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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Flieger

© Peter Brand


Onkel Martin war der große Bruder meines Vaters und verheiratet mit Tante Joan, einer gebürtigen Amerikanerin, und weil tapfere Vertreter der USA bald auf dem Mond landen sollten, gab es 1968 auch in unserer Familie allerhand Gesprächsstoff über die Raumfahrt und das Fliegen an sich. Ich war zehn als wir im September jenes Jahres bei Onkel Martins Familie eingeladen waren, und vor allem brannte ich auf die Antwort der für mich alles entscheidenden Frage: konnte mein Onkel tatsächlich fliegen, wie mein Cousin behauptet hatte!
Dunkle buschige Augenbrauen und ein tiefer Bass verliehen Onkel Martin eine optische und akustische Autorität, die mir schmächtigem Zwerg Angst machte. Doch selbst seine hünenhafte Leibesfülle richtete nichts gegen die Macht von Tante Joans guten Dollars aus, die ihnen eine bevorzugte Wohnlage ermöglichte, außerhalb der Stadt in einer neu gebauten Reihenhaussiedlung. Wie ich den Worten meiner Eltern entnehmen konnte, hatte Tante Joan das Sagen. Um uns auch einmal etwas Gutes zu gönnen, lud sie uns, die wir zu dritt in einer lauten und engen Stadtwohnung lebten, zu einem "Barbecue" in ihrem Vorgarten ein.
Die Vorfreude meiner Mutter hielt sich in Grenzen, denn sie fürchtete die fatalen Auswirkungen von Onkel Martins Weinkeller auf Papas Gemütslage! Mein eigenes Verhältnis zu dieser Familie war ebenfalls gespalten. Ich freute mich auf meinen Cousin Manfred, der in meinem Alter war und eine gigantische Spielzeugeisenbahn besaß, weniger auf meine Cousine Babsi, die mit ihren vierzehn Jahren tat, als wäre das an sich schon eine tolle Leistung. Und dann war da noch Onkel Martin und sein nicht gelüftetes Geheimnis, das mich gleichermaßen faszinierte wie ängstigte.
Tante Joan trug ihre blondierten Haare als turmhohe Bienenstockfrisur, wodurch sie selbst Onkel Martin um eine Lineallänge überragte. Ihre schmalen Lippen schminkte sie in einem fettigen, hellen Schweinchenrosa, als hätte sie ihren Mund nach dem Essen nicht abgewischt, und ihre riesigen Augen sahen ständig müde aus. Meine Mutter hielt Mode und Schminken für etwas Unanständiges und somit Tante Joans liederlichen Schlafzimmerblick für eine Auswirkung der Schwerkraft ihrer fächergroßen falschen Wimpern. Auch sonst hielt sich meine Mama Tante Joan gegenüber immer etwas bedeckt, woran Tantchens tiefer Ausschnitt und Papas unverhohlene Blicke darauf nicht ganz unschuldig waren.
Das Haus stand am Rand einer riesigen Baustelle. Eigentlich waren es fünf miteinander verbundene, blassgrün gestrichene Würfel mit einem handtuchgroßen Vorgärtchen zur Straßenseite und einem Korridor ähnlichen Terrassenstreifen auf der Rückseite. Da diese Familie die einzige in unserer Verwandtschaft war, die sich so etwas leisten konnte, umgab sie ein gewisses Flair des Anrüchigen. Niemand kam anständig so schnell zu sowas, brodelte die familiäre Gerüchteküche. Wir fuhren trotzdem hin!
"Grüß euch!", rief Onkel Martin jovial, nachdem wir uns aus dem Käfer geschält hatten. Als er mich ansah, hüpfte der Wald aus Augenbrauen auf seiner Stirn, und er grinste breit. Sein Gesicht war rosig, fleischig und mit einer platten Boxernase ausgestattet. Ich beschloss, keine wirkliche Angst vor ihm zu haben. Er weckte in mir ein bis zu diesem Zeitpunkt kaum erfahrenes Gefühl, einen Cocktail aus Respekt vor diesem riesigen Erwachsenen, familiärer Bindung und der Vorstellung, er hätte überirdische Kräfte. Wenn er wirklich fliegen kann, dachte ich schwammig und voller Übelkeit nach der holprigen Fahrt auf dem Rücksitz, dann braucht er mindestens einen Raketenantrieb wie den von Apollo, um diese Masse von der Erde zu heben!
