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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Absprung

© Andrea Gebert


Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle des Leipziger Sackbahnhofes. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Bis vor wenigen Minuten war Hellmer fest entschlossen gewesen zu fahren. Er hatte bereits, die aufgeschlagene Zeitung vor sich, im Abteil gesessen, als er seine Meinung änderte. Buchstäblich in letzter Sekunde war er ausgestiegen, wohl wissend dass er wieder einmal vor sich selbst flüchtete.
Hellmer zog die nutzlos gewordene Fahrkarte aus seiner Brieftasche und zerriss sie nach kurzem Zögern. Dann stopfte er die Papierschnipsel in die leere Zigarettenschachtel und bewegte sich mit müden Schritten durch die Bahnhofshalle in Richtung Treppe.
Auf dem Bahnhofsvorplatz schlugen ihm die Gerüche der schlafenden Stadt entgegen. Eine Mischung aus Übersättigung und Einsamkeit, die ihm vertraut war. Hellmer stolperte über einen Pappteller mit Currywurstresten. Fleischstücke in roter Soße, die im Licht der Straßenbeleuchtung wie Gedärme aussahen, glotzten ihn an. Der aufsteigende Brechreiz ließ ihn zurück in den Bahnhof laufen. Er erreichte die Toilette und erbrach gelben Schleim in das Toilettenbecken. Mit beiden Händen schleuderte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, presste seine Stirn an den Spiegel und schloss die Augen.
Zurücktretend nahm er einen orangeroten Zettel wahr, der neben der Tür klebte.
"DER WEG IN DIE ZUKUNFT FÜHRT ÜBER DIE VERGANGENHEIT!
Erinnerungen! NEU!", stand darauf und darunter eine Adresse.
Verständnislos starrte Hellmer auf die Zeilen.
Las wieder und wieder den Satz, bis er einer plötzlichen Eingebung folgend den Zettel abriss und zur Straßenbahnhaltestelle gegenüber des Bahnhofs ging.
Hellmer hatte vergessen, dass es bereits weit nach Mitternacht war. In diesem Moment trug er nur das Wort "ERINNERUNGEN" in sich. Er würde zur angegebenen Adresse im Stadtbezirk Kotteritz fahren.
Fahle Morgendämmerung kroch über den Horizont, als sich endlich eine Straßenbahn der Linie 14 mit angestrengtem Quietschen näherte. Im leeren Wagen saß er in der dümpelnden Bahn, die sich gemächlich aus dem Stadtzentrum in die heruntergekommenen Vororte bewegte. Die belebte Innenstadt mit ihren verspiegelten Bürogebäuden und dem nie versiegenden Verkehrsstrom wich einer gespenstischen Szenerie. Dunkle Häusergestalten, aus deren toten Fenstern Verlassenheit starrte, drückten sich eng an jahrhundertealte Pflasterstraßen. Vernagelte Schaufenster und überpinselte KONSUM-Schilder erzählten von einstmaliger Geschäftigkeit. Ein dahin rostender Wartburg versteckte sich in einer Einfahrt. Flatternde Plakatfetzen leuchteten über abgeplatztem Putz. Die Bahn quälte sich um eine enge Kurve und bog in eine kastaniengesäumte Straße ein. "Cuvrystraße" las Hellmer und stieg an der nächsten Haltestelle aus. Er tappte von Haus zu Haus, bemüht im Zwielicht die richtige Hausnummer zu finden.
Dann sah er das schmale Fenster, in dessen Rahmen eine Pappe mit der Aufschrift: "ERINNERUNGEN hier erhältlich" steckte. Hellmer suchte an der Haustür nach einer Klingel. Als ihm bewusst wurde, dass es zu früh war, um irgendwo zu läuten, zuckten seine Finger zurück. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und das Gesicht eines alten Mannes, mit einer erloschenen Zigarre im Mund, erschien im Halbdunkel.
"Sie wollen zu mir, wollen eine Erinnerung haben? Treten Sie näher, junger Mann, ich will sehen, ob ich Ihnen helfen kann."
