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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Begegnung in Auschwitz

© Cornelia Travnicek


Wo früher "Arbeit macht frei" stand, ist heute nichts mehr. Ich sehe nach oben in einen seltsam grauen Himmel. Es ist nicht möglich jetzt einen Schritt zu machen, vorwärts, einzutreten. Ich schließe meine Finger fester um das Foto in meiner Hand, ein Windstoß lässt es flattern. Es regen sich die Geister einer Vergangenheit, die mir näher ist, als ich bisher dachte.
Ich sehe Menschen durch das Tor gehen, einer nach dem anderen, mit gesenkten Köpfen. Sie waren schon in der Selektion. Es blieben fast nur Männer, wenige Frauen und Kinder, so gut wie keine Alten. Diese Menschen, die Auschwitz endgültig betreten, bringen kein Gepäck mehr mit in die Baracken. Jeder ihrer Goldzähne ist registriert.
Nirgendwo kann dieselbe grausame Leere herrschen, wie sie einem auf den Wegen in Auschwitz das Sein erschwert. Es ist gerade keine Saison, niemand außer mir ist hier um sich dem Gewissen einer Nation zu stellen. Nur wer vergessen hat, dass auch seine Bekannten oder gar Verwandten die rechte Hand gehoben haben zum Gruß, kann diese Trennlinie, das Tor, überschreiten ohne donnernd den einstimmigen Ruf eines Volkes zu hören. Ich kann diese schwarzweißen Aufnahmen von dieser ekstatischen Masse sehen und höre sie schreien: "Heil! Heil! Heil .." Als ich mich selbst flüstern höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.
Ich sehe Menschen durch das Tor gehen und so mancher von ihnen hat vielleicht noch den Kopf gehoben, um ein letztes Mal einen Blick auf seine Frau, sein Kind, zu werfen.
Das Foto schlägt im Wind gegen meine Hand und erinnert mich daran, warum ich hier bin. Opa war in Auschwitz.
"Opa war in Ausschwitz" hat meine Mutter immer gesagt. "Sprich nicht davon" hat meine Großmutter immer gesagt. Niemand hat je mit ihm darüber gesprochen. Ein Tabu, dieser Familie eingebrannt, tief unter der Oberfläche.
Das einzige, das ich von Auschwitz kannte, war der Schrecken, den dieses Wort verbreitete, die Stille, die sich dann über den Raum legte und selbst das Schweigen erstickte. Großvater selbst hat nie von sich aus über den Krieg gesprochen. Meine Mutter war damals noch ein kleines Kind, konnte sich nicht genau erinnern oder wollte gar nicht. Für mich bestand der Krieg nur aus einem seltsamen Gefühl der Gewissheit, aus mitleidigen Blicken der Leute auf der Straße, die mir galten. Der Krieg war der Stolz des Opfers, das mich meinen Kopf aufrecht tragen ließ, den Leuten immer in die Augen blickend um das Bedauern darin zu sehen.
Die Schlange der Menschen wird nicht kürzer. Jedes Viertel steht in einer anderen Jahreszeit. Es blühen die Bäume im Frühjahr, es flirrt die Luft vor Hitze im Sommer, es fallen die Blätter im Spätherbst. Am Ende der Schlange stehen die Leute ohne Mäntel im Schnee. Und alle drehen sie die Köpfe um nur einen Blick auf ein verwandtes Gesicht werfen zu können. Wo Großvater wohl stand.
Die Wachtürme starren in die Ferne, als ich einen Schritt in das Lager Auschwitz mache. Ich trete noch ein Stück weiter vor und bin angekommen.
Warum Großmutter nicht im Lager war, weiß ich nicht. Gekannt haben sich meine Großeltern zu dieser Zeit auf jeden Fall, meine Mutter war schon geboren. Sie haben sich lange nicht gesehen. Großmutter sprach nie davon, um Großvater nicht aufzuregen. So blieb die Vergangenheit verschwommen.
