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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Aha, na dann wird ja alles gut

© Renate Parschau


Draußen huschen die grauen Häuserzeilen mit mäßiger Geschwindigkeit an den kleinen Autofenstern vorbei. Häuser, nichts als Häuser. Viel lieber wäre Marga bei Omi und Opa, Vaters Eltern, geblieben. Da war es überhaupt immer viel schöner - besonders im Sommer. Wenn sie schaukeln konnte, in dem kleinen Garten. Auf der Schaukel, die Opa und der Vater neben den großen Birnbaum gesetzt hatte. Aus derben Eisenrohren. Die im Winkel von 45 Grad angeschweißten Rohre waren tief in den Boden eingebuddelt worden, nachdem sie vorher mit Rostschutzfarbe gestrichen wurden. Eine Schaukel wie für die Ewigkeit. Mit Querverstrebungen an den oberen Holmen und Stützen. Die Haken, an denen die dicken Hanfseile mit dem Schaukelbrett hingen, waren mehrfach gedreht. Da konnte man sogar einen Umschlag machen - wie auf dem Rummel. Aber die Eltern und Großeltern hatten das streng verboten. Und so musste sie abwarten, bis niemand zu Hause war. Herbert hatte es im vergangenen Sommer einmal probiert. Herbert, der Sohn der Nachbarn, der schon zwölf war, hatte es geschafft. Im nächsten Jahr würde sie, Marga, es auch einmal probieren. Wenn sie so richtig Schwung holte, konnte sie jetzt schon über das Haus und den Hühnerstall bis auf das Nachbargrundstück sehen. Die beiden Spargelbeete zwischen dem Birnbaum und der Himbeerhecke wurden dann immer kleiner und kleiner. Bis über ihr nur noch der Himmel war. Und wenn sie dann noch die Beine geradeaus streckte, stach sie mit der Schuhspitze mitten in leuchtend weißen Wolkenballen. Beim Zurückschaukeln, konnte sie durch das Küchenfenster den kleinen weißen Stuhl neben dem Küchenschrank sehen, auf dem sie im Winter oft saß. Manchmal bekam sie von dem süßen Backpulverteig zu naschen, wenn Omi einen Kuchenteig anrührte. Neulich erst hatte Opa beim Anziehen seiner neuen Socken die Füße auf diesen Stuhl gestellt und laut dabei geflucht, weil sie, obwohl sie die selbe Größe wie immer hatten, zu klein waren. "Bedank dir bei Frieda Hockauf'n!", hatte Omi aus dem Schlafzimmer gerufen, wo sie gerade die Betten machte. "Und allet, weil Material jespart werden soll. Un det jeht denn och noch nach Rußland." "Aber Omi, die Reparationssummen gehen in die Sowjetunion, weil wir die früher überfallen haben. Das hat Frau Ralf uns gerade erklärt", hatte Marga Omi entgegnet. Doch diese hatte nur Kopfschütteln und ein beiläufiges "Von wegen ‚wir'. Was die den Kindern heute alles erzählen. DU hast doch damals noch als Kohlkopf auf dem Acker gestanden." Das war alles, was Omi dazu zu erwidern hatte. In vorigen Sommer muss das gewesen sein.
