daraufhin erzogen worden, keine Schwächen zu zeigen. So lernten wir beispielsweise bereits sehr jung, emotionale Regungen vor anderen Menschen zu verbergen. Für Zeichen der Zuneigung gab es innerhalb der Familie ebenfalls keinen Platz. Gefühle wurden unterdrückt, im Keime erstickt. Ich kann mich auch heute nicht daran erinnern, wann ich von meiner Mutter zum letzten Mal umarmt worden war.
Jasmina, meine Nichte, war für ihre elf Jahre sehr aufgeweckt, strahlte jedoch eine große Sensibilität aus. Die hatte sie vermutlich von ihrer Mutter mitbekommen. Sarah war sehr feinfühlig. Sie malte gerne und ihr enormes Zartgefühl entging keinem aufmerksamen Betrachter ihrer Bilder. So positiv sich diese Empfindsamkeit aber auf ihr künstlerisches Schaffen auswirkte, so negativ wirkte sie sich auf ihr übriges Leben aus. Für unsere Eltern - und ich muss gestehen auch für mich - ist es immer ein Rätsel geblieben, wie Sarah und Robert hatten zusammenfinden können. Von Vater und Mutter war Sarah nie richtig aufgenommen worden. Sie war einfach da. Gewiss hätte ihnen jede andere Schwiegertochter ebenso wenig zugesagt, es wäre ihnen vermutlich trotzdem lieber gewesen, mein Bruder hätte eine andere Wahl getroffen. Natürlich musste Sarah dies gespürt haben. Ihre Art, ihr Verhalten, ihr ganzes Denken passten einfach nicht in diesen, in unseren Kreis. Zwei fremde Welten waren da aufeinander geprallt.
Sarah und Robert lernten sich anlässlich einer von Roberts unzähligen Geschäftsreisen kennen. Sarah besuchte damals eine Freundin in Amsterdam. Das Flugzeug hatte Verspätung und die beiden kamen miteinander ins Gespräch. Schließlich in Amsterdam angekommen, verabredeten sie sich für den darauf folgenden Abend. Vier Wochen später stellte Robert uns Sarah vor. Unsere Eltern nahmen seine Freundin seinerzeit wohl freundlich auf, aber nur deshalb, weil sie nicht geahnt hatten, dass diese ihre Liebe schneller als ihnen genehm war besiegeln ließen.
Ich muss heute wirklich zugeben, dass sich meine Schwägerin am Anfang sehr bemüht hatte, sich in ihre neue Welt zu integrieren. Als sie jedoch bemerkte, dass all ihre Anstrengungen sie ihrer angeheirateten Verwandtschaft um keine Haaresbreite näher brachte, zog sie sich immer mehr zurück.
"Jene Zeit muss für sie wohl sehr schmerzhaft gewesen sein", überlegte ich. Tatsache ist, dass sich die schmerzlichen Erfahrungen stark auf Sarahs Malereien ausgewirkt hatten. In dem Zeitraum entstand eine große Anzahl äußerst bemerkenswerte Bilder, mit denen sie die Anerkennung einflussreicher Kunstliebhaber gewinnen konnte. Privat aber war und blieb Sarah immer unverstanden und einsam.
Ich ärgerte mich darüber, dass meine Gedanken immerzu von der eigentlichen Begebenheit des Tages abschweiften, und dass in meinem Kopf gerade in diesem Moment unaufhörlich Sarahs Bild auftauchte. Hastig nahm ich einen Schluck Tee. Als ob ich damit mein Denken in eine andere Richtung hätte lenken können. Obgleich seit Sarahs Tod bereits einige Jahre zurück lagen, schien sie noch immer gegenwärtig. Trotz aller Anstrengungen gelang es mir bisher nicht, mich von den Erinnerungen an sie zu befreien. Ihr schmales Gesicht mit den melancholischen braunen Augen und dem ebenso schmalen Mund, an dessen Winkeln sich kleine Grübchen bildeten, wenn sie lächelte. Leider lächelte Sarah viel zu selten. Plötzlich fragte ich mich, ob ich selber gar dazu beigetragen haben könnte, dass Sarah das Lächeln verlernte.
