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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Cappuccino

© Jelger Beckmer


Der Kellner stellte ihm einen Cappuccino auf den runden Steintisch unter dem Sonnendach, in dessen Schatten er sich vor der jetzt am frühen Morgen noch schwach scheinenden Sonne verbarg.
Einen Cappuccino, nicht diesen in den letzten Jahren in seiner Heimat immer häufiger servierten Bastard, der gleich seinem französischen Verwandten, eine viel zu große Menge Milch in sich barg und so den eigentlichen Vater dieses Getränkes kaum noch erahnen ließ.
Einen Cappuccino, erst recht nicht diesen ordinären Kaffee, der unter einem üppigen Sahnehäubchen verborgen, bevorzugt älteren Damen gereicht wird, die diesen hochstaplerischen Zeitgenossen bevorzugt mit einem gleichfalls üppig mit Schlagsahne bedeckten Stückchen Erdbeertorte verzehren.
Doch der Anblick dieses munter schwatzenden Kränzchens im Garten eines auch unter freiem Himmel noch muffig anmutenden Cafés verschwand nun beim Anblick dieses mittelalterlichen Platzes ebenso, wie der selbsternannte Freizeitgourmet, der nach reichhaltigem Mahl bei seinem Italiener, meist türkischer, fast immer orientalischer Abstammung, noch einen Cappuccino bestellt.
Es war der Anblick dieser kleinen Tasse, auch wenn das kleine Papiertütchen mit dem süßen Inhalt, welches lediglich außerhalb der Bar auf den Rand der Untertasse gelegt, nur ein unzureichender Ersatz war für die, einen langstieligen Löffel umschließende metallene Zuckerdose, die hier auf jedem Tresen stand. Es war kaum mehr als ein Schluck, doch dieser versicherte ihm, er war in Italien.
Doch war er sich der Besonderheit dieses Augenblicks wirklich bewusst? Waren seine Gedanken nicht schon zwei Stunden weiter, im Nachbarort, wo er auf einer kleinen Bank warten wollte? Warten, wie ein schlechter Detektiv in einem schlechten Film mit der aktuellen Ausgabe der La Repubblica schützend vor seinem, die nordeuropäische Herkunft verratenden Gesicht. Seit Monaten hatte er dies so geplant, genau seit jenem Tag, an dem seine Frau ihn mit seiner Tochter verlassen hatte, um nach Italien zu ihren Eltern zurückzugehen.
Die Bar begann jetzt sich zu füllen. Männer in Arbeitskleidung kamen herein, tranken einen Espresso und rauchten eine Zigarette. Dann holten sie einen zerknitterten Geldschein aus der Tasche und ließen ihn auf dem Tresen liegen. Sie riefen dem Kellner noch ein kurzes Ciao zu und verschwanden wieder in einer der zahlreichen Gassen, die zu diesem Platz führten.
Auch in den Geschäften mit ihren von der Sonne ausgeblichenen Fassaden, denen auch das gelegentliche Bestreichen mit frischer Farbe nur für kurze Zeit Glanz verleihen konnte, erwachte nun das Leben. Ein Zeitungskiosk verteilte die zuvor sorgsam verschnürt vor der Tür liegenden Pakete, auf bewegliche, drehbare Ständer, die er aus der Dunkelheit seines Inneren an das Licht des Morgens entließ. Der Besitzer ließ sich nach verrichteter Arbeit an der Bar nieder, um ein Schwätzchen zu halten. Seine ersten Kunden legten abgezähltes Geld in das offene Fenster, aus dem heraus er später, den Tag über, seine Kunden mit jenen Neuigkeiten versorgen würde, die sie in keiner der angebotenen Zeitschriften lesen konnten.
Er würde ins Ausland gehen müssen. Ein Kindermädchen würde sich um seine kleine Tochter kümmern, während er bei der Arbeit wäre.
Das Plätschern des mit den Jahren verwitterten Brunnens vor dem Hintergrund der bleichen Fassaden war durch die plötzlich einsetzende Geschäftigkeit um ihn herum kaum noch wahrzunehmen. Er dachte bei diesem Anblick daran, dass nach zwölfstündiger Fahrt in seiner Limousine Untertürkheimer Bauart er noch eine Weile an diesem Ort verweilen sollte, den sie früher oft zu zweit und später zu dritt besucht hatten. Er sah den Kinderwagen seiner Tochter, wie er allein vor dem Portal der Kirche in der Morgensonne stand.