Er trug eine grüne Kochschürze, eine Extraanfertigung aus Zeltplane, und auf dem Bauch wölbten sich zwei gekreuzte gelbe Kochlöffel. baumstammdicke Bizeps spannten die hoch gekrempelten Ärmel seines Holzfällerhemds, und obwohl wir schon einmal hier waren, fielen mir erst jetzt seine behaarten Unterarme auf. Wie Federn im Septemberwind bewegten sich hunderte langer schwarzer Härchen auf seinen muskulösen Ellen. Dann bat er uns ins Haus.
Ich zögerte noch. Eine unbestimmte Vorahnung überfiel mich. Was, wenn wir hier nicht wieder weg kamen! Und was bedeutete eigentlich "Barbecue"? Menschenopfer? Unser roter Brezelfenster-Käfer würde traurig am unbefestigten Straßenrand auf uns warten, morgen, übermorgen, und irgendwann Rost ansetzen. Von der nahen Autobahn würden weiterhin metallische Lichtblitze herüberzucken, reflektiert von rasenden Chromstangen in herbstgreller Sonne. Über die wild bewucherten Aushubhügel würden immer noch die Automotoren wie vorbei fliegende Hummeln zu hören sein. In die graue Mondlandschaft rings um das Reihenhaus würden nach dem Wochenende wieder die Bauarbeiter einfallen, und entwurzelte Baumstümpfe ihre vertrockneten Glieder Hilfe suchend gen Himmel recken. Aber ich, Peter, und meine lieben Eltern blieben für den Rest der Menschheit in der Zeit verschollen. Ein Rätsel!
"Kommst du nicht rein, Kleiner?" Babsi! Ihre Stimme, quietschend wie ein ungeöltes Fahrrad und albern kichernd, riss mich von einem Alptraum in den nächsten. Ich fuhr herum und Babsis blasses, sommersprossiges Gesicht sah mich mit Verachtung von oben herab an. Sie trug ein froschgrünes, ärmelloses Kleid, und künstlich gedrehte Locken wippten kupferrot auf ihren nackten weißen Schultern. Obwohl sie bleich und rothaarig war, besaß sie kräftige und dunkle Brauenbögen, die sie nur von ihrem Vater geerbt haben konnte. Sie genoss es sichtbar, auf mich herab zu blicken und stichelte: "Hast wohl deine Schmusedecke vergessen, Linus!" Gemeinheiten waren ihre Spezialität. Dann zog sie die Tür zu, und ich stand im plötzlich dunklen Flur.
"Peeezi!" Wie ich diese Verniedlichung meines Namens hasste! Ich kam endgültig wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, die Stimme meiner Mutter kam überdreht gesüßt aus dem Wohnzimmer. "Komm und lass dich anschauen, wie du gewachsen bist!"
Noch nie hatte ich kapiert, warum Onkel und Tanten so begeistert taten, wenn man das macht, was für Zehnjährige in der Regel selbstverständlich ist. Wachsen. Wenigstens hatten sie keine Messlatte zur Hand!
Ich fragte mich langsam, wo mein Cousin Manfred eigentlich war. Er schien sich klugerweise vor der Begrüßungszeremonie verdrückt zu haben, während Cousine Babsi die Komplimente meiner Eltern huldvoll entgegennahm. ("Nein sowas! Bist du aber eine feine Dame geworden!" "Und so hübsch!")
Sie wurde nicht einmal rot, als mein Vater das sagte und wohl ihren Busenansatz meinte, der zweifelsohne unter dem grashüpfergrünen Stoff vorhanden war. Wie wir später noch erfahren durften, entstammte das Kleid dem Fundus ihrer Mutter, ebenso, dass Tante Joan es immer noch gut selbst tragen konnte.
