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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Vorüber die einsamen Tage

© Anja Schulz


Als Karla mit ruhiger Stimme aus dem Buch vorlas, das Wolfgang so liebte, dachte sie nicht daran, dass ihr Leben noch etwas anderes zu bieten haben könnte. Den Dialog der beiden Protagonisten ließ sie wie einen leisen Gesang durch den sterilen Raum schweben. Karlas Stimme hatte schon viele bezaubert, doch das gehörte der Vergangenheit an. Der einzige, der heute noch in den Genuss ihrer Stimme kam, war Wolfgang, so er sie denn überhaupt hörte. Als das Kapitel zu Ende war, legte Karla das Buch zur Seite und sah Wolfgang mit dunklen, traurigen Augen an. Reglos lag er da und das schon seit vier langen Jahren. Wann würde es endlich vorbei sein? Wer von ihnen würde zuerst aufgeben? Sie verließ den Raum so unauffällig, wie sie ihn betreten hatte. Draußen auf dem Gang kramte sie in der rechten Tasche ihres weißen Kittels nach einem Halsbonbon. Das viele Reden hatte sie angestrengt. Sie hatte die Klinke der Tür zum Umkleideraum schon in der Hand, als Schwester Maria auf sie zusteuerte.
"Auf Station 5 wird noch jemand gebraucht. Kannst du gehen?"
Karla wollte anmerken, dass sie eigentlich seit einer Stunde nicht mehr im Dienst sei, doch sie nickte nur und machte sich gleich auf den Weg zum Fahrstuhl. Das Osteressen bei ihren Eltern konnte warten. Alles konnte warten.
Tag für Tag spielte sich das Unglück erneut vor Karlas Augen ab. Nie würde sie die Bilder loswerden. Sie wusste selbst nicht, was damals mit ihr geschehen war, plötzlich musste sie das Gaspedal ganz durchgetreten haben, der Wagen war losgeschossen wie eine Rakete. Die ganze Zeit über war sie schon nervös gewesen, doch auf einmal hatte sie dieses Gefühl nicht länger bewältigen können. Wolfgang schrie etwas neben ihr, das nicht zu ihr durchdringen wollte. Panik schwang in seiner Stimme und Panik ihrerseits war auch die Ursache dafür, dass sie von der Straße abkam und vor den Baum preschte. Danach war alles ganz ruhig, kein Motorengeräusch, kein Quietschen der Reifen und auch kein Gebrüll mehr von Wolfgang. Karla stand unter Schock, ihre Augen starrten ins Leere, bis ein Arzt ihr erklärte, dass sie nie an ihrem Auftrittsort angekommen war und dass Wolfgang leider nicht so viel Glück gehabt hatte wie sie.
"Karla!", wurde sie aus ihren düsteren Gedanken gerissen. Sie schreckte hoch und blickte in die ratlosen Gesichter ihrer Eltern und ihres Bruders Timm. Ohne jegliches Anzeichen von Verständnis fragte die Mutter:
"Du hast doch nicht etwa wieder an diesen Unfall gedacht?"
Noch völlig benommen strich sich Karla über ihren gelben Angorapullover. Es gab wohl niemanden sonst, dem Gelb so gut stand wie ihr, mit ihrem dunklen Teint und den schwarzen Haaren. Doch heute wirkte die Farbe ein wenig fehl am Platze, angesichts ihrer depressiven Stimmung. Sie spürte die Hand ihres Bruders auf ihrem Arm. Timm war der einzige, der verstand. Ihre Eltern waren Meister der Verdrängung. Wieso gelang ihr das nie? Die Stimme des Vaters dröhnte ihr entgegen:
"Es war ein Unfall, schlicht und ergreifend ein Unfall."
Was auch immer das heißen soll, dachte Karla. Sie merkte, wie Übelkeit in ihr hochstieg.
"Es war meine Schuld, Papa, hörst du? Meine Schuld."
"Ach, Schuld, Papperlapapp", sagte der Vater und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. "Das war nur diese Musicalschule damals. So eine Schnapsidee. Wenn du nicht solches Lampenfieber gehabt hättest, wäre das alles nie passiert. Aber so hat es ja auch etwas Gutes."
