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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Socke

© Maria-Luise Kleineberg


In dem alten Radio, das er im letzten Sperrmüll gefunden hat, klingt es "Leise rieselt der Schnee".
Ergänzend zu dem Blasorchester tönt der Takt durch das stete Tropfen des schmelzenden Schnees, der durch die Ritzen der dünnen Holzdecke in den Zinneimer fällt. Der Ofen spendet ein spärliches Licht und nach Wochen des Frierens ist seine Stube heute warm. Tagelang ist er im Wald gewesen und hat die Reisigzweige auf seinem krummen Rücken heim getragen. Gestern in aller Frühe haben die Bewohner der Stadt Kisten mit Altpapier für die Müllabfuhr an die Straßenränder gestellt. Das war ein guter Tag für ihn. Diesmal ist er nicht in den Wald gegangen, sondern hat die Kartons in seine Kammer geschleppt bis er vor Erschöpfung eingeschlafen ist und vor Müdigkeit nicht einmal mehr den Ofen anfeuern konnte.
An diesem Morgen schaut er sich in seiner Kammer um. Die Strapazen der vergangenen Tage haben sich gelohnt. Es ist warm und heute Nachmittag wird er zu den Schwestern vom heiligen Franziskus gehen. Zu Weihnachten gibt es dort für ihn und seinesgleichen nicht nur ein fürstliches Mahl, sondern auch bunte Tüten und Päckchen mit Konserven, Brot und Schinken, von den Reichen der Stadt gespendet.
Die Sprecherin im Radio wünscht allen Hörern ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest. Dann spielen Flöten "Morgen kommt der Weihnachtsmann".
Er muss an seine Kindheit denken, an den gefüllten Strumpf über dem Kamin. Er denkt an die unzähligen Leckereien mit Lebkuchen und Marzipan, an das von Glühpunsch duftende Herrenzimmer der elterlichen Villa. an den Tannenbaum mit Äpfeln, Nüssen und Engelshaar. Er sieht in seiner Erinnerung die Mutter, neben sich das Holznähkästchen und in ihrer Hand die große Stopfnadel mit der sie einen Stapel durchlöcherter Strümpfe flickt.
Sein Blick geht an sich hinunter. Er schaut auf seine durchlöcherten Socken. Sein großer blau angelaufener Zeh malt Kreise auf dem Steinboden. "Mutter hätten diese Strümpfe gar nicht gefallen", spricht er zu sich selbst.
Er lauscht dem Flötenspiel. "Morgen kommt der Weihnachtsmann, bringt seine Gaben" Das Lied beschwingt ihn. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Für einen Moment vergisst er den beißenden Schmerz in seinem Rücken. Seine Hände greifen die Socke, kalt und feucht hält er sie vor sich.
Eine verwegene Idee kommt ihm in den Sinn. Vorsichtig öffnet er das alte Holzfenster. Der eisige Wind, der sein Gesicht streift, lässt ihn noch dankbarer über das flackernde Feuerschattenspiel an seinen vier Wänden werden. Seine Finger zittern vor Kälte und freudiger Erwartung. Seinen Socken hat er über die Zweige gehängt. Im Frühling versperrt der Busch den Blick durch die Scheiben. Jetzt steht er nackt und bloß und seine einzige Zierde ist der durchlöcherte, dreckige Socken des Alten.
"Morgen kommt der Weihnachtsmann! Bringt seine guten Gaben", der Alte hat den Refrain noch im Ohr. Er klingt wie eine Frage, bringt er auch mir gute Gaben, mir dem Verlierer, mir, dem Abschaum der Gesellschaft, mir, dem Vergessenen?
Der Glühwein und der Braten bei den Klosterfrauen wecken die Lebensgeister des Alten. Gläubig wie ein Kind schlürft er die Straße entlang nach Hause. Die Schwestern haben es gut mit ihm gemeint. Schokolade, Schinken, Brot und eine Dose Ravioli haben sie ihm mitgegeben. Weihnachten kann nun beginnen. Er hat für längere Zeit genug zu essen, ein warmes Zimmer.