Ich stellte die Teetasse auf den Tisch und strich sanft über die Armlehne meines bequemen Ohrensessels, den ich mir vor Jahren während einer Geschäftsreise in Paris erstanden hatte. Einen Tag vor meiner Rückreise hatte ich Gelegenheit mich dort noch wenige Stunden privat amüsieren zu können. Ich war vorher bereits mehrmals in Paris gewesen. Meine Sympathie galt vor allem dem Viertel Montparnasse, in das die meisten Künstler vom Montmartre bereits in den 60er Jahren abgewandert waren und dem Quartier St. Germain-des Près, wo, wie ich hörte, Paul Sartre, Albert Camus und Simone de Beauvoir gelebt hatten. Dort stieß ich schließlich auch unerwartet in einem kleinen Laden auf den Ohrensessel.
Ich hänge noch heute an diesem Stück. Dabei war der Sessel, zumindest als ich ihn erstanden hatte, alles andere als wertvoll. Aber ich hatte in neu überziehen lassen, hatte viel Geld in diese unscheinbare Sitzgelegenheit gesteckt. Ja, ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie entsetzt unsere Mutter war, als sie den Stuhl in seinem Urzustand sah. Sie ahnte nicht im Geringsten, welche Erinnerungen dieses schmuddelige Ding in mir zu wecken vermochte. Ich wurde in dem Augenblick, in dem ich das Sitzmöbel in einem kleinen dunklen, mit Krempel überfüllten Laden erblickt hatte, von einer großen Wehmut erfasst. Unsere Großmutter hatte immer in einem solchen Stuhl gesessen. Robert und ich lagen oder saßen zu ihren Füßen und lauschten gebannt den spannenden Geschichten, die die alte Dame uns erzählte. Ich liebte die alte Frau abgöttisch. Kein anderer Mensch auf der ganzen Welt wusste sonst, mich mit den richtigen Worten zu trösten, wenn ich traurig war, mich so liebevoll zu pflegen, wenn ich krank war oder mich mit Erzählungen zu unterhalten, wenn ich von Langweile geplagt wurde.
Sarah hatte dieser Sessel ebenfalls gut gefallen und ich musste ihr jeweils nachdem sie es sich in dem von ihr bewunderten Stuhl gemütlich gemacht hatte, wieder und wieder erzählen, wie ich zu dieser Kostbarkeit gekommen war.
Ich erhob mich und trat durch die breite Verandatür ins Wohnzimmer. Vor dem Bild, über dem kleinen, viereckigen gläsernen Tisch, auf dem das zum Spiel vorbereitete Schachbrett lag, blieb ich stehen. Das ungefähr ein Meter auf ein Meter große Gemälde "Lava" sprach mich auch jetzt noch sehr an. Ich hatte es anlässlich Sarahs erster Ausstellung geschenkt erhalten.
Die Kunstwerke meiner Schwägerin hatten mich von Anfang an sofort in ihren Bann gezogen. Sarahs Bilder forderten auf, nicht nur mit den Augen zu sehen. Dem sensiblen Beobachter, der bereit war sich auf eine Entdeckungsreise in diese künstlerische Bildwelt einzulassen, eröffneten sich neue Welten. Vor seinen Augen erschienen und veränderten sich Farb- und Lichträume. Für ihn waren sie sichtbar, die geheimnisvollen Zeichen, die archaischen Symbole für eine andere, transzendentale Welt.
Durch die Förderung eines der vielen vermögenden Verehrer ihrer Malerei, war es Sarah möglich geworden, ihre Kunstwerke in einer bedeutenden Bildergalerie auszustellen. Sie hatte sich sehr darüber gefreut. Es schien damals beinahe wieder etwas Lebenskraft in sie zurückgekehrt zu sein. Während der ganzen Vorbereitungen wurde sie von einer nahezu unerschöpflichen Energie getrieben. Die bald nach ihrer Heirat mit Robert verloren gegangene Lebensfreude war wieder in sie zurückgekehrt. Leider nur für kurze Zeit.
