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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Unsere Ewigkeit

© Eileen Schreiber


Erinnerungen - der Sohn
Als ich klein war, hast du mich an einem Sonntag auf deinen Schultern durch den Zoo getragen. Ich habe dir nie gesagt, dass dieser Tag für mich der schönste meiner ganzen Kindheit war. Da waren wir nicht nur Vater und Sohn, sondern Freunde. Plötzlich war ich groß, sogar größer als du, aber vor allem als alle anderen Kinder. Als ich klein war, habe ich gedacht, jeder Moment sei für die Ewigkeit, und ich war enttäuscht, wenn er vorbeiging, ich ihn nicht festhalten konnte. Ich war noch mehr enttäuscht als ich lernte, dass nichts beim zweiten Mal so aufregend ist wie wenn man es zum ersten Mal sieht, riecht, hört, schmeckt und berührt. Die Elefanten im Zoo, die so groß waren, dass mir der Nacken weh tat, weil ich so klein war und meinen Kopf so weit zurück legen musste, um sie ganz zu sehen. Es war in diesem Moment, als du mich hoch gehoben und auf deine Schultern gesetzt hast. Ihr Trompeten, so laut und seltsam und wunderschön in meinen Stadtkinderohren. Der süße Geruch von Zuckerwatte, allein deshalb so verführerisch, weil ich noch nicht wusste, was es ist. Du hast mir gesagt, es sei ein ganz besonderer, geheimer Zauberspruch, der den Zucker in diese klebrige weiße Wolke verwandelt, die um einen Holzstab herum schwebt. Der Geschmack war enttäuschend, ganz und gar nicht zauberhaft, viel zu süß sogar für meinen stets nach Süßigkeiten gierenden Mund. Trotzdem wollte ich den Moment festhalten, wollte mich immer daran erinnern, auch als meine kleine Hand bereits auf eine andere unbekannte Leckerei zeigte. Genauso wollte ich das neue Gefühl festhalten, die überraschende Kälte meiner allerersten Eiskrem, die ich kaum schmeckte, weil ich so sehr damit beschäftigt war, die Kälte zu fühlen, die so langsam auf meiner Zunge schmolz. Als ich mir vor dem Nach-Hause-Gehen im Laden etwas aussuchen durfte, wollte ich eine kleine Schatztruhe aus Holz. Für meine Erinnerungen!, hätte ich gesagt, wenn du mich gefragt hättest warum.
Du hast mich nie gefragt. Warum hast du nie gefragt?

Weinen - der Vater
Männer weinen nicht. Das habe ich dir immer gesagt, weißt du noch? Nur fällt es mir jetzt, wo ich dich hier liegen sehe, schwer, an meine eigenen Worte zu glauben. Die Schläuche, die dich durch deine Nase künstlich ernähren, machen dein eingefallenes, blasses Gesicht noch fremder, beängstigender. Die Apparate, an die du angeschlossen bist, geben mit fast schon außerirdisch anmutendem Piepsen und Brummen Auskunft über dein ... nein, nicht dein Leben.
Über dein Sterben. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, und ich kämpfe den Kloß im Hals zurück. Ich muss dir doch noch so viel sagen, auch wenn du mir nicht antworten kannst. Deine Augen, meine Augen, sind offen, wach and blau. Als ich dieses Zimmer betrat, füllten sie sich mit Tränen, die langsam dein abgemagertes Gesicht herunter rannen, und fast wäre ich wieder gegangen, weil ich es nicht ertragen konnte, wie dein schwacher, ausgezehrter Körper sich vor hilflosem Schluchzen schüttelte. Ich weiß, dass du mir zuhörst, mir wahrscheinlich in Gedanken Antworten gibst. Meine Augen, deine Augen, sind rot gerändert und brennen vor ungeweinten Tränen. Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich habe dir nicht die ganze Wahrheit gesagt. Männer weinen nicht.
Nur ganz starke Männer haben so viel Mut.