Jetzt ist es kalt, und Marga sitzt in ihrem Wintermäntelchen auf dem hinteren Ledersitz des alten Opel P4. Um den Hals ein Fellcape, vom weiß-braunen Kaninchen, die Hände in der Muffe, ebenfalls aus Fell. Es wird nicht warm im Wagen. Und sie ist eng an die Seite geklemmt, neben ihr die Kuchenform mit der Käsetorte von Oma, Mutters Mutter, und Oma selbst. Aufgeregt besieht diese die Straßenschilder "Hätten wir da nicht schon längst rechts abbiegen müssen?", stößt sie Margas Vater, der am Steuer sitzt, an. Marga sieht im Rückspiegel, wie er die Augen verdreht. "Ich fahre hier mindestens zweimal die Woche rüber", stößt er übelgelaunt zwischen den Zähnen hervor. Erika, Margas Mutter auf dem Beifahrersitz will ihn beschwichtigen und legt ihm nur sanft die Hand auf den linken Unterarm. "Meinst du, es macht Spaß, alle Kurven so weit auszufahren ? Noch dazu bei dem Verkehr hier und den ganzen Straßenbahnen .Und alles bloß wegen dem Scheiß Simmering." "Sag doch nicht solche Ausdrücke, Karl. Nicht vor dem Kind." Margas Mutter stößt ihren Mann von der Seite an. " Simmering. Das liegt doch bei Wien. ‚Draußen in Simmering blüht schon der Flieder . Merkst Du's, spürst Du's , hast Du's g'sehn'" Marga trällert das Lied aus der "Schönen Galathee" , die sie gerade im neuen Schwarz-Weiß-Fernseher gesehen hat. "Sievering. Sievering bei Wien. Was ich brauche, ist ein Simmering." "Und was macht so ein ..." "Simmering. Simmering . Der sitzt zwischen der Radachse und dem Differential." "Aha." Margas Vater fährt in einem großen Bogen um die nächste Rechtskurve. "Und das Differential, das sorgt dafür, dass in einer Rechtskurve die beiden rechten Räder einen kleineren Bogen fahren als die linken. Und umgekehrt." "Aha." Marga zeigt sich zufrieden. "Vielleicht fragst du Georg, ob er dir drüben einen besorgen kann, der arbeitet doch in so einer Autofabrik." Erika will ihren Mann beruhigen, aber der ist krampfhaft damit beschäftigt, den schwerfällig lenkbaren Wagen an den rechten Straßenrand zu bugsieren und schließlich anzuhalten. Sie sind in einer breiten Straße, deren beide Fahrbahnen direkt auf eine Brücke münden. "Sie verlassen hier den demokratischen Sektor von Berlin" steht auf einem Schild. Margas Eltern und Oma holen ihre Ausweise hervor. Der Polizist vor dem schwarz-rot-goldenen Häuschen auf den Brücke wendet die winzige blaue Pappe mehrmals hin und her , ehe er sie den Eltern zurück gibt. "Haben Sie etwas zu verzollen?", fragt er Oma und zeigt auf die Kuchenform, die an ihrem zittrigen Arm baumelt.
"Nein, nein, da ist doch bloß die Käsetorte drin. Wir sind nämlich zum Kaffee eingeladen."
Omas Stimme zittert noch mehr als ihr Arm mit dem Netz. "Warum nehmen Sie denn Torte mit, wenn Sie eingeladen sind? Außerdem ist die Ausfuhr von Lebensmitteln nicht gestattet, Bürgerin." "Aber mein Sohn isst immer so gern meine Käsetorte. Und er kommt doch extra aus Stutt..." "Mama, das will der Genosse Polizist doch gar nicht wissen." Margas Vater mischt sich ein. "Wir nehmen immer etwas zu essen mit, uns schmeckt nämlich der trockene Westkuchen nicht. Außerdem haben wir es gar nicht nötig, uns einladen zu lassen, nicht Oma? Und dann weiß man ja nie, ob die Imperialisten uns nicht noch vergiften wollen." Der Polizist lächelt müde und winkt sie alle drei gleichmütig durch, wohl, weil sich hinter ihnen schon eine kleine Schlange gebildet hat. Oma ist noch immer aufgeregt und holt ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche, als sie die Brücke hinter sich gelassen haben. "Warum bist du denn immer so nervös? Da denkt der doch erst recht, dass du was zu schmuggeln hast, Butter, Eier oder Schinken." Margas Vater tut abgeklärt. "Ach Jott, wat musste der Junge auch ausgerechnet da nach drüben gehen. Konnte der nich nach Hause kommen, wie et sich gehört?" Oma schneuzt in ihr Taschentuch und wischt sich die Tränen aus den Augen. Marga hüpft über die Granitplatten auf dem Gehweg. Etwa einen Meter breit sind sie alle, aber keine ist so lang wie die andere. Eins, zwei, nur nicht auf den Rand - eins, zwei, drei, und wieder nicht auf den Rand. Mal sind es zwei, mal drei Hopser - bloß nicht auf den Rand treten. Das ist hier auch nicht anders als da hinter ihr, hinter der grauen Brücke. Und die Häuser sind auch hoch. Hoch und grau. Aber die Schaufenster, die sind schon anders. "Kuck mal da, Mutti! Das ist aber ein komischer Konsum!", ruft Marga laut und zeigt auf die Pyramide aus Apfelsinen in einem Gemüsegeschäft.