Robert, als Computerspezialist in einem amerikanischen Großkonzern tätig, wurde ausgerechnet einen Tag vor Sarahs großem Anlass zu einer wichtigen Besprechung in die Zweigniederlassung in den Niederlanden eingeladen. So war es ihm nicht möglich, die Vernissage zu besuchen, und Sarahs Einladung an ihre Schwiegereltern war ohnehin überflüssig. Selbstverständlich nahmen unser Vater und unsere Mutter am Eröffnungs-Aperitif nicht teil. Ich war mir zu jener Zeit ziemlich sicher, dass sie dem Anlass fernblieben, um ihr nicht vorhandenes Interesse an ihrer Schwiegertochter in aller Deutlichkeit aufzuzeigen. Ich jedoch hatte mich entschieden, die Ausstellung zu besuchen. Der Abend blieb denn auch als sehr schöne Erinnerung in meinem Gedächtnis. Wie wohl ich mich gefühlt hatte, in jenem Kreise. Obschon ich keinen einzigen jener Besucher kannte, konnte ich sehr schnell Kontakt finden und aufschlussreiche Unterhaltungen führen. Von einem meiner Gesprächspartner wurde ich nachher sogar noch zum Essen eingeladen, und aus dieser Begegnung entstand schließlich sogar eine tiefe Freundschaft.
Das Bild, das Sarah mir an jenem Abend schenkte, ist für mich denn auch zu einer Art Zeuge des Anlasses geworden. Wann immer ich die Mischtechnik betrachte, erinnere ich mich derart genau an die Vernissage, als hätte sie gerade erst am Tag zuvor stattgefunden. Dabei sind seither etliche Jahre verstrichen. Es war kurz vor Sarahs Schwangerschaft.
Ich fröstelte, hob die dicke, wollene Jacke vom Ledersofa auf und zog sie über. Dann durchquerte ich das große Wohnzimmer und schritt, nachdem ich meine Schuhe ausgezogen hatte, auf Zehnspitzen leise in die Richtung, in der sich das Gästezimmer befindet.
Ich hätte in meiner Wohnung genügend Platz für Besucher. Trotzdem bleiben meine Gäste nur selten über Nacht. Ich liebe es, für mich alleine zu wohnen. Jasmina ist da eine Ausnahme. Kurz nach dem Tod unserer Eltern verbrachte sie zum ersten Mal einen Urlaub mit mir. Ganze zwei Wochen. Ich hielt dies anfänglich für ein gewagtes Unternehmen, zu dem ich mich hatte hinreißen lassen. Aber ich redete mir immer wieder ein, dass man in schwierigen Zeiten zusammenhalten sollte. Es stellte sich schließlich heraus, dass meine Befürchtungen unberechtigt waren. Jasmina langweilte sich unter meiner Obhut keine einzige Minute und auch für mich selbst waren jene Tage herrlich. Voller Abwechslungen. Geradezu eine Bereicherung.
In den ersten drei Monaten des Jahres bin ich jeweils zur Leistung von Überstunden verpflichtet. Diese kann ich dann im Sommer einziehen. Da ich es vorziehe, meine Ferienreisen im Herbst zu unternehmen, ist es möglich, dass Jasmina mindestens zwei, manchmal sogar drei Wochen ihrer Sommerferien bei mir verbringen kann. Dies haben wir bis heute so beibehalten.
Ich öffnete die Tür des Gästezimmers lautlos und trat vorsichtig, um ja kein Geräusch zu verursachen in den Raum, in dem die Kleine bereits tief und fest schlief. "Könntest du bitte später jeweils noch mal bei mir reinschauen und kontrollieren, ob ich richtig im Bett liege", hatte Jasmina mich gebeten. "Weißt du, manchmal drehe ich mich im Schlaf und dann liege ich mit dem Kopf am Fußende des Bettes. Könntest du bitte jeweils nachschauen, ob ich richtig liege?" Zu Beginn ihres ersten Ferienaufenthaltes bei mir hatte ich ihr versprochen, dies zu tun. Jasmina hatte bisher zwar immer richtig im Bett gelegen, trotzdem hielt ich eisern an diesem Brauch fest.
Ich trat sachte an das breite Bett, in das das zierliche Mädchen sich gekuschelt hatte. Jasmina lag auf dem Bauch und atmete tief und regelmäßig. Den einen Arm hatte sie neben sich ausgestreckt, den anderen hatte sie über ihren riesigen Teddybären gelegt. Dieser schlief auf dem Rücken neben ihr. Ihre dunkelbraunen langen, lockigen Haare bedeckten ihr Gesicht und den größten Teil von Teddys Körper. Ich setzte mich sachte auf den Bettrand und strich meiner Nichte die wilden Locken behutsam aus dem Gesicht. 'Genau wie damals Sarah', durchfuhr es mich plötzlich.