Bitten - der Sohn
Ich weiß. Ich habe es schon ganz lange gewusst. Es war das, was mich anders machte, was mich von dir entfernte. Weißt du noch, wie du mir beigebracht hast, immer "bitte" und "danke" zu sagen? Da habe ich zum ersten Mal versucht, mich aufzulehnen. Ich habe es zu allen gesagt, nur nicht zu dir, und es wurde schlimmer, als ich älter und als aus "Papa" "mein Vater" wurde. Was hätte ich denn sagen sollen? Bitte lass mich weinen? Danke, dass du mich ich sein lässt? Es gab leider keinen Grund dazu. Von all den Momenten meiner Kindheit war nur Eines jedes Mal wieder wie das erste Mal: das Kribbeln in meinem Bauch, wenn du mich in die Luft geworfen hast, als ich klein war. Die winzige Sekunde von Angst, die ich jedes Mal verspürt habe - was, wenn diesmal etwas passiert, sodass du mich nicht auffangen kannst? Du hast mich immer aufgefangen. Bis ich bewusst daneben gefallen bin. Du hast nie versucht, mich und mein Leben zu verstehen. Ich habe versucht, die Momente zu fangen, nur erste Erfahrungen zu machen, um nicht wieder enttäuscht zu werden, weil das zweite Mal nie wieder so wie das erste Mal ist. Ich habe auf dem Seil getanzt. Du hast mich gelehrt, gut aufzupassen, du hast mir beigebracht, mich abzusichern. Und ja, ich wollte dich verletzen, doch niemals so. Ich wollte es dir zeigen, mich dir zeigen, wollte dir etwas beweisen. Ich habe nur ein Mal nicht aufgepasst. Es hat gereicht, um in die Tiefe zu stürzen, als du schon längst nicht mehr da warst, um mich aufzufangen. Bitte verzeih.

Danken - der Vater
Warum fallen einem all die Dinge, die man dringend sagen will, im entscheidenden Moment nicht ein? Wenn du wüsstest, wie viel Angst ich habe, du könntest gehen ohne dass ich dir alles sagen konnte! Es tut mir Leid, wenn ich ein schlechter Vater war. Du warst nie ein schlechter Sohn, ich habe dich nur nicht verstanden. Ich möchte dich schütteln, die Schläuche herausreißen, die Apparate abstellen und dir sagen, dass du dich verdammt noch mal zusammenreißen und gesund werden sollst. Ich bin egoistisch, ich weiß. Bitte verzeih. Schließlich ist es meine eigene Schuld, dass ich dich zehn Jahre lang nicht sehen wollte. Für die anderen 18 Jahre jedoch - danke, dass du mein Sohn warst.

Danken - der Sohn
Wenn du wüsstest, wie sehr ich mir wünsche, ich hätte noch mehr Kraft in meiner Hand, um deine Hand zu drücken, und dir damit zu verstehen zu geben, dass ich dir längst verziehen habe. Ich habe dich doch geliebt. Hätte ich dich sonst für eine Zeit lang so sehr hassen können? Weißt du noch, was du mir beigebracht hast zu sagen? Danke. Für alles. Was ist das für ein aufdringliches Geräusch? will ich dich fragen. Früher habe ich immer dich gefragt, wenn ich etwas nicht wusste. Warum habe ich damit aufgehört? Als mir bewusst wird, dass dieses lang gezogene, verzweifelte Geräusch meine eigenen Atemzüge sind, jeder Zug ein Kampf, fühle ich mich schuldig. Du solltest jetzt nicht hier sein, solltest mich nicht so sehen müssen. Ich weiß, dies ist nicht der Moment und der Ort für Scham, und doch schäme ich mich. Aber nicht so sehr, wie ich froh bin, dass du jetzt hier bist.

Lachen - der Vater
An deinem siebten Geburtstag hast du zum letzten Mal "Danke" zu mir gesagt. Ich hatte dir einen Drachen zum Geburtstag geschenkt, und du bist vor Freude auf und ab gesprungen. Ich musste lachen, weil deine Fröhlichkeit so pur, so ansteckend war. Es war windig genug, um raus ans Meer zu fahren und den Drachen gleich auszuprobieren. Ich habe noch immer dein Lachen und deine Begeisterungsrufe im Ohr. Ich habe dir nie gesagt, dass dieser Tag für mich als Vater der schönste deiner ganzen Kindheit war.
Da waren Wir nicht nur Vater und Sohn, sondern Freunde. Wir haben den Drachen noch öfter steigen lassen, aber nie mehr war dein Staunen und deine Freude wieder so grenzenlos wie beim ersten Mal. Dein Lachen war laut, unbekümmert, glockenhell, und deine Hand warm und vertauensvoll in meiner.
Werde ich jemals wieder lachen können, nach dem heutigen Tag? Darf ich das überhaupt?