Neugierig und voller Spannung öffnet er das Fenster und greift im Dunkeln nach der Socke. Sie ist leer. Es ist kindisch zu glauben, dass der Weihnachtsmann für mich eine gute Gabe übrig hat. Der Alte seufzt traurig. Enttäuscht streift er sich die vom Schnee durchtränkte Socke über die blutleeren Zehen. Ich bin auch vom Weihnachtsmann vergessen. Seine Augen füllen sich mit Tränen, der lodernde Feuerschein spiegelt sich in trüben Pupillen.
Mit einem tiefen Seufzer dreht er am Radiosender. Eine sympathische Männerstimme fordert die Zuhörer auf zum Funkhaus des Senders zu kommen. "Mach dich af die Socken", so lautet das Motto dieses heiligen Abends. Eine Werbekampagne des Senders in Zusammenarbeit mit einem bekannten Strumpfhersteller lockt mit einer Verlosung. Der Alte zuckt zusammen, als er die Höhe des Preises hört. Mit dieser Summe kann er den Rest seines Lebens in einem guten Seniorenheim verbringen. Diesmal spielen Violinen das Lied "Morgen kommt der Weihnachtsmann, bringt die guten Gaben". Der Alte schaut auf die schäbige Kuckucksuhr, gegenüber an der Wand. Er kann es schaffen, es ist noch genügend Zeit und das Essen hat ihn kräftig gemacht. Nur sein Fuß schmerzt von der eisigen Socke, die nass an seiner Haut klebt.
Der zerrissene Mantel will ihn nicht wärmen. Er könnte jetzt einen heißen Kaffee oder Glühwein vertragen. Seinen Schal hat er im Kloster liegen gelassen. Es kratzt in seinem Hals.
Mühsam schleppt er sich Fuß vor Fuß über den gestreuten Gehweg. Er schaut in beleuchtete Fenster und sieht die Menschen im Schein von silbrigem Lametta und Kerzenlicht. "Morgen kommt der Weihnachtsmann, bringt die guten Gaben". Die Melodie noch im Ohr treibt ihn weiter. Er will es versuchen, was hat er in dieser Nacht zu verlieren? Er will es wenigstens versucht haben.
Die zittrige Hand klebt am Klingelknopf des Funkhauses. Den Türsummer hat er überhört. Das grell geschminkte Gesicht der Frau, die ihm die Tür öffnet, nimmt er nicht wahr. Für ihn trägt jedes Gesicht in dieser Nacht einen langen weißen Bart unter gütigen, wissenden Augen. Der Moderator reicht ihm ein Mikrophon. Zwischen seinen schmutzigen Fingernägeln hält der Alte ein winziges Stück Papier. Alle Augen in dieser unwirklichen Welt zwischen Kabeln, Monitoren und Mikrophone sind auf ihn gerichtet. "Sprechen Sie jetzt!" Der Mann aus dem Radio lächelt ihm aufmunternd zu und der Alte beginnt leise zu sprechen. "Ich habe gewonnen. Ich habe wirklich gewonnen. Der Weihnachtsmann hat mich also doch nicht vergessen. Aber den Weihnachtsmann können wir vergessen. Denn das, was mir in dieser Nacht geschehen ist, kann nur vom Christkind kommen. Das ist ein Himmelsgeschenk, ein Wunder, das nur von Gott selbst kommen kann und nicht von einem Weihnachtsmann aus der Coca-Cola-Werbung. Das war bestimmt das Christkind!"
Der Moderator fällt ihm ins Wort. "Was machen Sie mit soviel Geld?" Der Alte lächelt. "Ich genieße mein neues Zuhause in einem Altenheim und stelle mir eine große Krippe in mein Zimmer, auch im Sommer. Das Jesuskind lege ich nicht in Stroh, sondern bette es auf meine alte durchlöcherte Socke. Dann habe ich das Christkind immer bei mir.



Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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