"Schrei doch nicht so. Müssen denn alle gleich wissen, dass wir von drüben kommen?", sagt Margas Mutter energisch.
"Was heißt denn drüben? Sind wir jetzt im Westen?", will Marga wissen. "Frau Ralf, unsere Klassenlehrerin sagt immer, dass im Westen die Revanchisten wohnen, die uns überfallen werden, weil sie die volkseigenen Betriebe haben wollen."
"Nee, nee. Wat die den Kindern aber auch erzählen heute!" Oma schüttelt bloß den Kopf und holt schon wieder das Taschentuch aus der Manteltasche. "Da musst du keine Angst haben. Onkel Georg wird uns schon nicht überfallen. Er kommt extra aus Stuttgart hier her, nur um uns zu sehen", sagt Margas Mutter beruhigend. Aber Marga hat schon wieder ein Schaufenster entdeckt.
"Aah, kuckt mal: Da liegen lauter schöne bunte Schokoladentafeln. Und Schokoladenbären, in Silberpapier. Und Frösche! Sind die süß! Kaufst Du mir so einen? Bitte. Und Kaugummis! Warum gibt es das nicht bei uns?"
"Weil bei uns die Betriebe dem Volk gehören und nicht den Kapitalisten, die daraus nur Kapital schlagen", antwortet Margas Vater.
"Aha". Marga nickt verständig.
Simmering. Differential. Kapitalisten. Kapital. Sie hüpft über die Granitplatten auf dem Gehweg, ohne die Ränder zu betreten. Ständig bemüht, nicht zwischen die kleinen Pflastersteine zu geraten, die an den Rändern in den Boden eingelassen sind.
"Frau Ralf sagt immer, dass die Kapitalisten Krieg führen wollen."
"Das hängt mit dem Mehrprodukt zusammen: die Kapitalisten produzieren um des Profits willen. Und weil sie immer mehr produzieren als gebraucht wird", Margas Vater zeigt auf die vielen Auslagen in den Schaufenstern, "haben sie natürlich ein Interesse daran, dass auch mal was kaputt geht. Deshalb brauchen Kapitalisten den Krieg."
Marga nickt ungläubig. "Aber da müssten sie doch bloß etwas zu uns schicken, damit unsere Schaufenster auch so schön bunt sind . Dann brauchen sie keinen Krieg zu führen."
Noch ehe Margas Vater antworten kann, sind sie an der Eck-Kneipe angelangt, die ihnen Onkel Georg als Treffpunkt genannt hatte. "Zum trauten Eck".
Davor ein grauer Opel Admiral, Onkel Georgs Wagen, den Marga schon vom Foto kennt. Onkel Georg kommt ihnen entgegen, umarmt seine Mutter und die Schwester, Margas Mutter.
"Ach, ist das schön, dass ihr da seid!" Oma wischt sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht.
"Mein Junge, dass du auch so weit weg sein musst! Und dann noch da, wo sie nicht mal Kartoffeln kennen!"
"Kennen schon, aber mögen sie eben nicht. Erst, wenn sie durch ein Schwein durch sind, ha, haa."
"Spätzle! Da kriegste ja nich mal die schöne Soße vom Teller."
Georg hat inzwischen auch Karl begrüßt hat, strichelt jetzt Marga über den blonden Kopf mit den langen Zöpfen. "Hab ich dich eigentlich schon gesehen? Du bist doch Marga, mit den guten Schulnoten. Bravo, mein Kind!"
Marga nickt eifrig.
"Aber warum seid ihr nicht mit dem Wagen da? Und wo sind Annemarie und Albrecht mit den Kindern?"
"Aber sie wollten später mit der Bahn kommen. Du weißt doch, die volkseigenen Einzelhändler haben niemals Zeit. Müssen noch arbeiten, sagen sie. Dabei bringen die Lieferanten die Ware rein, die Kunden holen sie wieder raus, und sie machen nur die Kasse auf und zu. Ha, haa." Karl amüsiert sich köstlich über seinen Witz. Außerdem hat er so schnell von der Frage nach seinem alten Auto abgelenkt. Drinnen ist in einer Ecke eine kleine Tafel aufgebaut.
Georg nimmt am Kopfende Platz. "Kommt , Kinder, wir haben uns viel zu erzählen."
Georg nimmt seine Mutter in den Arm, die schon wieder mit dem Taschentuch hantiert.
