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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Glück im Schatzkästchen

© Michael Schnitzenbaumer


Kurz vor der Mittagszeit, etwa gegen halb zwölf, streifte meine Tochter Lena, wie ein unruhiger Tiger durch unsere Wohnung, obwohl ihr Schnupfen sie eigentlich ans Bett hätte fesseln müssen. Wäre ihre Mutter zugegen gewesen, sie hätte meinen kleinen Sonnenschein sofort gepackt und mit rügenden Worten und einer Wärmflasche in die Decke gewickelt, und obendrein am liebsten alle Bakterien, die einem fünfjährigen Mädchen Verdruss bereiten konnten, wie lästige Fliegen verscheucht.
Ich nahm es da ein wenig lockerer, ließ Lena ihren Willen, zumal, so vermutete ich, wäre sie ohnehin gleich wieder aufgesprungen und hätte ihre Freude daran gehabt, mich zu ärgern, und mir die Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Ich tüftelte zu jener Zeit an einer Geschichte für meinen Verlag; der nahm es mit dem Abgabetermin sehr genau. Dieser war am folgenden Tag. Mein Manuskript musste also fertig werden.
Indessen spazierte Lena mit unglücklicher Miene von Zimmer zu Zimmer, in ihren Händen ruhte das kleine rote Schatzkästchen aus Holz, das ihr Oma aus Spanien mitgebracht hatte. Immer wenn sie an der halb geöffneten Türe meines Arbeitszimmers vorbei kam, beobachtete ich, wie sie das Kästchen so vorsichtig beäugte, als könnte es bei einem zu scharfen Blick zersplittern. Hin und wieder murmelte sie leise: "Schlimm, schlimm, schlimm!" Dann war sie an der Tür vorbei getrottet.
Schließlich geschah es! Ich hatte es befürchtet. Lena betrat mein heiliges Reich und trippelte auf mich zu. Gar nicht hinsehen, dachte ich. Die Geschichte, Wolfi! Denke an das Manuskript!
"Schlimm, schlimm!", flüsterte sie, bedachte das Kästchen mit einem traurigen Blick und schaute dann hoffnungsvoll zu mir hinauf.
Bitte Lena! Der Augenblick ist nicht günstig!
Vielleicht geht sie ja wieder, wenn ich sie gar nicht beachte und schwer auf meine Tastatur einklopfe. Der Bildschirm schien plötzlich sehr interessant zu sein. Ich starrte angestrengt dagegen. Doch ich hätte es besser wissen müssen.
"Schlimm, schlimm, schlimm, schlimm!" Ertönte es energischer.
Ich seufzte. Nein! Natürlich kümmerte Lena Papas Termindruck wenig. Wer will es ihr vorwerfen.
"Na, Sonnenschein? Was ist denn so schlimm?"
Wo ist Susanne, wenn man sie mal braucht?
Meine Frau konnte wunderbar mit den Sorgen der Kinder umgehen. Ich dagegen besitze andere Stärken.
"Da guck! Der Schlüssel, für mein Kästchen. Ich hab' ihn verloren. Und jetzt geht es nicht mehr auf!"
"Wo hat du ihn denn hingelegt?"
"Ich hätte ihn doch nicht verloren, wenn ich das wüsste!"
"Keine Sorge! Er wird sich schon wieder auffinden, dein Schlüssel. Lass mich nur noch ein paar Seiten schreiben, danach helfe ich dir suchen." Ich streichelte ihr tröstend über das blonde, feine Haar, bevor ich mein Augenmerk wieder dem verzweifelt unfertigen Manuskript zuwandte.
"Aber was ist, wenn ihm die Luft ausgeht?" Erklang Lenas dünne Stimme.
"Wem geht die Luft aus?" Leider schien Lena hartnäckig bestrebt, mich am Schreiben zu hindern.
"Na, dem Glück!"
"Dem Glück?" Meinen verwunderten Gesichtsausdruck brauche ich nicht weiter zu erwähnen.
"Ja! Heute Früh hat das Glück an mein Fenster geklopft, da hab ich's hereingelassen und dann in das Kästchen getan. Es war gar nicht groß, das Glück und hat prima hineingepasst. Und es hat sich sehr für mein Puppenkissen bedankt, weil es jetzt so gemütlich in dem Kästchen ist. Das hat es gesagt! Aber jetzt finde ich den Schlüssel nicht mehr."
Manchmal erfindet Lena schon drollige Geschichten.
"Du hast also das Glück in dein Schmuckkästchen gesperrt. Habe ich das soweit richtig verstanden?"
Lena nickte mit einem großen, beipflichtenden "Mhm!"
"Das Glück?"
"So hat es sich vorgestellt."
"Und? Wie sieht es denn aus, das Glück?" drängte sich mir die Frage auf. In meinen Gedanken sah ich einen winzigen Leprechaun mit einem goldenen Hufeisen zornig gegen den Deckel des Kästchens klopfen.