Bis sie sich von dem "entzückenden" Mädchen losgerissen hatten verging eine ganze Weile und meine Mutter war es endlich, die mit einem verständnisvollen Blick auf meine Wenigkeit nach Cousin Manfred fragte. Onkel Martin räusperte sich umständlich und Tante Joan ließ in ihrem unverwechselbaren Jargon verlauten "Ouh, er ist in seine Simmer, you know. Er ist kränklich", was nur bedeuten konnte, Manfred hatte etwas ausgefressen, oder er war "stinkig". Ich grinste verbissen.
Völlig überraschend legte mir Onkel Martin seine schwere Pranke auf die Schulter und brummte gutmütig wie ein Bär: "Aber nicht ansteckend. Kannst ihn ruhig besuchen!" Seine kleinen, dunklen Augen unter dem Brauen-Gestrüpp glänzten feucht, und die Krähenfüße daran bildeten milde lächelnde Furchen, während er auf mich herunter schaute. So nahm er mir ein weiteres Stückchen Furcht vor diesem Koloss. (Vielleicht konnte er ja wirklich fliegen?)
Es bedurfte nur noch eines Zustimmung heischenden Blickes zu meiner Mutter und deren Nicken, und ich stürmte ins obere Stockwerk. Onkel Martins Sohn besaß ein eigenes Zimmer! Für mich hätte es das Paradies auf Erden bedeutet, nicht im Wohnzimmer auf der Couch schlafen zu müssen, meine eigenen Bilder von Rennwägen einfach an die Wand zu heften, oder mein kärgliches Spielzeug einfach herumliegen zu lassen!
Bei unserem letzten Besuch schmolzen wir in Manfreds Zimmer Karamellbonbons auf der nagelneuen Gasheizung und schossen den süßen Inhalt von PEZ-Figuren durch die Gegend. Bei uns zu Hause wäre das nie möglich gewesen. (Und es ersparte mir mit Sicherheit viel Ärger!)
Manfred war nicht krank. Er hatte sich mal wieder mit Babsi verkracht und bockte wie ein störrischer Esel. Er war ein blässlicher Typ und trug eine große Brille, redete kaum, und obwohl er mir angeblich ähnlich sah, war er noch um einiges schmächtiger als ich. Ich ahnte das Ausmaß seiner Leiden, obwohl ich es angesichts seines fantastischen Zimmers mit Spielzeugraketen und der Modell-Eisenbahn nicht fassen konnte, wie man damit unglücklich sein konnte. Babsi, das süße Püppchen, schien ihn arg zu tyrannisieren. Ich versuchte Manfred aufzumuntern. "Hey, lass' Babsi einfach links liegen und komm mit runter, und wenn wir gefuttert haben, spielen wir mit deiner Eisenbahn!" Was fühlte ich mich gut wegen dieses "selbstlosen" Vorschlags!
Das Barbecue im Garten verlief dann beinahe ohne Zwischenfälle, abgesehen von Babsis heulendem Elend über die Soßenflecken auf ihrem Kleid. Ich hatte nur die Gabel etwas zu heftig ins Fleisch gebohrt, und schon flutschte es vom Teller wie von selbst in ihre Richtung.
Mein Vater erreichte bereits das Stadium der süffisanten Anzüglichkeiten, die Vorstufe zu ausartend schlüpfrigen Witzen. Wenn er so weiter machte, musste ich seine alkoholbedingt riskante Fahrweise auf dem Rückweg fast noch mehr fürchten als Babsis giftige Blicke.
Tante Joan schwärmte, ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern, von Colorado. Die vielen "Ahs" und "Ohs" nahm sie dankbar wie warme Wohltaten in ihre entwurzelte Seele auf. Um wie viel toller musste es dort wohl sein, dachte auch ich und beobachtete aus den Augenwinkeln Onkel Martin. Einmal sah er mich sehr ernst und nachdenklich an. Das war, als Tante Joan mit ihrem Bruder angab, der in Cape Canaveral bei der NASA arbeitete. Aber dann zwinkerte er mir wieder in seiner eigenen Art mit beiden Augen zu und nickte weise, als wüsste er haargenau, was ich dachte.
Durch das gute Essen hatte sich meine Befürchtung in Luft aufgelöst, hier auf mysteriöse Weise abhanden zu kommen. Nur mein Vater als Führerscheininhaber machte mir Sorgen, ebenso wie die Frage an meinen Onkel, die mir auf der Zunge brannte, und die ich um jeden Preis beantwortet haben wollte! Aber wie sollte ich das anstellen?