"Hättest du nicht zu uns kommen können? Was das hier alles kostet! Nee, nee!"
"Ach Mama, meinst du vielleicht, dass ich mich noch mal von den Russen abholen lasse? Net mit mir!"
"Mein Gott, Junge! Du sprichst ja schon wie die da drüben! Bist du jetzt etwa auch schon einer von den Imperialisten oder so?" Georg schüttelt nur den Kopf .
Annemarie, Margas Tante, und ihr Onkel Adolf sind inzwischen gekommen. Auch Angela, Margas Cousine, hat am Kaffeetisch Platz genommen. Als die Mädchen fertig gegessen haben, gehen sie nach draußen. "Kauft euch was Schönes", hatte Onkel Georg gesagt, und jeder von ihnen ein Fünfmarkstück in die Hand gegeben.
"Kriegt man dafür schon einen Petticoat?", will Angela wissen, als sie draußen sind. Aber Marga steuert schon zu dem Laden mit den schön verpackten Schokoladen -Tieren. Stolz legt sie das Geld auf den Tisch und lässt sich einen von den Fröschen im grünen Stanniol-Papier geben. Steckt ihn zusammen mit dem Wechselgeld in ihre Muffe aus Kaninchenfell. Ihre Mutter hatte sie früher schon einmal davor gewarnt, Waren, die im "West-Sektor" gekauft waren, oder gar "Westgeld" das man hier an jeder Ecke eintauschen konnte , mit zurück in den "Ost-Sektor" zu nehmen.
"Und ich möchte eine Packung Kaugummis, bitte", sagt Angela zu der Verkäuferin.
"Ein schönes Mehrprodukt, nicht? Mein Vater sagt, dass die hier so schöne Sachen haben, weil es das Mehrprodukt hier gibt. Und dass es deshalb Krieg gibt", klärt Marga draußen ihre Cousine, die etwa eineinhalb Jahre jünger ist als sie selbst, altklug auf. Angela schluckt nur erschrocken. "Aber Frau Ralf, unsere Lehrerin sagt immer, wenn wir fleißig lernen und immer Altstoffe sammeln, überfallen uns die Imperialisten nicht. Dann ist der Sozialismus nämlich zu stark." Aber da schaut sie schon wieder verträumt auf die Auslagen in dem Polsterwarengeschäft. Neben einer großen brokatfarbenen Couchgarnitur steht - wie für Puppen gemacht - eine verkleinerte Couch, mit demselben rotgoldenen Bezugsstoff überzogen. Auf dem mit schwarzer Tusche gemalten Schild daneben: Hundesofa.
"Kuck mal da, ein ‚Hundesofa'! Das ist komisch: unser Bello sitzt auf einer Deck im Wohnzimmer. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es wegen so was Krieg gibt."
Angela hat sich von ihrem Geld an einem Automaten Kaugummis gezogen und kaut eifrig.
Inzwischen sind die Mädchen wieder an der Eckkneipe. "Mir ist immer so langweilig, wenn Erwachsene sich unterhalten", mault Angela. "Mir auch, aber vielleicht lässt sich Oma wieder von uns kämmen. Oder wir singen ein Lied vor. Wir haben in der Schule jetzt ein russisches gelernt:
Partisanen vom Amur: Po dolinam i po wsgoriam schla divisia wperiod. Schtobiu w sboju wsjachtch pri morje beloi armii..." Marga singt inbrünstig. Angela schaut nur zu ihr auf und sagt traurig. "Aber ich kenne das Lied gar nicht. Wir haben doch noch gar kein Russisch, da kann ich gar nicht mitsingen." "Dann singst du es eben auf Deutsch: Durchs Gebirge, durch die Steppe zog, uns're kühne Division. Hin zur Küste dieser weißen heiß umstrittenen Bastion."
Marga trällert die gesamte Strophe, wiederholt die letzte Zeile, indem sie den letzten Ton jetzt oktaviert. "Kannst ja auch summen, oder die zweite Stimme singen." Marga macht ihr vor, wie man eine kleine oder große Terz dazu bildet. "Und wenn wir doch lieber ein deutsches Lied singen?", fragt Angela. Marga beginnt "Sach ein Kena-ab ein Rjoslein steh'n, Rjoslein auf der Chaiden. War so jung und morgenscheen, lief er schanell es nach zu seh'n, sach's mit vielen Frjoiden.Rjoslein, Rjoslein, Rjoslein rot, Rjoslein auf der Chaiden."
