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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Morgen danach

© Claudia Elisabeta Stolz


I
"Schatz", höre ich Leo und noch mal lauter: "Schatz". Ich liebe seine Stimme - so kraftvoll und dennoch so zart. Alles was mich umgibt: die streichelnden Sonnenstrahlen, der nach Meer duftende Wind, der ganz sacht meine Haut berührt und mich erregt, machen meine Bemühung, aufrecht zu sitzen zwecklos. Nach unzähligen Anstrengungen, gelingt es mir die Verbindung zur Natur zu trennen, stehe auf und winke ihnen zu.
"Schau dir an, was die Marie kann!" Jetzt kommt ein spannender Moment, den ich nicht verpassen darf. So greife ich nach der Kamera und bin bereit für die Aufnahme. Leo bekommt das Zeichen, hebt Marie, samt ihren Schwimmreifen und Schwimmflügel, in der Luft und lässt sie ins Wasser fallen. Die Tropfen in ihrem Gesicht funkeln in Sonnenschein. Ihr Mund öffnet sich in einem breiten Lächeln und die Hände platschen nacheinander in das blaue Meer. Leo hebt sie wieder hoch, küsst ihre nassen Locken, lässt sie wieder fallen, und ihre Hände platschen wieder und wieder und wieder.
"Kommt ihr beide nicht raus? Habt ihr immer noch nicht genug?" Ich sehe, wie glücklich sie sind, ich sehe über ihnen hinaus auf das Meer. Es ist so friedlich, so still. Fast keine Welle ist am Horizont zu erkennen.
Nicht einmal die Vögel wollen mit ihrem Zwitschern diesen wunderbaren Frieden stören. Ich lege mich wieder hin, aber zuerst beobachte ich den kleinen Pascal, der voller Glückseligkeit in seinem Autositz schläft.
Wie gut dieser feine Sand unter meinem Körper sich anfühlt. Oh, ich liebe das Meer, ich liebe dieses Land, diesen Ort und die Menschen, die für einen da sind, wenn man es braucht. Ich drehe den Kopf nach links und beobachte "unseren Häuptling", wie Leo ihn nennt. Alexander, ist vor kurzem 11 geworden, aber für seinen Alter ein richtig großer Bursche mit dunklen braunen Haaren. Der Schwimmkurs ist bestimmt für seine Entwicklung auch verantwortlich, aber er hat eine gute Veranlagung, denn Alexander ist ganz der Vater. Die Liebe für Natur und Frieden hat er aber von mir.
Ich schließe ganz langsam die Augen und spüre den Wind nicht mehr. Es ist so ruhig, fast zu ruhig. Ich denke an nichts. Ich bin ganz entspannt und genieße die Stille. Meine Hände berühren die zwei Kinder die seitlich von mir liegen. Die wohlige Wärme, die von überall kommt: aus der Luft und meinem Herzen, aus der Erde und meinem Bauch, erfüllt meine Seele. Ich bin voller Freude. Der Atem strömt einfach und in meinem Herzen schwingt die Kraft der Liebe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals anders war. Alles ist vollendet! Meine Welt und die meines Geliebten ist vollkommen und die Krönung sind unsere Kinder.
Unbeschwert, froh und sorglos genieße ich diesen goldenen Tag! Nichts kann mich aus dem Gleichgewicht bringen, auch wenn jetzt die Vögel laut zwitschern ... sehr laut!

II
Für einen Moment spüre ich meine Einsamkeit, aber im gleichen Augenblick vertreibe ich sie mit der gleichen Kraft, mit der sie über mich fiel.
Mein Atem stockt und die Muskeln verkrampfen sich. Das dumpfe Pochen meines Herzens, lässt die Angst in meinem Inneren steigen. Ich versuche mich zu beruhigen.
"Madame, geht's Ihnen gut?"
Ich drehe den Kopf und sehe dieses Flittchen, dieses faules Stück Mensch. Ich fixiere sie streng und genauso klingt auch meine Stimme, wenn ich sie anspreche:
"Mir blöde Fragen zu stellen, dafür bezahle ich dich nicht! Geh und erledige deine Arbeit!"