Ich kann die Büschel abrasierter Haare im Wind umhertanzen sehen, wie grobes Leinen nackte Haut berührt und die kahlen Köpfe versuchen alle Menschen gleich zu machen. Das Entlausungspulver juckt auf der Haut und in der Nase, es macht die Augen tränen, fast mehr als die Demütigung.
Die Haare meines Großvaters fallen zu Boden, nackt steht er bei der Entlausung, fast dankbar nimmt er sein Sträflingsgewand.
Auf dem Bild in meiner Hand lacht nur die Großmutter, aber der Großvater nicht. Überhaupt hat er so selten gelacht. Nicht verwunderlich, denn er war ja in dem schrecklichsten Lager, das es gab. Wie soll man noch lachen, nach Auschwitz. Überhaupt, wie kann man verantworten ein Überlebender zu sein.
Kein Wunder, dass er im Krankenhaus gestorben ist, nachdem meine Großmutter schon am Unfallort tot war. So brauchte er nicht zu verantworten schon wieder zu überleben, was andere getötet hat. Er hätte nicht sterben müssen, haben die Ärzte gesagt.
Ich sage, man muss sterben nach Auschwitz.
In den Baracken liegen sie immer zwei in einem Bett, hoffend, dass der Nachbar gesund bleibt und ehrlich ist. Etwas von der Sträflingsuniform zu "verlieren" kann der Tod sein, genauso wie wenn man keine Freunde hat bei der Essensausgabe. Für Freunde gibt es die Suppe vom Topfboden, wo es auch das eine oder andere Stück Einlage gibt, dem Andersgesinnten bleibt die dünne Brühe direkt von der Oberfläche. Über die Monate hinweg wird bei der Essensausgabe ein Todesurteil gesprochen.
Mein Großvater steht an der Ausgabe und hofft auf ein Stück Brot extra.
Pakete mit Essen, die Großmutter von zu Hause schickt, mühsam erspart, landet im Veraltungszentrum des Lagers, in den Mündern der Bewacher.
Ein Licht blendet durch die Scheibe in das Auto, beleuchtet das verzerrte Gesicht meiner Großmutter. Ein einzelner Blutstropfen läuft aus ihrer Ohrmuschel. Mein Großvater hält ihrer Hand während er beschließt ebenfalls zu sterben. Das Blaulicht flackert in seinen Augen, sein Haar ist endgültig weiß. Als sich der Plastiksack über meiner Großmutter schließt, flüstert er:
Verzeih mir, dass ich nicht gestorben bin, in Auschwitz.
Ich gehe durch leere Baracken, die kein Ende nehmen möchten. In jeder ist eine andere Ausstellung. Tonnen von Haar und Tonnen von Kinderschuhen, mir wird schlecht. Der Boden knarrt. Die Fenster sind trüb und ein leichter Staubfilm liegt über allem. Mein Finger hinterlässt eine Spur auf dem Bettgestell. Wie wenige hier lange waren, Jahren in diesen Betten verbrachten. Es waren hunderttausende Menschen, die durch das Lager kamen.
Rein durch die Tür und raus durch den Rauchfang. Herein beim Tür und liegen geblieben in der Erde.
Ich gehe durch die Ausstellungen und sehe mir die Fotos von den Häftlingen an, die hier in langen Reihen hängen. Ich suche ihn, finde aber nichts.
Als ich am Ende bin, bleibt mir nur ein letztes Bild: Das Foto der Lagerverwaltung und der Wachen. Der Feind, der den Schrecken in den Augen meines Großvaters verbrochen hat, die Stille in meine Familie brachte.
Und da ist es. Das gesuchte Gesicht, das auf keinem anderen Foto war. In einer schwarzen Uniform inmitten der anderen Nazis. Er hält ein Gewehr in der Hand und sieht mir fest in die Augen.
So gerade hast du mich lebend nie angesehen, Großvater.
Denn du warst ja in Auschwitz.



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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