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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Schlüsselerlebnis

© Ludwig Zaccaro


Es geschah im Weihnachtsmonat 1966. In einer 10. Klasse des Münchner Ludwigsgymnasiums wurde die Klassentür mit einem heftigen Schlag aufgestoßen. Die 34 Schüler, ich war einer davon, sahen als erstes eine Stiefelspitze in halber Höhe der Türe, dann erschien unser Religionslehrer, ein wuchtiger großer Mann im schwarzen Anzug. Er betrat das Klassenzimmer im Stechschritt, nur der Hitlergruß fehlte, und steuerte energisch auf das Lehrerpult zu.
"Alle aufstehen", schrie er mit vor Wut verzerrtem Gesicht. Die meisten standen schon längst.
"Vater unser, der du bist im Himmel ..." Ich hatte als Kind oft und gerne gebetet, doch was der Herr Professor (so mussten wir alle Lehrkräfte nennen) da vom Stapel ließ, klang eher nach politischer Propaganda oder nach militärischen Befehlen als nach einem Gebet.
Diese Auftritte gab es schon seit September, dem Beginn des Schuljahres. Der Klassensprecher hatte sich in unser aller Auftrag schon mehrmals beim Schuldirektor beschwert, doch dieser versuchte nicht nur, uns zu beschwichtigen, nein noch mehr, er verteidigte den Kollegen sogar.
"Ihr solltet Verständnis mit ihm haben; er hat es schwer gehabt im Leben, war in vorderster Front dabei, beim Russlandfeldzug; zuletzt erlitt er einen Kopfschuss, den er nicht richtig ausheilen konnte. Stattdessen wurde er vom Feind in ein Straflager nach Sibirien verschleppt. Nach fünf schrecklichen Jahren kam er dank Adenauer zurück. Er ist wirklich ein armer Hund und obendrein von seiner Kopfverletzung und der schweren körperlichen Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen gezeichnet. Natürlich wäre es besser für ihn, in Frühpension zu gehen, doch das geht nicht; da ist er mit seinen 46 Jahren noch zu jung. Ich kenne ihn persönlich etwas näher: Im Grunde seines Herzens ist er ein feiner Mensch, doch tragischerweise durch den Krieg und seine Folgen schwer traumatisiert. Ihr werdet dies auch noch feststellen und Nachsicht mit ihm haben können."
Doch wir stellten nichts Entsprechendes fest, im Gegenteil, wir kamen zu der Überzeugung, dass er verrückt war und in eine Anstalt gehört hätte und nicht in eine Schule.
Es hagelte nur so von Verweisen und Arresten und die 1. Schulaufgabe fiel mit einem Notendurchschnitt von 4,6 aus. Das war dann auch dem Schuldirektor zu viel und er kassierte die Arbeit klammheimlich ein. Doch ansonsten geschah nichts.
Ich war ein schüchterner und fleißiger Schüler, was mir bei meinen Klassenkameraden den Ruf eines Strebers einbrachte. Ich war tatsächlich ein solcher, doch mein Verhalten erklärt sich leicht aus der Nahtoderfahrung, welche ich mit 4 Jahren machte. Als Folge davon verkündete ich von da an jedem, dass ich Priester werden möchte. Mein Ziel war, neue positive Akzente für mein Volk und seine Bürger zu setzen, als Antwort auf den schrecklichen 2. Weltkrieg wenige Jahre vor meiner Geburt.
Doch im Laufe meiner Schulzeit im Humanistischen Gymnasium wurde mein Glaube auf eine schwere Probe gestellt und zuletzt gewannen massive Zweifel an der katholischen Kirche immer mehr die Oberhand. In mir entstand der Eindruck, dass Jesus etwas ganz anderes beabsichtigte als dann in seinem Namen, nach seinem Tod am Kreuz, geschah. Mir stießen immer mehr die Widersprüche und Dogmen der Kirchen auf und so kam es, dass ich mein Lebensziel aus den Augen verlor und als Folge meine schulischen Leistungen entsprechend nachließen. Ich musste eine Klasse wiederholen, aber auch dies änderte nichts an der Tatsache, dass ich mich nur noch von einem Schultag zum nächsten quälte, unfähig die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen und auf die Mittelschule zu gehen.