"Wenn wir den Schlüssel finden, kann ich's dir zeigen", antwortete Lena geheimnisvoll.
Nun hatte ich ein großes Problem, da ich für gewöhnlich an solche abstrakten Dinge, wie Glück nicht glaubte. Doch wie sollte ich Lena erklären, dass es so etwas wie Glück nicht gäbe, und dass es daher weder an fremde Fenster klopfen noch sich in einem Schmuckkästchen bequem machen kann. Ich konnte doch nicht damit herausplatzen, dass sich in ihrem Kästchen vielleicht ein paar Flöhe oder abgekaute Fußnägel befänden, sicher aber nicht das Glück.
"Hör zu, Lena!" Ich beschloss, diese harte Wahrheit auf ein andermal zu vertagen. "Dein Glück hat Glück, denn im Gegensatz zu uns braucht es keine Luft. Du kannst also das Kästchen ruhig beiseite stellen, bis ich mit meiner Arbeit fertig bin."
"Hast du das Glück auch schon mal getroffen?"
Abermals entfleuchte mir ein großer Seufzer. "Nein, Sonnenschein! Diese Ehre hatte ich bisher nicht."
"Dann kannst du doch gar nicht wissen, ob es Luft braucht."
Verflixt! Es half nichts! Der Schlüssel musste her, wenn der Held meiner Geschichte noch an diesem Tag sein wohlverdientes Happy End erleben wollte. Also assistierte ich Lena bei ihrer Suche. Zuerst in ihrem Zimmer, dann in der Küche, wo Lenas angekautes Frühstück, eine Brotscheibe mit Pflaumenmus, traurig auf dessen restlichen Verzehr wartete. Auch in der Essecke im Gang, unter Susannes Versandhauskatalogen zeigte sich der Schlüssel nicht.
Dann stellten wir das Wohnzimmer auf den Kopf. Plötzlich hörte ich Lena. Ein schriller Schrei, der mich erschaudern ließ.
"Was ist los!" Ich hastete besorgt zu ihr.
Doch Lena hopste zum Schrank, auf dem unsere gerahmten Familienfotos Platz gefunden haben.
"Jetzt weiß ich's wieder!" Lena stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den rechten Arm weit nach oben und betastete die Abstellfläche, denn zum Hinaufsehen war sie noch zu klein.
"Ich hab ihn!" Und wirklich! Selig hielt sie den Schlüssel in ihrer Faust.
"Da war er? Warum hast du ihn neben die Bilder gelegt?"
"Ich wollte dem Glück meine Familie zeigen. Aber dann rief Mami zum Frühstück, und dann ist sie arbeiten gegangen und ich hab's vergessen." Darauf tänzelte Lena summend davon, und wedelte triumphierend den Schlüssel herum.
"Hey!" rief ich ihr nach. "Warte! Du wolltest mir doch zeigen, wie das Glück aussieht."
Lena aber hörte nicht mehr. Schon war sie in ihrem Zimmer verschwunden. Schade! Ich hätte schon sehr gern gewusst, wie Lenas Glück denn aussah.
Nicht zu ändern, dachte ich und zuckte mit den Achseln.
Endlich! Friede! Nun an die Arbeit!
Ich wollte schon den Weg zum Schreibtisch antreten, da ließ mich ein Gedanke innehalten. Ich blickte auf die Bilder.
Sie zeigten Susanne und Jens, Lenas älterer Bruder, der gerade in der Schule lernte, Lena selbst und mich, bei verschiedenen Anlässen oder Ausflügen, die uns in angenehmer Erinnerung geblieben waren, und da sah ich es!
So viele Jahre mussten vergehen, bis es mir endlich möglich war, es auf den Fotos zu entdecken. Lag es an den unzähligen, oft monotonen Tagen meiner Ehe, die nicht immer ohne Entbehrungen und Streit verstrichen waren? Lag es an den Zeiten, in denen ich mich nach einem Leben alleine sehnte; ohne Pflichten, ohne Sorgen um die Zukunft der Kinder, ohne den Druck den ein Familienleben mit sich bringen kann? Haben mich diese Zeiten, auch wenn sie vergingen, blind gemacht?
Egal! Denn ab jenem Tage wusste ich: Das Glück hat mich schon viele Jahre begleitet. Und wie sieht es aus?
Es sieht aus, wie Susanne, meine Frau, die mir zur Seite steht. Es sieht aus, wie meine kleine Lena, tollt in Form eines fröhlichen Mädchens in der Wohnung herum, es sieht aus wie Jens, mein oft mürrischer aber ehrgeiziger Sohn.
Ich habe nie herausbekommen, was Lena wirklich in ihrem Kästchen verbarg, aber wer weiß? Vielleicht war tatsächlich das Glück bei ihr zu Besuch. Das kleine Glück, das oft ganz unvermutet an unser Fenster klopft.



Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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