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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Killer-Krebs von Mannheim-Süd

© Bernd Christiansen


"Schön gleichmäßig, Edgar!", rief der stolze Vater hinüber. "Beide Arme gleichzeitig, vergiss das nicht! Und denk an die Beinarbeit!"
"Ich darf gar nicht hinsehen", meldete sich Anne zu Wort. Typisch seine Frau, immer skeptisch und viel zu überängstlich.
"Was hast du bloß immer? Das Becken ist doch gar nicht tief genug, als dass er einfach so untergehen könnte. - Und ich bin im Nu bei ihm, wenn er Probleme kriegt." Sie sahen vom Beckenrand aus eine Weile ihrem Sohn zu. "Außerdem kannst du deinen Kindern ruhig mal was zutrauen, finde ich. Stärkt das Selbstbewusstsein."
"Aber er ist doch erst drei, Frank."
"Fast vier, na und? Die einen lernen es früher, die anderen eben später. Was macht das schon? Ich bin jedenfalls froh, dass unsere Kids so gut geraten sind - und dass sie keine übertriebenen Ängste oder Phobien haben." Er grinste sie an.
"Wie ich, wolltest du doch sagen, stimmt's?"
"Ach was. Guck mal! Wenn unser Sohn so weitermacht, holt er in fünfzehn Jahren die Goldmedaille bei den olympischen Spielen."
Anne drehte sich zu ihrem Mann. "Und was, wenn er deine Erwartungen nicht erfüllt? Was ist dann?"
Das Strandbad erstreckte sich im Süden Mannheims entlang des Rheins. Hinter dem eisernen Drehkreuz des Eingangstors gelangten die Besucher an diesem heißen Sommertag auf eine kaum zu überblickende, weil lang gestreckte Wiese. Nicht gänzlich ebenerdig, hob oder senkte sich der gestutzte Grund im äußeren Bereich und zur Rechten des Betrachters. Am Horizont verlief der Rhein, auf dem gerade ein paar Tanker ihre Bahnen zogen. Und weiter hinten rechts im Eck war ein einstöckiges Bistro-Café angesiedelt, in dem sich Dutzende Gäste tummelten. Auf dem Grün sah es nicht anders aus: Verschiedentliches Gelächter, Stimmengewirr und das übliche Bruzzeln vieler Grills begleiteten Edgar, seine Eltern, seine beiden Schwestern und den Freund der ältesten, als sie einfach drauflos marschierten und sich einen Platz in der Menge suchten.
Anne blickte hilflos umher. "Also wohin jetzt? Näher ans Wasser oder bleiben wir hier auf dem Rasen?"
"Ich will ins Wasser", ertönte Edgar sofort lautstark.
Cora, die Älteste, äffte ihren Bruder nach: "Die kleine Kröte will ins Wasser."
Ihr Freund Jochen lachte sich schepp: "Dann pass mal auf, dass du nicht ersäufst."
Der vierjährige Edgar ließ auf der Stelle alle Klamotten fallen und lief schnurstracks auf den Rhein zu.
"Sei vorsichtig!", rief die besorgte Mutter hinterher, unsicher, ob er sie überhaupt noch hörte. Vom Wasser her, auf das der Kleine noch zulief, waren plötzlich die Schmerzensschreie eines Kindes zu vernehmen, ein Junge krümmte sich und wurde von Erwachsenen an Land gezogen. "Mir ist nicht wohl bei der Sache."
Wieder meldete sich die sechzehnjährige Cora zu Wort: "Lass doch, Mutti, der kleine Scheißer schwimmt doch wie 'n Großer. Ich kenn jedenfalls keinen, der sich in dem Alter schon Gold vornimmt."
"Könntet ihr eure Debatte unter Umständen auf später verlegen?", meldete sich Frank zu Wort, der mit Schlauchboot, Grill und überquellender Sporttasche voll beladen war. "Ich würd nämlich gern das Zeug hier endlich loswerden."
"Also in Richtung Wasser, aber noch auf dem Rasen", beschloss Kirsten, die Jüngste, und legte eine Gangart härter ein.
Inzwischen hatte sich die Lage am Ufer anscheinend zugespitzt. Der Junge, geschätzte sieben Jahre alt, atmete nicht mehr, zumindest sah es so aus, als würde er gerade mit entsprechenden Herzmassagen behandelt. Ein Typ hockte auf ihm und drückte auf seinem Brustkorb herum, während er einen bestimmten Takt laut mitzählte. Eine kleine Traube von Schaulustigen hatte sich derweil gebildet, aber niemand war bisher auf die glorreiche Idee gekommen, einen Arzt zu rufen. Stattdessen tuschelten sie alle nur miteinander und glotzten umher, bemitleideten die Mutter "Nun tut doch endlich was!" und behinderten die freie Sicht auf das Geschehen für eventuell eintreffende Lebensretter.