Als die Dämmerung herein brach, zogen sich Tante Joan, meine Eltern und Babsi wieder ins Wohnzimmer zurück. Nur Onkel Martin wollte das Grillzeug gleich aufräumen, und auch Manfred und ich durften bis zum Dunkelwerden noch draußen bleiben. Ich ging in die Offensive.
"Du hast das letzte Mal gesagt, dein Papa kann fliegen!" Es platzte wirklich aus mir heraus! "Aber er zeigt es keinem! Ich glaube, er ist ein Lügner!" Gott sei Dank war Onkel Martin gerade mit Grillwerkzeug unterwegs. Manfreds Nerv aber hatte ich getroffen.
"Isser nicht!", maulte er gekränkt zurück. "Er zeigt es nur nicht, weil meine Mom das nicht weiß!"
Um meine Option auf die Benutzung seiner Eisenbahn nicht zu verlieren, gab ich klein bei: "Schon gut! Aber das letzte Mal hab' ich gedacht, er beweist es mir!"
"Hat er nich', weil er besoffen war, Mensch!" Dafür zeigte ich Verständnis.
Am Ende des von den Nachbargärten in die Zange genommenen Rasenstreifens stand ein baumhoher, fensterloser Geräteschuppen. Manfreds Vater war vorhin mit dem Grillzeug hinein gegangen und noch nicht wieder heraus gekommen. Zielstrebig zerrte mich Manfred dorthin. Es war fast schon dunkel, und der Schuppen ragte schwarz wie ein Kerkerturm bis unter die Äste einer von den Baumaschinen verschonten Föhre. Darüber blitzte der erste Stern des Abends auf, und ein kühler Wind hauchte mir eine Gänsehaut in den Nacken. Die Brettertür gab ein knarrendes Geräusch von sich, als Manfred sie nach außen aufmachte.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Jedenfalls nicht, dass Manfred mich in die Seite knuffte und eiskalt "Pa?" ins höllenschwarze Innere flüsterte. Mit aufgeblähten Nüstern sah ich über Manfreds Schulter. Es roch staubig und nach verfaultem Gras. Ein Lichtkegel flammte senkrecht nach oben auf. Wie einem Bannstrahl folgten meine Augen dem Licht zur Decke. Spinnweben glitzerten in den Giebelecken. An den Bretterwänden hingen ein paar rostige Harken und Rechen, Folterwerkzeuge, die auf ihren Einsatz warteten.
Auf dem Boden hockte Onkel Martin wie eine gewaltige Buddhastatue im Schneidersitz und mit maskenhaft versteinertem Gesicht. Seine rechte Pranke zerquetschte fast den Griff der Taschenlampe in seinem Schoß, von deren Quelle sich das Licht nach oben ausbreitete. Das schaurige Bild des Frankenstein-Monsters, über dessen Plakat im Kinoschaufenster ich gestern noch gelacht hatte, war hier Wirklichkeit geworden.
Onkel Martins Augenlider bedeckten seine Pupillen zart wie die eines aufgebahrten Toten. Und dann hob er ab! Fast unmerklich schwebte er in die Höhe, zuerst nur Millimeter, dann allmählich schneller aufwärts strebend wie eine Marionette an Fäden. Das Licht schien diesen regungslosen Fels leicht wie eine Daunenfeder nach oben zu ziehen.
Tränen der Ehrfurcht schossen mir in die Augen. Ich sah nichts als diesen Mann, der in einer verschwommenen Korona frei schwebte. Weder Manfred, noch die kühle Luft nahm ich wahr, bis die Erscheinung wieder sanft zu Boden sank und seine Augen öffnete.
Onkel Martin leuchtete mit seiner Taschenlampe direkt in mein verdutztes Gesicht. Ich hörte seine leise, sonore Stimme: "Auch du kannst etwas Besonderes, nicht wahr? Aber gib' nicht damit an. Tu es einfach!"
Ich weiß bis heute nicht, wie er das mit dem Fliegen gemacht hat. Nur, seither fällt es mir leichter, nicht nur ein Maulheld zu sein!



Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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