"Ja, Madame! Ich habe verstanden Madame!"
Ich lasse sie ein paar Treppen rauf steigen und dann rufe ich sie wieder. Hektisch, steigt sie die Treppen wieder runter, stolpert und landet vor meinen Füßen.
"Und Paola, heute um Punkt 19 Uhr bist du in meinem Büro."
"Ja Madame, ich habe verstanden Madame!"
"Und jetzt geh endlich! Ach, ja! Nächstes mal, stolpere nicht mehr!" Ich lache. Aber etwas stimmt nicht. Mein Lachen hört sich so leer, so kraftlos. Und dieser blöde Mediziner, der mich mit seinen schmierigen Händen berührt hat, sagte: "Sie sind kerngesund!" Pfui! Ich hasse den Arzt, ich hasse all die Menschen, ich hasse meinen Vater und sein Erbe - dieses kleines, schmutziges Hotel zusammen mit dem Personal. Vor ein paar Monaten haben vier von ihnen gekündigt. Ich habe sie sofort ersetzt, mit billigeren Arbeitskräften. Das hat mir Freude gebracht. Ich war damals glücklich! Paola und Thuan muss ich noch loswerden. Ich fühle mich allein und unzufrieden. Die Wut wächst in mir, denn die Akzeptanz, die in meine Seele nisten will, lässt sich schwer vertreiben. Ich bin außer mir und ich suche wie besessen das Böse. Aber am Horizont sehe ich das Licht und vernehme ein warmes Gefühl. Bis vor kurzem war ich noch zufrieden und musste das Böse nicht suchen, denn ich war das Böse! Und jetzt versuchen die Gedanken einen Ausgang aus diesem Lichtlabyrinth zu finden, sie greifen aber ins Leere! Wo finde ich die Lösung? Noch mehr Hass und Missbilligung, noch mehr Eckel und Abscheu! Nur so wird meine Festung wieder heil!
Ich durchquere das Parterre des Hotels. Es ist hell und mit bunten Blumen verziert. Auf den kleinen Tischen und Stühlen aus Rattan, die sternförmig eingerichtet im Raum sind, steht je ein Kristallsalz mit Teelichtern. Die orangene Gardine aus sehr feinem Voile, lässt diesen Bereich in ein wunderbares warmes Licht tauchen.
Warum ausgerechnet heute, beobachte ich alles, was mich umgibt so gern?
Ich bin doch immer so gleichgültig und unempfindlich gewesen! Warum ist heute anders?
Ich nähere mich dem Fenster, das in einem runden Bogen die Fassade des Hotels "Reviera" bildet. Mein Hotel!
Ich sehe die Menschen am Strand und sehe über ihnen hinaus auf das Meer!
Es ist so ruhig und so still, zu still! Es ist lange her, als ich das Blaue des Himmels über dem Meer betrachtet habe! Es ist lange her, als ich den duftenden Wind auf meiner Haut gespürt habe! Ich fühle mich leichter und wenn ich Flügel hätte würde ich fliegen ... weit, weit! Die Vögel zwitschern laut, sehr laut!

III
Die angenehme Wärme umfasst meinen Körper, berauscht meine Sinne, verleiht mir Flügel. Ich bin ganz entspannt und habe kein Ziel, da alles vollkommen ist.
Seltsam, als hätten sie einen Befehl ausgeführt, haben die Vögel aufgehört zu singen. Die Stille ist erdrückend. Ein leichtes Rauschen, das von weitem kommt, nehme ich wahr und lausche dem fliegenden Schwarm.
Diese Geräusche wirken beunruhigend auf mich. Ich stehe auf und starre das Meer an. Das Wasser zieht sich langsam zurück. Merkwürdig.