"Buono, Alessandro", eine Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er sah nun wirklich einen Kinderwagen und vor diesem stand eine Frau, deren Äußeres verriet, dass es für diesen unsichtbaren kleinen Mann bald an der Zeit wäre, auf eigenen Füßen durchs Leben zu tapsen, da er sein jetziges Gefährt an eine Schwester oder einen Bruder würde abtreten müssen. Die Frau stellte ihre Einkaufstaschen auf den Boden, und da der Kinderwagen unvermindert weiter krakeelte, warf sie einen Hilfe suchenden Blick über den Platz, der den seinen traf. Er schenkte ihr ein Lächeln, welches wohl den Vater in ihm verriet, da sie es erwiderte. Alessandro hatte sich schon längst beruhigt und war mit seiner Mutter in der Via Garibaldi am nördlichen Ende des Platzes verschwunden, als es ihm bewusst wurde, dass ein Lächeln hier viel leichter erwidert wurde.
Es war doch noch jedes Mal um so vieles ruhiger zugegangen, wenn sie gemeinsam ihre Eltern besucht hatten. In den ersten Jahren hatte er diese Zeit genießen können, doch in der letzten Zeit hatte er immer häufiger am Küchentisch gesessen, dem einzigen Ersatz für den nicht vorhandenen Schreibtisch, während seine Frau mit der kleinen Tochter ans Meer fuhr. Oft kam sie noch einmal zurück, wenn sie etwas vergessen hatte. Sie stand dann einen Augenblick in der offenen Tür und schaute ihn an. Meistens bemerkte er sie gar nicht, war schon zu sehr in seiner Arbeit versunken. Sie vergaß häufig etwas und ließ dann ihre, ließ seine Tochter allein im Auto warten.
Diesen Umstand wollte er sich jetzt zu Nutzen machen. Er würde die La Repubblica beiseite legen und zu ihrem Auto herüber gehen. Er würde seine Tochter begrüßen und sie würde mit ihm mitgehen, es erschien ihm alles so einfach. Er würde nicht viele Tage warten müssen, er war sich sicher, dass er seine Gelegenheit bekäme.
"Mama, volglio un gelatino". Ein kleiner Zeigefinger verharrte an weit ausgestreckten braungebrannten Ärmchen. Keinen Meter über dem Boden wies ein Finger auf den Tresen der Bar. Doch seine Mama schüttelte fast verzweifelt ihren Kopf, worauf die Forderungen nur noch eindringlicher wurden. Zwei ältere Herren, die anscheinend alle ihre Vormittage in dieser Bar verbrachten, unterbrachen ihre Diskussion über die bestmögliche Aufstellung der lokalen Fußballformation. Auch der Barmann mischte sich jetzt in das mittlerweile hitzig geführte Gespräch ein, das die Mutter mit abwehrenden Gesten begleitete. Es war jedoch kein Geschäftsinn, der ihn dazu bewegte, sich an das Ende des Tresens zu begeben, an dem er die Eiscreme aufbewahrte.
Schon lief er mit einer großen Waffel hinter der Frau her, die mit ihrem sich noch immer heftig widersetzenden Sohn, sie zog ihn fast wie ein zu schweres Gepäckstück hinter sich her, bereits einen gutes Stück des Platzes überquert hatte. "Setz es mir auf die Rechnung, Sergio" rief ihm, als er zurückkehrte, der Eisenwarenhändler von nebenan zu, der sich gerade aus Langeweile damit beschäftigte, das kurze Stück Straße vor seinem Geschäft zu fegen. "Sie hat es nicht leicht, seit der Sache damals ...", erklärte er dem Gast aus dem Norden.
Mehr als einmal sollte sich im Laufe des Tages jemand zu ihm an den Tisch setzen, um das Gespräch mit ihm zu suchen, sobald er bemerkte, dass er trotz seines fremden Aussehens ihre Sprache verstand. Vielleicht konnte er ja etwas Interessantes zu erzählen haben und wenn nicht, so mochte er womöglich ein guter Zuhörer sein.