Jetzt - der Sohn
Meine Hände waren klein, gingen fast verloren in deinen großen, starken Händen, die immer so rau waren von deiner Arbeit auf dem Bau. Später hatten deine Hände Angst, mich anzufassen, sich anzustecken durch eine bloße Berührung. Viel zu lange hattest du Angst vor mir. Jetzt hältst du meine schlaffe Hand in deinen Händen, so behutsam wie ein rohes Ei. Jetzt küsst du sie, aber jetzt ist es zu spät. Jetzt beugst du dich zu mir hinunter, und ich spüre deine Lippen auf meiner Stirn. Jetzt hast du keine Angst mehr, bist wieder mein Vater, mein Freund, und ich habe nicht einmal mehr die Kraft zu weinen.

Erinnerungen - der Vater
Der schwache Druck deiner Finger ist noch schwächer geworden. Willst du schon gehen? Ich weiß, du musst, und doch... warte, weil ich gleich weinen muss, und weil ich will, dass du es siehst, damit du weißt, dass auch ich ein Mal stark gewesen bin. Du warst ein besonderes Kind, ein Wunder ohne Gleichen. Unser Wunder haben wir dich genannt, und es verging nicht ein Tag, an dem ich nicht stolz auf dich war. Du warst ein aufgewecktes Kind, ein schwieriger Teenager, und ein unkonventioneller junger Mann, und das war für mich am schwersten. Ich hielt dich lieber für unnormal als dass ich versuchte dich zu verstehen, dich zu beschützen. Trotzdem habe ich dich geliebt, auch wenn ich es hinter meinem Zorn versteckt habe. Trotzdem warst du, bist du, für immer mein Sohn. Ich wollte dich nie schon so früh wieder hergeben müssen. Ich wollte dir noch so vieles sagen, so vieles mit dir teilen, dich vor so vielem beschützen. Doch jetzt muss ich dich loslassen, und der einzige Schmerz, vor dem ich dich noch bewahren kann ist der, dein eigenes Kind überleben zu müssen. Ich weiß noch nicht, wie ich ihr gegenübertreten soll, der gebrochenen Frau draußen auf dem Gang. Deiner Mutter. Die einmal die schönste Frau der Welt für mich war, und niemals schöner als zu der Zeit, als sie dich in sich trug, dich mir zum Geschenk machte. Was sagt man einer Mutter, die den Kampf um ihr Kind verloren hat?
Gestern fand ich sie in deinem alten Zimmer, unverändert während der stummen Jahre weil wir hofften, dass du eines Tages wieder nach Hause kommen würdest. Sie saß an deinem Schreibtisch, die kleine Schatztruhe, die ich dir damals an unserem Sonntag im Zoo gekauft habe, auf ihrem Schoß. Ich musste an diesen Tag zurückdenken, während ich ihren Fingern dabei zusah, wie sie liebevoll über das kaum abgenutzte Holz strichen, ganz so, als würde deine kleine Truhe die kostbarsten Schätze enthalten. Es gab so viele schöne Sachen dort im Zoo, trotzdem wolltest du nichts als diese hölzerne Schatzkiste, die nichts mit irgendeinem der Tiere zu tun hatte, die du so bewundert hattest. Bis heute ist sie so leer, wie sie an jenem Tag war. Bis heute weiß ich nicht, warum du ausgerechnet diese Schatzkiste als Erinnerung an den Zoo haben wolltest. Ich habe dich nie gefragt. Warum habe ich nie gefragt? Wir haben beschlossen, deine Kiste mit Erinnerungen zu füllen, mit den Erinnerungen, die wir haben, mit denen, die wir nicht haben. Du wirst in Gedanken jeden Tag bei uns sein, wirst älter werden, alt, für immer unser Sohn. Hättest du jemals gedacht, dass deine kleine Schatzkiste die Ewigkeit enthalten würde? Das durchgehende Piepen des Apparats windet sich in mein Herz wie ein spitzes Messer. Warum kann ich den Schmerz noch fühlen? Warum schlägt mein eigenes Herz noch weiter? Es ist nicht richtig, nicht gerecht.
Und doch bin ich froh, den Schmerz jetzt an deiner statt tragen zu dürfen.
Gleich wird die Tür aufgehen, die Ärzte und Schwestern herein stürmen, und, was viel schlimmer ist, deine Mutter. Doch ich halte dich noch ein bisschen, deinen leichten, zerbrechlichen Körper. Ich schaue nicht auf, will die flache Linie nicht sehen, die mich jetzt von dir trennt. In das monotone Piepen mischt sich ein anderer Laut, den ich erst nach einem Moment als das heisere, hilflose Schluchzen erkenne, das meinen übermüdeten Körper schüttelt. Aber noch halte ich dich fest, nur noch einen einzigen, letzten Moment, küsse deine geschlossenen Augen und erinnere mich an morgen. Unsere Ewigkeit hat soeben begonnen.



Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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