Ich will Leo rufen, aber im gleichen Moment höre ich meinen Namen: "Simone, etwas stimmt hier nicht!", ruft er laut, beugt sich und hebt die Marie. Er hält sie fest an seiner Brust. Meine Hand ist gestreckt, mein Zeigefinger zeigt auf das Meer und mein Gesicht ist wie versteinert. Leo dreht sich um, fängt an zu laufen und schreit verzweifelt. "Lauf, Lauf! Pack die Kinder und Laufff..! Entfern dich vom Strand! Lauffff! Sie kommt! Laufff..!
Ich packe Alexander an der Hand und greife nach dem Autositz. Ich habe die Kinder, halte sie fest und laufe, laufe sehr schnell. Ich drehe mich nicht um, ich kann nicht. Was, wenn ich stolpere? Ich muss weiter laufen! Pascal ist gerade aufgewacht und fängt an zu weinen. Ich kann ihn nicht trösten! Wir müssen weiter laufen! Obgleich ich erschöpft bin, mobilisiere ich sämtliche Energien und laufe! Lauf weiter! Meine Arme spüre ich nicht mehr! Erschrocken beobachte ich meine Hände, um mich zu vergewissern, dass ich die Kinder noch fest halte. Ich atme tief ein.
Meine Finger krampfen sich zusammen auf Alexanders Unterarm und auf dem Griff des Autositzes. Ich atme tief aus. Wir laufen weiter. Alexander berührt den Boden nicht mehr und das Rauschen hört sich bedrohlich nah an. Ich drehe kurz den Kopf um Ausschau nach Leo und Marie zu halten.
Mein Atem stockt. Das Blut gefriert in meinen Adern. Eine gigantische Welle kommt auf uns zu. Der Himmel ist dunkel und diese enorme Wassermasse erscheint mir, als wäre sie ein unendlicher, schwarzer Mantel, der Mantel des Todes. In Sekundenschnelle läuft mein ganzes Leben vor meinen Augen.
Ich sehe mich als kleines, armes Mädchen, das zusammengekauert auf dem Boden neben den Wohnzimmerschrank sitzt. Ich schaue nach oben zu meiner blutüberströmten Mutter. Mein Blick wandert zu meinem Vater. Seine Fäuste schlagen wie verrückt auf sie ein. Mein kleiner Bruder, der in seinem Bettchen schläft, wacht auf und fängt an zu schreien. Mein Vater zuckt zusammen, hält inne, dreht sich brüsk um und nähert sich wankend dem Bettchen. Er hebt meinen Bruder hoch und fängt an ihn zu schaukeln.
Meine Mutter schnappt mich an der Hand und wir schleichen uns schnell aus dem Zimmer. Wir laufen raus aus der Wohnung und wir laufen die Treppen herunter. Wir laufen raus aus dem Wohnhaus und wir laufen raus aus der Stadt. Ich weiß nicht wo wir hingelaufen oder wo wir angekommen sind! Ich habe es vergessen!
Ich laufe weiter, die Kinder sind bei mir!
Ich sehe mich als Jugendliche - ängstlich und traurig. Ich laufe vor Jungs weg. Ich laufe von Männern weg, aber Leo holt mich ein und bremst mich.
Ich sehe mich und Leo, die Zweiheit die, die Ganzheit sucht. In uns ist Freude und Sehnsucht. Die Liebe erfüllt uns und wir leben in Harmonie.
Wir haben alles, was wir brauchen: ein schönes Haus und drei wundervolle Kinder. Vollkommen und vollendet ist unsere kleine Welt.
Ich schaue noch mal hinter mich. In ein paar Minuten wird uns dieser schwarze Mantel mit seiner Nässe umhüllen. Ich habe keine Kraft mehr.
Die Kinder sind schwer geworden. Wir schaffen es nicht, nicht mal bis zum Hotel. Es ist vorbei! Ich höre Leos Stimme: "Laufff …!" Erneut sammle ich meine Kräfte, aber es ist schon zu spät. Das Wasser kommt mit großem Druck auf uns zu. Ich versuche zu schwimmen, aber ich habe keine freie Hand. Ich tauche ab und versuche die Kinder über das Wasser zu halten. Alexander holt mich an die Oberfläche und bemüht sich seine Hand frei zu bekommen. Aber ich halte ihn fest.