Sarah und ich waren zusammen im Ausgang. Jasmina war bei ihren Großeltern zu Besuch und es wurde abgemacht, dass sie auch bei diesen schlafen würde, denn ich hatte meine Schwägerin zum Nachtessen eingeladen. Seit Sarahs Vernissage hatten wir nichts mehr gemeinsam unternommen.
Nach Jasminas Geburt litt Sarah immer häufiger unter starken Depressionen. Dies äußerte sich bei ihr jeweils so, dass sie sich gänzlich zurückzog. Tagelang hörte man dann nichts mehr von ihr. Am Anfang wussten wir nicht, was los war. Schließlich klärte Robert die Familie auf. Unsere Mutter war - neben der Abneigung, die sie gegen ihre Schwiegertochter hegte - auch noch sehr eifersüchtig auf diese. Ohne Zweifel befürchtete sie nun einen großen Teil von Roberts Zuwendung an Sarah abgeben zu müssen, da dieser sich verständlicherweise vermehrt um seine Frau kümmerte. Die Phantasie eines missgünstigen Menschen ist unerschöpflich. Mutter war sehr starrköpfig und nicht selten ging sie beinahe wie eine Fanatikerin gegen Sarah vor. Man hätte annehmen können, sie wäre von der unaustilgbaren Idee besessen gewesen, einen lästigen Eindringling rausekeln zu müssen. Nein, man muss seine Antipathie nicht unbedingt verleugnen. Hin und wieder wäre es aber trotzdem gut, man würde sie etwas verstecken. Wenn Mutter sagte: "Sarah kommt morgen" oder "Sarah hat angerufen", schien etwas in ihrer Stimme hinzuzufügen: "Mir bleibt wirklich nichts erspart." Ich jedoch verspürte den Drang, der Frau meines Bruders wenigstens ein klein wenig Freundlichkeit entgegenzubringen. Daher hatte ich beim Italiener, bei dem Sarah so gerne speiste, für uns einen Tisch reservieren lassen. Meine Schwägerin nahm die Einladung sofort an, was mich wiederum etwas erstaunte. Immerhin war sie damals gerade erst wieder aus ihrem Schlupfwinkel hervorgekommen. Sie hatte sich erneut über mehrere Tage hinweg von ihrer Umwelt abgeschirmt.
Sarah beeindruckte mich mehr, als ich zugab. Sie brachte etwas in unsere Familie, wovor diese sich sehr fürchtete: Gefühle. Gefühle zu zeigen war in unserem Kreise bisher ungewohnt. Sarah kämpfte, ohne dass sie sich dessen bewusst war, gegen die Herzlosigkeit in ihrer angeheirateten Sippschaft an. Wie gerne hätte ich wie Sarah gehandelt.
Während des ganzen Essens an jenem Abend war die Frau meines Bruders denn auch sehr zugänglich und richtig gesprächig. Wir unterhielten uns gut. Sarah lud mich noch zu einem Kaffe in Roberts und ihre Wohnung ein. Als ich mich von ihr verabschiedete, bedankte sie sich beinahe überschwänglich bei mir. Der Abend habe ihr sehr gefallen, meinte sie und fragte, ob man dies gelegentlich wiederholen könnte. "Manchmal habe ich einfach Angst vor euch", gestand sie mir, "vor Robert, vor dir, vor eurer Familie." "Du brauchst dich nicht zu fürchten. Du brauchst keine Angst zu haben", entgegnete ich ihr, und ich war abermals beeindruckt von ihrer Offenheit. Ich strich meiner Schwägerin sanft eine ihrer wilden Locken aus dem Gesicht. So wie eben gerade Jasmina.