In Karla kochte die Wut. Wieso war sie überhaupt hergekommen? Ihre Eltern hatten immer etwas dagegen gehabt, dass sie Sängerin und Schauspielerin werden wollte. Sie sollte in die Fußstapfen des Vaters treten, der Arzt war, mit Leib und Seele. Wie oft hatte Karla ihren älteren Bruder beneidet, der alle Freiheiten hatte und tun und lassen konnte, was er wollte. Ihm hatten die Eltern nicht verboten, Kunst zu studieren. Im Gegenteil! Er wurde von ihnen sogar noch finanziell unterstützt, da er schließlich kaum Geld verdiente. Mit geheuchelter Freude servierte die Mutter das selbstgebackene Osterlamm zum Dessert und beschwerte sich im Scherz darüber, dass Karla kaum etwas gegessen habe. Aus Trotz, aber vor allem aus Überzeugung hatte Karla ihr Medizinstudium damals abgebrochen und sich an der Musicalschule beworben und war tatsächlich genommen worden. Mit großem Eifer stürzte sie sich in die Arbeit. Neben der Schule sang sie in einer Jazzband, was die Eltern erst recht missbilligten. Wenn Karla nur nicht immer von so schrecklichem Lampenfieber geplagt gewesen wäre. Ein furchtbares Gefühl, zu wissen, dass man sein Handwerk eigentlich beherrschte und dennoch solche Angst vor dem Urteil fremder Leute hatte.
"Was macht die Arbeit in der Klinik?", fragte der Vater.
"Ist o.k", sagte Karla knapp.
"Meine Güte", schwärmte die Mutter, "dass du doch noch Ärztin wirst! Wir sind so stolz auf dich, Schatz."
Karla erhob sich vom Tisch.
"Ich muss gehen."
"Ich bringe dich heim", beeilte Timm sich zu sagen.
"Was denn, ihr wollt jetzt schon gehen? Wir haben den Champagner noch gar nicht getrunken. Ich habe ihn extra für heute gekauft."
Die Mutter ließ deutlich merken, wie beleidigt sie war.
"Muss morgen früh raus", murmelte Karla und floh zur Tür hinaus.
"Tut mir Leid", sagte Timm, nachdem sie eine Weile im Auto stumm nebeneinander gesessen hatten. Seit dem Unfall hatte Karla sich nicht mehr hinter das Steuer eines Wagens gesetzt. Meist fuhr sie Bus oder Straßenbahn.
"Du kannst doch nichts dafür", sagte sie matt.
"Trotzdem kann es mir doch Leid tun", beharrte er, wie es so seine Art war. Dann wechselte er das Thema.
"Ach, übrigens. Ludgers Mutter liegt in deiner Klinik."
"Meine Klinik. Wie das schon klingt. Ich mache dort mein praktisches Jahr, das ist alles", sagte Karla verärgert.
"Jedenfalls liegt Ludgers Mutter da. Sie hatte einen Herzanfall."
Ludger, dachte Karla. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen? Er war früher der Manager und Bassist ihrer Jazzband gewesen und bis heute Timms bester Freund. Mittlerweile hatte er eine Künstleragentur. Ludger hatte noch lange nach ihrem Unfall versucht, sie zum Weitersingen zu überreden. Irgendwann war sie ihm dann ganz aus dem Weg gegangen. Sie standen vor Karlas Haus.
"Danke fürs nach Hause bringen", sagte sie zu Timm und war schon mit einem Fuß aus dem Wagen ausgestiegen.
"Hey!", rief er ihr nach, "Du könntest Ludger wenigstens so etwas wie dein Mitgefühl aussprechen, er ist ziemlich fertig wegen seiner Mutter. Du weißt, sie hatten immer ein enges Verhältnis. Er würde sich wirklich freuen."
"Mal sehen", meinte Karla und ließ die Beifahrertür ins Schloss zurück sinken.
Den ganzen Tag hatte Karla kaum Zeit zum Luftholen gehabt. Nur eine Zigarette, dachte sie sehnsüchtig und wollte sich gerade über die neonbeleuchteten Gänge zum Ausgang der Intensivstation stehlen, als eine vertraute Stimme aus alten Zeiten hinter ihr her rief. Als sie sich umdrehte, sah sie Ludger, der in einer der kleinen abgetrennten Aufenthaltsnischen gesessen hatte und nun auf sie zukam. Oh nein, dachte sie. Das letzte, was sie nun gebrauchen konnte, war, von der düsteren Vergangenheit eingeholt zu werden.