"Das hört sich aber komisch an", wundert sich Angela.
"Aber so ist es auf der Platte, die unsere Musiklehrerin immer vorspielt. Das ist das Moissejew-Ensemble." Marga spitzt die Lippen bei "Moissejew", "das das Lied bei der Befreiung der Deutschen Demokratischen Republik durch die Sowjetsoldaten nach Deutschland gebracht hat." Inzwischen sind die Mädchen in der Gaststätte angekommen, wo die die Erwachsenen nicht gleich bemerken, dass sie wieder zurück sind. Margas Vater hält Georg gerade eine Schachtel "Casino" hin. "Da, nimm doch mal unsere." Aber Georg hustet schon beim Hinsehen und zeigt Karl seine HB. "Die sind leichter hier, kanscht ja nachher mal versuchen, ge." "Nachher wollte ich dich eigentlich fragen, ob du mir nicht einen Simmering für meinen alten Opel besorgen kannst gibt. Weißt du, so was kostet doch nur Pfennige, aber die Dinger gibt es hier partout nicht." "Woher weißt du dann, dass so was nur Pfennige kostet?" Georg schreibt sich die Angaben präzise in sein Notizbuch und schiebt Karl hinterher den Kuli hin. "Porsche - Stuttgart" steht in goldenen Buchstaben drauf. "Isch meine Firma, weischt. D' isch gut."
Karl ist zufrieden. Marga und Angela stehen hinter Omas Stuhl, die anscheinend damit einverstanden ist, dass die Mädchen beginnen, den Dutt auf ihrem Hinterkopf zu öffnen und die geflochtenen Haarsträhnen mit den Seitenkämmen durch zu kämmen. Angela versucht gerade, alle Haare auf dem Kopf mit einem Band zusammenzuhalten und die einzelnen Strähnen mit den Haarklammern rund um den gesamten Kopf herum zu verteilen und festzustecken. Aber sie fallen immer wieder auseinander und hängen Oma vor dem Gesicht. Georg mäkelt.
"Sacht ma Mädels, könnt a denn nich ma damit uffhören, Mama immer inne Haare herum zu wühlen? Ditt is ja wie in Rußland, da sitzen die Matkas ooch vor de Türe und lassen sich die Läuse absuchen."
Oma streicht sich die Haare aus dem Gesicht und strahlt ihren Sohn an: "Wenichstens sprichste jetzt wieder vernünftig, Junge, hier biste doch zu Hause. Un denn lass doch die Mädels, watt solln die denn sonst machen?" "Und außerdem heißt das Sowjetunion, sagt Frau Ralf immer." Angela hat jetzt eine Strähne quer über Omas Kopf fest gesteckt, während sie die übrigen Haare zu beiden Seiten über Omas Schulter und Brust nach vorn drapiert. "Wir singen euch jetzt ein Lied vor." Marga zieht Angela von Omas Kopf weg und stellt sie neben sich an die obere Tischseite. "Raszwetali Jabloni i gruschi, papluili tjumaniu nad rekoi. Wiuchadila ne bereg Katjuscha, na wiußokij ebreg nad krutoi." Angela summt die Melodie, manchmal summt sie die Terz darunter als zweite Stimme, wie Marga ihr das erklärt hatte, manchmal oktaviert sie in der Wiederholung der letzten Strophe. Die Erwachsenen haben ihr Gespräch unterbrochen und klatschen, als die Mädchen geendet haben. "Isset nich schön, watt die Kinder heute allet lernen?" Oma ist begeistert. Margas Mutter nickt ihr zu, Tante Annemarie streichelt den Mädchen über den Kopf. Georg lächelt süß-sauer. "Wisst Ihr eigentlich, wie das in Rußland ist? Bitterkalt. Und Eisenbahnschwellen mussten wir da legen. Krankmachen war nich. Und wer aufgemuckt hat, kam in Einzelarrest. Einmal war ich in Dunkelhaft. Und dann haben sie mich nach Tagen mit Scheinwerfern geblendet. Aber die Russen haben andauernd son Zeug da", er zeigt auf Marga und Angela "gesungen. Dann kämmt lieber Oma wieder anständig. Oder macht das Dings da an." Georg zeigt auf die Musikbox in der gegenüberliegenden Ecke, holt noch einmal sein Portemonnaie und gibt den Mädchen ein paar Groschen. Marga drückt auf ein Schildchen mit der Aufschrift "Weiße Rosen aus Athen" mit Nana Mouskouri und eine Scheibe mit etwa 50 schwarzen stehenden Schallplatten dreht sich , bis ein Metallarm die richtige greift und gerade auf den Plattenteller legt. Die Mädchen tanzen und singen dazu den Refrain. Als das Lied zu Ende ist, geht Marga zur Toilette. Während sie drinnen sitzt, kommen Margas Mutter und Oma, die sich mit kaltem Wasser die Tränen aus dem geröteten Gesicht wischt und ihren Dutt wieder in die alte Form bringt. "Weißt du, dass sie Karl gefragt haben, ob er nicht in die Partei eintreten will?", hört Marga ihre Mutter sagen. "Ach Jott, ach Jott!", jammert Oma. "Man bloß nich!" "Hat Karl ja auch gesagt: wer weiß, wie lange sich der Quatsch hält!"