"Du brauchst dich nicht zu fürchten. Du brauchst keine Angst zu haben", hatte ich an diesem Tag auch zu meiner Nichte gesagt. Wir hatten uns dazu entschlossen, dem Rummelplatz ganz in unserer Nähe einen Besuch abzustatten. Eigentlich war es ja nur die Lust auf die vielen köstlichen Süßigkeiten, die dort jeweils feilgeboten werden, die uns dazu veranlassten, unsere faulen Hintern überhaupt aus den bequemen Sesseln im Wohnzimmer zu erheben. Als wir allerdings mit etlichen Naschereien eingedeckt waren und wieder dem Ausgang zusteuerten, machten wir an einer der zahlreichen Vergnügungsbahnen halt. Wir beobachteten, wie sich die wilde Raupe immer schneller drehte. Die Kinder saßen mit ihren Vätern und Müttern, durch einen Bügel gesichert, in den zu einem Kreise aufgebauten Dreisitzern. Viele von ihnen lagen allerdings bereits mehr in ihren Sitzen. Je schneller sich die wilde Raupe nämlich drehte, desto mehr rutschten sie von ihrem Platz aus zur die Mitte. Sie kreischten und lachten vor Vergnügen. "Möchtest du auch mal?", fragte ich Jasmina, nachdem ich an der Kasse gelesen hatte, dass Kinder bereits ab 8 Jahren zugelassen wurden. Sie wolle erst mal schauen, meinte Jasmina darauf. Und so standen wir noch eine Weile dort und beobachteten die Kinder und Erwachsenen, die nach der Fahrt heiter die Bahn verließen und hörten einige Jungen und Mädchen mit ihren Eltern darüber diskutierten, ob nicht vielleicht gleich noch ein Billett für eine weitere Runde drin läge. Jasmina stand still neben mir. Eine weitere Fahrt wurde angesagt und jeder, der im Besitze eines Tickets war, stürmte nach der Aufforderung "Einsteigen bitte!" zu einem der Dreierabteile. Die Aufsicht kontrollierte, ob jeweils wirklich nur drei Personen zusammen saßen und ob bei allen Sitzen die Sicherheitsstangen befestigt waren. Dann ging die Fahrt erneut los. "Na, was denkst du?", erkundigte ich mich nochmals. Jasmina sah mich mit ihren wunderschönen braunen Augen an und meinte dann etwas verlegen: "Weißt du, vielleicht habe ich Angst auf dieser wilden Raupe." "Du brauchst dich nicht zu fürchten. Du brauchst keine Angst zu haben", beruhigte ich sie.
So kam es, dass ich zwei Fahrkarten kaufte und mit meiner Nichte bald darauf selber in einem der Abteile saß. Am Anfang glaubte ich Jasmina vor Freude quietschen zu hören. Als die Sessel sich immer schneller drehten, zog ich sie nahe an mich ran und hielt sie in den Armen. "Zum Glück bist du da!", meinte Jasmina während der rasanten Fahrt. Sie klammerte sich an mich. Nachdem wir ausgestiegen waren, fasste das Mädchen schnell wieder nach meiner Hand. Ich erschrak. Die Hand der Kleinen war kalt und feucht. Ich beugte mich näher zu ihr und sah, dass sie ganz blass war. "War es schlimm?", wollte ich wissen. "Nein, nein, eigentlich nicht so. Aber ich möchte nicht noch einmal auf eine solche Bahn!", erklärte Jasmina scheu. "Aber das musst du auch nicht mehr, mein Schatz! Es tut mir Leid, dass du Angst hattest!", entschuldigte ich mich. "Es ist schon gut. Es ist alles in Ordnung!", meinte sie nur. Schweigend traten wir den Heimweg an und ebenso schweigend nahmen wir das Abendessen ein. Ich las meiner Nichte noch eine Geschichte aus einem Buch vor, während sie sich an mich kuschelte. Sie wollte sich dann sehr bald schlafen legen.
Ich strich sanft über die Bettdecke, unter der Jasmina lag. So wie ich es jeden Abend tat. Aber ich fühlte, dass es diesmal nicht dasselbe war wie an den vorherigen Abenden, an denen ich ihre Bettdecke glatt gestrichen hatte. Es würde auch nie mehr so sein. Es wurde mir klar, dass ich Jasminas Vertrauen verspielt hatte. Ich hatte ihr versichert, sie brauche keine Angst zu haben. Genauso, wie ich es damals Sarah beteuert hatte.



Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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