"Oha, was ist da nur los?" Aber ernsthaft interessiert klang Frank nicht.
"Aber ihr passt mir ja auf den Kleinen auf, ja!"
"Ja, ja, Mama, machen wir schon." Cora zog ihren Freund mit. "Sei bloß froh, dass du ein Einzelkind bist, solche Geschwister wünsch ich meinem ärgsten Feind nicht!"
Jochen grinste nur. Die beiden schlenderten davon, noch ein "Ich verlass mich auf dich!" im Rücken.
"Komm, lass mal schaun, was da los ist."
"Und dein Bruder?"
"Den haben wir auch von da vorn aus im Blick."
Sie waren fast angekommen, die Menschentraube lichtete sich etwas, doch waren sie alle seltsam verstummt, wie nach einer Tragödie, die niemand so recht fassen konnte, dachte sich Cora im Stillen. Als sie eintrafen, vernahmen sie nurmehr geflüsterte Worte.
"Ich versteh das alles nicht."
"So schnell kann's vorbei sein."
"Der Junge war doch kerngesund."
"Dem hat nichts gefehlt, hab ihn gerade erst gesehen."
"Lief doch eben noch quietschfidel hier herum."
"Der ist nicht mehr zu retten."
"An ihrer Stelle möcht' ich nich' sein."
"Was, zum Teufel, ist bloß passiert?"
Die Mutter hielt ihren leblosen Jungen weinend in ihrem Schoß, streichelte seinen Kopf und strich sein klatschnasses Haar nach hinten, bedacht darauf, dass ihm kein Wasser in die Augen rann. Der Sandstreifen, auf dem er gebettet lag, war mit Unmengen Kieseln versehen; inmitten einiger Miesmuscheln neben dem Toten nahm Cora eine leichte Bewegung wahr, die bei näherem Hinsehen von einem kleinen Flusskrebs stammte. Grad nur ein paar Zentimeter groß, fuchtelte er mit seinen drolligen Scheren in der Luft herum. Sie riss sich wieder los, wohl als einzige hatte Cora das Tierchen überhaupt bemerkt, und wandte sich dem tragischen Geschehen zu. Die Mutter rüttelte sanft, aber doch bestimmt an ihrem Sohn, ein letzter verzweifelter Akt der Verzweiflung, doch natürlich regte sich nichts.
"Wo ist denn die kleine Kröte?"
Jochen schaltete sofort: "Edgar? Da drüben, läuft grad ins Wasser."
"Alles klar." Sie zog ihn an sich, gab ihm einen lang gezogenen Kuss. "Wenigstens brauch ich mir nicht allzu viele Gedanken machen, dass er untergeht oder so."
"Nee, wirklich nicht, der lässt uns alle ganz schön alt aussehen, wenn's drauf ankommt."
"Sieh mal einer an, die Nachbarschaft ist auch würdig am Strandbad vertreten."
Alles blickte auf zu den beiden Neuankömmlingen. Anne unterbrach ihre Ausräumarbeiten, stellte ihren Korb mit Fressalien beiseite und begrüßte sie herzlich. Frank, der damit beschäftigt war, das Schlauchboot per Fußdruck aufzublasen, pumpte weiter und nickte freundlich zum Gruß. Die Jüngste, vollauf damit im Gange, die Kassette in ihrem Walkman an die richtige Stelle zu spulen, tat es ihm mittels kurzem "Hallo" gleich.
"Herr und Frau Doktor, das ist ja mal eine nette Überraschung", begann Anne das Gespräch. "Ich dachte immer, Sie kämen vor lauter Arbeit gar nicht mehr dazu, sich mal einen ruhigen Tag zu gönnen."
Die Doktorsgattin schaltete sich ein: "Da sagen Sie was Wahres, in der Tat", und ein vorwurfsvoller Blick zu ihrem Mann ließ keinen Zweifel offen, wie sehr sie darunter litt, "selbst heute - ach, was red ich, hat doch eh keinen Sinn."
"Wieder im Dienste der Gesundheit unterwegs, was, Doktor?" Franks Boot war endlich fertig.
Der Arzt hob einen Koffer, den er die ganze Zeit bei sich trug, in die Höh. "Ja, ja, stets in Bereitschaft. Immer auf dem Sprung."
Jetzt klinkte sich Kirsten ein: "Und dann gehen Sie ans Strandbad? Mann, Sie kasteien sich ja selbst. Schön blöd."
"Oho, das junge Frollein kennt sich aus, was? Woher hast du denn die Fremdworte, lernt man sowas heute in der Schule?"