In der Bar war es ruhiger geworden. Die meisten Kunden waren nach dem Frühstück zur Arbeit gegangen, nur noch gelegentlich unterbrach ein Fußgänger seinen Weg für eine kurze Rast. Doch jetzt hatten sie mehr Zeit um ihren Kaffee zu trinken und so blieb auch mehr Zeit für ein kurzes Gespräch.
Er schaute auf die Uhr. Er war überrascht, wie weit der Vormittag schon vorangeschritten war. Doch obwohl es wahrscheinlich noch nicht zu spät war für sein Vorhaben, bedeutete er Sergio mit einer kurzen Geste, ihm einen weiteren Cappuccino zu bringen. Er hatte ohnehin nicht angenommen, schon am Tag seiner Ankunft erfolgreich zu sein. Nun saß er unter dem Sonnendach, den Cappuccino vor sich auf dem Tisch und überlegte, wann er zum letzten Mal fast einen ganzen Vormittag in dieser Weise verbracht hatte. Nur für sich selbst. Niemand war da, der ihn unterbrach oder der ihn bedrängte, er saß in aller Ruhe und zum ersten Mal seit langer Zeit genoss er es. Er zählte die Zigaretten in seinem Aschenbecher. Nur zwei ausgedrückte Filter lagen darin, richtig, er hatte bisher auch nur zwei Cappuccino getrunken.
Das Klingeln einer Schulglocke, die sich schon vorher gelegentlich hatte vernehmen lassen, verriet ihm, da sie nun von lauten, durcheinander rufenden Kinderstimmen abgelöst wurde, dass wohl die erste große Pause begonnen hatte. Er kannte die Schule von zahlreichen gemeinsamen Spaziergängen und obwohl die Sicht auf den großzügigen Bau vom Platz her durch die Kirche verdeckt war, konnte er sich die Horden der Schüler vorstellen, wie sie aus dem großen Tor herausströmten. Seine Frau war einmal unter ihnen gewesen.
Seine Tochter sollte es bald sein.
Das Café füllte sich erneut. Dieses Mal mit den Schülern der höheren Klassen, die ihr Taschengeld in ein Glas Eiskaffee anlegten und sich dabei im gesellschaftlichen Umgang erprobten. Die Mädchen ignorierten dabei nur scheinbar ihre etwa gleichaltrigen Mitschüler, die sich so noch mehr um Aufmerksamkeit bemühten.
Kurze Zeit später leerte sich die Bar ebenso plötzlich wie sie sich gefüllt hatte. Von der fernen Schulglocke gerufen, eilten die jungen Menschen gemeinsam zurück, bis auf eine kleine Gruppe Mädchen, sie schienen das einmal begonnene Gespräch für wichtiger zu erachten, als die Vermittlung des Englischen oder der Biologie. Sie blieben an ihrem Tisch und setzten ihr Gespräch über die neueste Mode oder ihre Verabredungen des Abends fort.
Er wollte er sich jetzt um ein Zimmer in dieser kleinen Pension in der Via del campione nell' anno 1912 bemühen, die ihm stets von außen so gut gefallen hatte, so dass er sich noch jedes Mal, wenn sie die Straßen entlang spazierten, gefragt hatte, ob sie wohl in ihrem Inneren ebenso liebevoll eingerichtet war, wie es die aus rotem Ton gebrannten Blumenkübel und die kleine hölzerne Bank versprachen.
Sicherlich könnte er auch jetzt noch versuchen, in den Nachbarort zu fahren, eine mögliche Gelegenheit abwarten, um dann gemeinsam mit seiner Tochter in sein neues Leben aufzubrechen. Doch irgendwie hatte er seine Eile verloren und dachte für den Augenblick eher daran, eine Kleinigkeit zu essen und anschließend auf den ihm schon so vertrauten Platz zurückzukehren.