"Eben! Denk' dran, wie lange das alte Regime dauern sollte. Tausend Jahre! Und wie lange hat es gehalten? Gerade mal zwölf Jahre!" Oma hat ihr Gesicht mit einem rosa Häkeltaschentuch abgetrocknet und die beiden sind längst aus der Toilette verschwunden, als Marga aus ihrer Kabine kommt. Auf dem Fußweg zum Grenzübergang hält sie in der Muffe fest an dem Frosch in Stanniol-Papier. Weder West-Sachen noch West-Geld sollte man mit "rüber" bringen, hatte ihre Mutter ihr schon oft erklärt. Sonst käme sie ins Gefängnis. Als sie wieder zu Hause ist, hat der Frosch seine Form eingebüßt in der warmen Kinderhand. Schade. Aber welches Kind will schon, dass seine Mutter ins Gefängnis geht.
Es ist knapp zwei Jahre später, als Marga mit der Schulklasse wieder einmal nach Berlin fährt. Es ist ein heißer Sommertag, und Marga hat ein neues luftiges Viskosekleid mit Riesenblumen und einem modernen breiten weißen Kragen an. Sie trägt zum ersten Mal Schuhe mit einem kleinen Absatz. In der Komischen Oper wird Janaceks "Schlaues Füchslein" gespielt. Sie hatte es sich lange gewünscht, das Kleid, die Absatzschuhe und die Oper.
Am nächsten Morgen - Marga sitzt mit ihren Eltern gerade am Frühstückstisch - wird in den Nachrichten von Radio DDR berichtet, dass in der Nacht die Grenzen zu den West-Sektoren geschlossen wurden, damit die Tätigkeit von Diversanten unterbunden wird und nicht weiter der planmäßige Aufbau des Sozialismus in der DDR behindert wird. "Was sind denn Diversanten?", fragt Marga ihren Vater, der sich gerade Zucker in den Kaffee löffelt. "Die stören den friedlichen Aufbau. Außerdem kann jetzt niemand mehr unsere schöne Butter und die Wurst aus Mecklenburg nach West-Berlin schmuggeln."
Margas Vater meint es ernst. "Dann wird es in unseren Geschäften wieder Würfelzucker geben", wie zum Beweis hebt er die Dose mit dem Streuzucker vor Marga in die Höhe.
"Wieso denn?", will Marga wissen.
"Weil die Maschinen vom Würfelzucker jetzt zum Butterverpacken gebraucht werden."
Margas Mutter kichert über den Witz, der gerade jetzt in den Geschäften die Runde macht, wo sich die Familien für die Butterrationen einzutragen haben: 125 Gramm Butter gibt es gerade einmal pro Person in der Woche.
"Aha. Meinst du, dass es dann auch wieder Kondensmilch und Schlagsahne zu kaufen gibt? " Marga aß so gern Schokoladenpudding mit Schlagsahne. Oder naschte die gezuckerte Kaffeesahne, die es jetzt nur noch gab, wenn jemand in der Bekanntschaft beim Konsum oder in der HO arbeitete.
"Aber sicher. Und nicht nur das, auch Kartoffeln, Gemüse, Obst, Apfelsinen ..."
"Na dann wird ja alles gut."



Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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