"Hallo Ludger", begrüßte sie ihn verlegen, "Wie geht es deiner Mutter? Timm hat es mir gestern erzählt."
"Schon etwas besser", sagte er, "Vielleicht kann sie schon in ein, zwei Tagen verlegt werden."
"Das freut mich. Dann ist sie also über dem Berg."
"Ja."
Ludger musterte sie. Wahrscheinlich dachte er, was auch sie jedes Mal dachte, dass sie eigentlich nicht hierher passte, dass sie zwischen den ganzen anderen Weißkitteln irgendwie verloren wirkte. Kurze Zeit später saßen sie in der modernisierten Cafeteria vor zwei noch moderneren Latte Macchiato und waren so ins Gespräch vertieft, als hätten niemals vier Jahre zwischen ihnen gestanden. Ludger erkundigte sich nach Wolfgang, Karla erklärte, wie sehr ihr sein Zustand zu schaffen machte.
"Bist du deshalb Ärztin geworden?", fragte Ludger.
Sie sah ihn erstaunt an. Darüber hatte sie sich eigentlich noch nie Gedanken gemacht. Dann erzählte er von sich, von seiner Agentur und von Auftritten, die er mit seiner Band gespielt hatte. Natürlich versäumte er nicht, ihr zu sagen, wie sehr er ihre Musikalität und ihre Ausstrahlung schätzte und vermisste. Die ganze Zeit, die er sprach, sog sie seine Worte auf, wie ein Verdurstender einen Tropfen Wasser in der Wüste aufsog. Wie lange hatte sie derartige Komplimente nicht mehr gehört? Jahrelang hatte sie geglaubt, es sei respektlos Wolfgang gegenüber, so etwas zu hören. Von Selbstvorwürfen zerfleischt hatte sie sich geschworen, eine solche Situation niemals mehr entstehen zu lassen. Die Nervosität vor dem Auftritt hatte sich in derartige Angst verwandelt, dass sie nicht mehr Herr ihrer Sinne gewesen war. Da sie Wolfgangs Leben zerstört hatte, wollte sie auch sich nicht mehr zugestehen, ihr Leben weiter zu leben wie bisher.
"Komm doch wenigstens einmal zu unserem Konzert", bat Ludger und seine Bitte klang wie ein Flehen. "Es ist doch ein Jammer, dass du so gar nichts mehr machst."
Als Karla abwehrend den Kopf schüttelte, meinte er:
"Du musst ja auch nicht singen. Komm einfach zum Zuhören, am Samstag, hier im Jazzkeller. Ich würde mich wirklich freuen."
"Mich hat es auch gefreut", sagte sie, "dass wir uns mal wieder getroffen haben, doch jetzt muss ich wieder an die Arbeit zurück. Alles Gute noch für deine Mutter."
Und damit ließ sie Ludger mit seiner geplatzten Seifenblase zurück.
Dicker Zigarettenrauch schlug ihr entgegen, als sie von der Musik die acht Stufen zum Eingang des Jazzkellers hinunter gesogen wurde. Mit Herzklopfen passierte sie die Kasse und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge. Ganz schön voll, dachte sie. Gut für Ludger. Sie steuerte die kleine abgetrennte Ecke an, in der die Band spielte. Wie sie den Worten ihres Nachbarn entnehmen konnte, war es das erste Stück des zweiten Sets. Sie genoss jede einzelne Note der ihr nur zu vertrauten Jazzstandards, und in ihr breitete sich ein Gefühl aus, als sei sie in ihr altes Leben zurückgekehrt. Als Ludger den letzten Song vor der Pause ankündigte, nickte er ihr aufmunternd zu und stimmte einen alten Etta James Klassiker an, von dem er wusste, dass er eines ihrer ganz besonderen Lieblingslieder war. Karla versuchte das in ihr aufsteigende Lampenfieber zu ignorieren und griff nach dem Mikrophon. Und dann, als sie mit den ersten drei Versen einsetzte, war alles wieder da, wie damals, und sie fühlte, dass sie nach langer Abwesenheit endlich nach Hause zurückgekehrt war.
"At last my love has come along ... my lonely days are over ... and life is like a song."



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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