In der Bar trafen nun nach und nach dieselben Männer ein, die er schon vom frühen Vormittag her kannte. Doch jetzt schienen sie, nach der gemeinsam mit der Familie genossenen Mahlzeit, weniger in Eile. Spätankömmlinge wurden zum Teil mit großem Hallo begrüßt, Menschen, die sich am Morgen verpasst hatten, fanden nun die Zeit für eine längere Unterhaltung. Er konnte den Gesprächen entnehmen, dass es sich um Freundschaften handelte, die wohl seit einem Leben bestanden. Wahrscheinlich hatten auch sie ihre Schulpausen hier verbracht.
Er dachte an seine eigene Schulzeit zurück. Auch er hatte damals häufig die Zeit gefunden, mit seinen Klassenkameraden in einem Café zu sitzen. Auch sie hatten so manches Mal eine Unterrichtsstunde versäumt. Was war aus seinen Freunden von damals geworden? Begann er, die Menschen in dieser Bar ein klein wenig zu beneiden?
Die beiden alten Männer, die von einem Spaziergang zurückgekehrt waren und ihn an vertrautem Platz sitzend angetroffen hatten, begrüßten ihn mit einem Nicken. Er war bereits akzeptiert und zu einem Teil der Gesellschaft dieses Platzes geworden. Ein paar Jungs kehrten mit ihren Mofas zurück und anstatt ihre Hausaufgaben zu machen, störten sie die ansonsten beschauliche Ruhe auf dem in der Sonne menschenleer daliegenden Platz. In die Bar selbst kamen sie nicht, gab es dort nun auch niemanden, den sie hätten beeindrucken müssen.
Nur einmal stellte einer sein Mofa ab, um von seinem Vater oder Onkel ein paar Geldscheine zu erbitten, welche ihm jedoch nicht ohne Ermahnungen und Ratschläge gegeben wurden. Nach und nach gingen die Männer zum zweiten Mal an diesem Tag zur Arbeit. Die Sonne schien nicht mehr so stark und doch war es noch immer sehr heiß. Es wurde wieder ruhiger und Sergio, der Barmann, saß auf einem Stuhl hinter dem Tresen und schien zu schlafen.
Er dachte jetzt wieder an seinen Plan und es erschien ihm schon etwas unwirklich, hatte er nicht sogar in den letzten Wochen alles bis hin zum letzten Detail geplant? Alles dies war ihm zuvor so logisch, so nachvollziehbar erschienen. Er wollte mit seiner Tochter zusammen sein.
Immer, wann immer er wollte. Doch wie oft würde das wirklich sein?
Er hatte eine ganze Weile das Leben um ihn herum gar nicht mehr wahrgenommen. An den anderen Tischen saßen nun vornehmlich Familien, die auf dem Heimweg von den abendlichen Einkäufen vor einer Portion Eiscreme Platz genommen hatten. Kleine, noch ungeübte Finger verteilten die kühlende Süßspeise mehr über ihre Kleidung, als dass sie ihren schokoladenverklebten Mund trafen. Mütter kramten feuchte Tücher aus ihren Handtaschen hervor, während die Kinder auf den Schössen ihrer Väter herumalberten.
Was war mit ihm passiert? War ihm nicht heute Morgen noch alles so klar erschienen? Auch seine Kollegen hatten ihm zugestimmt. Er habe das Recht, seine Tochter zu sich zu holen. Aber war es wirklich auch das Beste für sie?
Wollte er, dass sie so wie er lebte?
Die Geschäfte des Platzes waren schon lange geschlossen. In der Bar saß jetzt nur noch ein junges Pärchen, das nach dem Kinobesuch ein Glas Wein zusammen trank. Doch auch sie bezahlten und standen auf. Sergio wischte bereits die Tische und schien sich nun auch auf seinen Feierabend zu freuen.
Er fragte seinen Gast mehr aus Höflichkeit, ob er noch einen letzten Wunsch habe. Doch auch für ihn war es jetzt Zeit zu gehen. Er erhob sich von dem Tisch, der ihm im Laufe dieses Tages so vertraut und so liebenswert geworden war. Er ging über den Platz, jedoch nicht in Richtung der Pension, in der er eigentlich auf den nächsten Tag warten wollte. Er setzte sich in sein Auto und dachte, Cappuccino schmecke doch nirgendwo so gut wie in Italien.



Eingereicht am 18. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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