Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

David

© Michael Hetzner


Judenkinder tragen keine Stöcke. Deshalb hatten ihm die Eltern beim Bauern einen Stock besorgt. Er war teuer. Sehr, sehr teuer. Der Bauer hatte dafür die goldene Uhr des Vaters verlangt. Jene Uhr, die einst dem Großvater und dem Urgroßvater und Ururgroßvater gehört hatte. Der Bauer bestand außerdem auf Mutters silbernes Armband, auch das ein altes Familienerbstück.
Judenkinder tragen keine Bauerntracht. Deshalb hatten die Eltern dem Bauern auch noch die große Standuhr mit den schönen, weit ausschwingenden Pendeln, den teueren Wohnzimmerteppich und das silberne Besteck gegeben. Dafür trug er jetzt eine kurze Hose aus grobem Stoff, die auf der Haut kratzte. Und ein verwaschenes, an den Ärmeln eingelaufenes Hemd mit zerschlissenem Kragen. Und an den Füßen klotzige, abgestoßene Schuhe mit dicken Schnürsenkeln. Nur seine alte Jacke durfte er behalten. Sie war schon etwas zu kurz für ihn und am Saum ziemlich abgenutzt. In ihr würde er nicht weiter auffallen. Am rechten Ärmel, dort wo seine Mutter vor einigen Jahren den sechseckigen gelben Stern annähen musste, verrieten nur noch drei kleine Einstiche, dass hier etwas fehlte. Nachdem die Mutter den Stern der Schande abgetrennt hatte, rieb sie mehrmals etwas Staub in die kleinen Löcher, bis sie fast nicht mehr zu sehen waren.
So hatten sie ihn auf die Reise geschickt. Sie drückten ihm einen Beutel mit hartem Brot und einer fetten, in alte Zeitungen eingewickelten Wurst in die Hand, pressten ihn nochmals kurz an sich, dann schoben sie ihn davon. Den Weg hatten sie ihm mehrmals genau erklärt. Aber das wäre nicht nötig gewesen. Denn er kannte ihn genau. Oft war er hier, ein fröhliches und ausgelassenes Kind, flink und mutwillig wie eine junge Katze, zusammen mit den Eltern entlang gewandert. Jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst besuchten sie nämlich Vaters alten Schulfreund. Ein Landarzt, der, damit er seine Ruhe hatte, weit entfernt von der Stadt eine kleine Praxis betrieb.
Als er aufbrach, schien die Sonne. So, als wolle sie ihm den Abschied leichter machen. Doch er spürte ihre warmen Strahlen nicht. Wie ein vom Wind zur Erde geschleuderter, abgestorbener Zweig fühlte er gar nichts. Er setzte einfach einen Fuß vor den anderen und obwohl er jede Wegbiegung kannte, jede Windung des kleinen Bachs, kam heute keine Wiedersehensfreude in ihm auf. Er wusste, er musste jetzt stark sein. Stark wie David und seine Helden, wie Joab und Abner, die Söhne der Zeruja. Von ihnen hatte er in der Thoraschule viel gehört hatte. Wie sie, oft allein und auf sich gestellt, ganze Heere auseinander trieben. Wie sie mächtige Gegner besiegten, ohne Angst und Furcht. Das waren seine Vorbilder. Doch jetzt fühlte er sich schwach, einsam und elend. Traurig und verlassen. Wie ein Ausgestoßener.
Er wusste, wenn er das Dorf, in dem der Arzt wohnte, erreicht hatte, war er gerettet. Dort befand er sich in Sicherheit. Er war schon drei, vier Stunden gegangen und irgendwo läutete jetzt eine ferne Glocke zu Mittag. Sie rief all die Menschen, die zueinander gehörten zu einem gemeinsamen Mal. Er weinte. Still und verhalten. Dann kniff er die Augen zusammen und ging rasch weiter. Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm weidete eine Herde Gänse. Mitten auf dem Weg. Er wollte ja stark sein, ein Held sein wie David. Doch mit Gänsen, das wusste er, war nicht zu spaßen. Wer ihnen zu nahe kam, musste sich vor ihren harten Schnäbeln wohl hüten. Er schaute sich um. Doch auf beiden Seiten des Wegs erhob sich hohes Korn wie eine Mauer. Da durfte er nicht durch.
Was jetzt?
Wenn er diese Gänse hinter sich hatte, das wusste er, konnte ihm nichts mehr passieren.
Die Zeit wurde ihm lang. Und jetzt, wie um seine hilflose Einsamkeit zu verhöhnen, läutete in einem anderen Dorf eine ferne Mittagsglocke.
Dann plötzlich Motorenlärm. Ganz weit entfernt, dann immer näher. Er duckte sich erst, dann siegte die Neugier. Er stellte sich an den Wegrand, in respektvolle Entfernung zu den schnatternden Schnabeltieren. Der Wagen kam immer näher. Ein Geländewagen mit großen Hakenkreuzen an den Seiten. Hinten saß ein strenger Herr mit einer Mütze und vielen Abzeichen an den Revers. Als er die Gänse erblickte, rief er dem Fahrer etwas zu und dieser gab Vollgas. Die Herde stob wütend schnatternd auseinander. Die verängstigten Tiere sprangen hoch und flogen über die Felder, über den Bach als ginge es um ihr Leben.
Der Fahrer lachte. Als der Wagen vorüber fuhr lächelte der Mann auf dem Rücksitz dem Jungen zu. Fast wie ein Vater. Für einen kurzen Moment sah der Junge die freundlichen Augen. Er lächelte zurück. Jetzt spürte er die warme Mittagssonne. Mit festen Schritten ging er weiter.
Judenkinder haben keine Angst.



Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««