Überrascht und misstrauisch folgte er dem Alten, doch er dachte nicht daran, umzukehren. Der alte Mann öffnete eine Wohnungstür und führte ihn durch einen schlauchähnlichen Flur, an dessen Wänden deckenhoch Regale angebracht waren, in ein winziges Wohnzimmer.
"Nehmen Sie Platz", sagte der Alte und wies auf einen durchgesessenen Polsterstuhl. "Ich werde mich nun mit ihrem Geruch beschäftigen, um die Erinnerung, die Sie suchen, zu finden."
Hellmer wollte etwas erwidern, doch der Alte bedeutete ihm zu schweigen, und begann an ihm zu schnüffeln. Hellmer wurde ungeduldig und es war ihm lästig, dass der alte Mann an seinem Gesicht, seinen Händen und Haaren roch. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis der Alte schließlich zu einem Regal humpelte.
"Ich denke, ich habe die passende Erinnerung für Sie gefunden, junger Mann", nuschelte der alte Mann und gab Hellmer ein verstaubtes Fläschchen.
"Warten Sie, nicht so eilig, junger Mann. Ein Zuviel könnte sehr schmerzlich für Sie werden", rief der Alte, als Hellmer sich daran machte den Verschluss abzudrehen. "Sie müssen die Pipette benutzen und dürfen nur einen Tropfen auf ihren Handrücken träufeln. Vergessen Sie nicht, nur einen einzigen Tropfen!"
Hellmer drückte das Gummiköpfchen zusammen und sah die Flüssigkeit einströmen. Schwungvoll zog er die Pipette aus dem Fläschchen und betropfte seine Hand. Zwei oder drei feine Tropfen spürte er auf seiner Haut.
Sekunden später fühlte er sich von kreischenden Kinderstimmen und schmatzenden Wassergeräuschen umgeben. Er befand sich im Schwimmbad seiner Heimatstadt Suhl und atmete stechenden Chlorgestank ein, der sich mit dem Geruch von Sonnenöl und gebräunter Haut vermischte.
Sein Vater stand mit ausgestreckten Armen neben ihm auf dem Sprungbrett des Zehn-Meter-Turmes und demonstrierte die Absprunghaltung für den Kopfsprung. Dann richtete der Vater sich auf und sagte: "Du wirst springen, mein Sohn. Heute wirst du es tun. Ich hatte nie Angst vorm Turmspringen und du machst seit Wochen Theater wegen dieser lächerlichen zehn Meter. Zeig endlich, dass du mein Sohn bist und spring!"
Robert Hellmer war nicht gesprungen.
Nicht an diesem Tag und an keinem anderen und der Vater hatte lauthals "Du bist ein Versager" durch das Schwimmbad gebrüllt.
"Du bist ein Versager." Dieser Satz haftete an Robert, denn der Vater wiederholte ihn, als der Sohn das Gymnasium ohne Abschluss verließ, ebenso, wie nach den Fehlschlägen mit den Lehrstellen, in denen es Robert nicht ausgehalten hatte. Das letzte Mal hatte Robert diesen Satz gehört, als der Vater erfuhr, dass Vera sich von ihm getrennt hatte.
Seit dem Tod der Mutter, vor acht Jahren, herrschte Schweigen zwischen ihnen. Doch gestern Abend hatte seine Schwester angerufen. Der Vater lag nach einem Schlaganfall im Krankenhaus und Lotti beschwor Hellmer zu kommen.
"Junger Mann, hören Sie mich?"
Hellmer hatte vergessen, wo er sich befand. Er starrte den Alten, der sich besorgt über ihn beugte, verständnislos an.
"Danke, aber ich muss jetzt los." Er zog einen Geldschein aus seiner Börse, doch der alte Mann schüttelte den Kopf.
"Es sind Ihre Erinnerungen, weshalb wollen Sie dafür bezahlen? Wenn ich Ihnen helfen konnte, ist das Dank genug", murmelte er und brachte Hellmer zur Tür.
Robert Hellmer fuhr nicht in seine Wohnung. Er nahm den nächsten Zug nach Suhl. Für seinen persönlichen Absprung brauchte er keinen Zehn-Meter-Turm.



Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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