Doch die Kleine war längst wieder in ihre Kuschelrocksongs vertieft.
"Ich muss mich für meine Tochter entschuldigen", versuchte Anne gleich die - indes harmlose - Situation zu entschärfen.
"Unsinn, wir waren doch alle mal jung."
"Wie sieht's aus", der ungeduldige Frank, "wollen Sie sich nicht zu uns setzen?"
Plötzlich ertönte ein lauter Aufschrei vom Rhein her. Die wenigen, die ihn hörten, suchten das Wasser ab, bis sie den Hilferuf geortet hatten. Auch Cora und Jochen hörten ihn und suchten nach ihrem kleinen Bruder. Im Hintergrund wurde der leblose Körper des Jungen von zwei starken Männern weggetragen, die verstörte Mutter im Schlepptau.
"Da ist er, der Junge da drüben!", rief jemand und deutete mit dem Finger auf den Fluss.
"Scheiße!" fluchte Jochen und riss sich seine Schuhe runter. "Wieso schwimmt der kleine Kerl nicht?"
"Hey, komm, der verarscht uns doch bloß."
Edgar ruderte mit seinen Armen, versuchte den Kopf über Wasser zu halten, schluckte dennoch einiges, weshalb er nicht weiter um Hilfe rufen konnte.
"Das riskieren wir besser nicht. Mach deine Eltern klar!" Jochen hechtete mit einem weiten Sprung in den Fluss und war schnell bei Edgar. "Schön Ruhe bewahren. Versuch ruhig und gleichmäßig zu atmen. Wir schwimmen jetzt an Land." Er umfasste den Jungen unter den Achseln und schwamm mit ihm zurück ans Ufer.
Cora rannte, was ihre Lungen hergaben, zu ihren Eltern und stellte mit Erleichterung fest, dass der Doc dabei war. Glück im Unglück hoffentlich. Die Erwachsenen und ihre Schwester hatten scheinbar gar nichts von Edgars Hilferufen mitgekriegt. Außer Atem kam sie bei ihren Eltern an.
"Schnell, Doktor, mein Bruder hat irgendwas!"
Sofort waren alle auf den Beinen, aber da kam auch schon Jochen angetrabt, mit ihrem Bruder auf den Armen.
"Hierher, schnell!" dirigierte der Arzt und griff nach seinem Koffer. "Legt ihn flach auf den Rücken, Vorsicht mit dem Kopf!"
"Mir ist kalt", krächzte der Verletzte, als die jungen Leute ihn hinlegten, so wie der Arzt sie angewiesen hatte.
Er zitterte am ganzen Leib, während der Mediziner ihn mit einem Stethoskop untersuchte. "Hmm."
"Nun sagen Sie schon, was ist los, was hat er?" Anne wurde angst und bange um ihren Sohn.
"Schwer zu sagen momentan." Jetzt tastete er vorsichtig den Thorax ab, bis runter zum Abdomen. "Hier kann ich nichts feststellen. Wenn's irgendwo wehtut, gibst du mir ein Zeichen, ja?" Edgar nickte mühsam. "Cora, erzähl doch mal, ist dir bei dem anderen Jungen irgendwas aufgefallen? Egal wie unwichtig es dir erscheint, jede Kleinigkeit kann uns weiterbringen."
Cora kam wieder zu sich: "Tja, ich weiß nicht. Der war ja schon tot, als ich ankam. Sah eigentlich ziemlich normal aus, würd ich sagen." Sie hielt inne. "Halt, vielleicht doch. Da war ein Krebs in der Nähe."
"Ein Krebs, sagst du?" Er kramte in seinem Notfallköfferchen herum, holte eine Spritze heraus, die er mit einem Serum aufzog. "Wahrscheinlich hat der Krebs ihm irgendwelche Gifte aus dem Wasser übertragen." Er verpasste Edgar die Spritze. "Das ist vorab ein Antiserum, um eventuellen Lähmungserscheinungen etcetera vorzubeugen, alles Weitere machen die Kollegen in der Klinik. Da stellen wir genaueres fest und können gezielt gegen angehen."
"Gott sei Dank", entfuhr es Anne. Sie hatte sich in die schützenden Arme ihres Mannes geflüchtet.
"Es steht also nicht so übel", hakte Frank nach.
"So haben wir zumindest etwas Zeit gewonnen. Wertvolle Zeit, wie ich bemerken darf. Und die haben wir eurem beherzten Eingreifen zu verdanken."
"Wird er denn wieder gesund werden?"
"Da hab ich keine Sorgen, der Rest ist ein Kinderspiel. Wir fahren jetzt gemeinsam ins Krankenhaus und heute Abend ist er wieder topfit."



Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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