Das Tüpfelchen auf dem "i" in meinem Leidensprozess war nun dieser Religionslehrer. Seine ersten Auftritte ließen mich fassungslos und psychisch gerädert zurück. Die Religionsstunden, früher mein Lieblingsfach, wurden zum Horrortrip. Zwar war ich als verschüchterte graue Maus nicht im Fadenkreuz seiner Aggressionen, doch wie er mit drakonischen Strafen die Mutigsten in meiner Klasse kalt stellte, schmerzte mich wie ein Dorn in einer Wunde.
Warum geschah denn nichts, entstand kein wirklicher Widerstand? Nicht einmal zu solidarischen Gemeinschaftsaktionen der Klasse kam es.
Der besagte Tag unterschied sich nicht wesentlich von vielen anderen, an denen wir unter unserem "Diktator" litten; trotzdem war an diesem Tag für mich etwas ganz Entscheidendes geschehen. Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, war geflossen.
Bodenlose Enttäuschung darüber, dass und wie sich meine Mitschüler und auch ich von einem Verrückten herumkommandieren und einschüchtern ließen, hatte Besitz von mir ergriffen. Plötzlich spürte ich, wie grenzenlose Wut mein Rückgrat nach oben stieg, bis ins Gehirn und meine ganze Körperhaltung straffte sich urplötzlich. Vor meinen Augen sah ich Belzebub, der sich über mich und alle Idealisten dieser Erde lustig machte und dann geschah es.
Das "Amen" am Ende des "Vater unser" klang in meinen Ohren wie ein Peitschenhieb. Danach ein kurzes herrisches "Setzen!" Alle folgten geflissentlich, nur ich blieb stehen. Der Herr Professor ignorierte mich einen Augenblick und wollte gerade mit dem Unterricht beginnen, als er noch einmal den Blick auf mich richtete:
"Herr Zaccaro, sind Sie taub? Ich habe setzen gesagt!" Es war das erste Mal, dass er mich mit meinem Nachnamen angesprochen hatte:
Danach kam alles wie von selbst. Ein wütendes, lautes "Nein" entrann meiner Kehle und bevor er darauf reagieren konnte, brach es aus mir heraus, all die Verzweiflung und der tiefe Frust meines jungen Lebens.
Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, doch war es eher der Aufschrei eines gequälten, wilden Tieres als eine fundierte Anklagerede. Fürwahr glaube ich, dass der Hauptteil meiner Rede aus einem langen nicht endenden wollenden Schrei bestand. Ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, als mir plötzlich bewusst wurde, dass nicht nur der Herr Professor, sondern die ganze Klasse gebannt auf mich blickten. Es war Ruhe eingekehrt.
"Setzen Sie sich, Herr Zaccaro, wir sehen uns nach dem Unterricht bei dem Schuldirektor!"
Noch einmal flammte grenzenloser Zorn in mir auf.
"Nein, das werden wir nicht! Ich verlasse jetzt sofort diesen Raum und werde ihn nie wieder betreten. Nie wieder! Haben Sie verstanden? Vor Gott als Zeugen sage ich hiermit: meine rechte Hand soll mir abfallen, wenn ich diesen meinen Worten zuwider handle!" Dann packte ich so schnell ich konnte all meine Sachen in meinen Rucksack, stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und warf sie hinter mir, mit all meiner jugendlichen Kraft, ins Schloss.
Beim Gehen spürte ich ganz deutlich, dass etwas ganz Entscheidendes geschehen war, nicht nur etwas, was meine Schulkarriere betraf, sondern mein ganzes Leben. Es hatte die entscheidende Wende genommen, heraus aus einem angepassten Leben mit Sicherheit und Karriere in ein Leben des Außenseiters voller Spannung und Abenteuer. Der Rebell in mir war geboren!



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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