"Lass mich los Mutter!"
"Nein, die Strömung ist zu stark! Das schaffst du nicht!"
"Lass mich los, sonst sterben wir alle!"
Wie Recht er hat! Ich schaue Pascal an, ich schaue Alexander an! Und meine Faust öffnet sich langsam! Meine Tränen und das Meer sind eins!
Wie sehr liebe ich dich Alexander! Wie sehr habe ich dich geliebt Meer!
Ich hatte nie Angst vor dir! Und jetzt nimmst du mir meinen Sohn.
Das Wasser geht mit ungeheuerlicher Wucht zurück. Ich muss Türen und Autos, Leichen und Äste ausweichen, und versuche gegen den Strom zu schwimmen. Ich sehe unsere Rettung, es ist diese Palme! Ich habe es geschafft! Ich klammere mich fest an ihr. Meine Hände und den Autositz binden, ein Kreis um sie herum. Ich sehe Alexander! Er hat auch geschafft sich an einem Baum festzuhalten.
"Halt dich fest! Lass nicht los!", rufe ich ihm zu. Ob er mich hört?
Ich sehe auf das Meer hinaus. Eine noch größere Welle kommt auf uns zu.
Das ist das Ende!
Zum letzten Mal möchte ich meine Kinder anschauen. Ich habe den Eindruck, dass Pascal fast keine Luft mehr kriegt, so heftig weint er!
Sein Gesicht ist rot angelaufen und er bewegt den Kopf hin und her. Die kleinen Hände zupfen zitternd an das weiße Body. Wie gerne würde ich ihn trösten, sein süßes Gesicht mit Küsschen bedecken und ihn wieder sanft in den Schlaf wiegen.
Mein Blick richtet sich auf Alexanders Baum. Unser Häuptling! Aber er ist nicht mehr da! Dieser Anblick schneidet mir die Seele. Ich schließe die Augen und flehe Gott an, meine Kinder zu retten. Meine kleine Welt ist zerstört! Dennoch sollen sich die Kinder an dieses wunderbare, unberechenbare Leben erfreuen. Auch wenn ich nicht mehr da bin!

IV
Ich fühle mich schuldig, denn mein Herz lässt sich von Kleinigkeiten berauschen. Ich entferne mich vom Fenster. Ich lebe in dieser Welt, gehöre ihr aber nicht. Zukunft - ich habe keine Zukunft! Herkunft - ich habe keine Herkunft! Ich bin kein Mann, aber auch keine Frau! Ich bin nicht jung, aber auch nicht alt! Ich bin weder böse noch gut! Ich bin nur Hass, denn nichts erfüllt mich!
Ich setze mich auf meinen Stuhl. Die Tasse Kaffe und das Stück Kuchen liegen bereits auf dem Tisch. Thuan macht seine Sache gut! Paola bringt mir meine Schachtel Zigaretten und den Aschenbecher. Eigentlich macht sie ihre Arbeit auch ganz gut! Ach, was rede ich, heute Abend werde ich beiden kündigen!
"Verschwindeeeeet beide aus meinen Augen! Habt ihr alles schon fertig?"
"Die Zimmer sind fertig, Madame!"
"Und die Küche ist auch sauber, Signora Angela!", verkündet leise Thuan - dieser kleine, miese Wurm.
"Und wollt ihr vielleicht für heute frei, oder soll ich danke sagen? Es ist genug Arbeit hier! Macht, dass ihr weg kommt! Raus hier, ihr Ratten!"
Oh, ich hasse dieses Land, diesen Ort und all die Menschen die mich umgeben!
Ich trinke noch ein Schluck Kaffee und dabei betrachte ich durch die geöffnete Tür, das Leben da draußen. Der Wind hat aufgehört zu blasen und die Vögel singen nicht mehr. Ich sehe Menschen die in unsere Richtung eilen. Um einen besseren Überblick zu haben, stehe ich auf.
Und ich sehe es! Dieses blaue Monster! Die Leute laufen um ihr Leben.
Wie vom Blitz getroffen, falle ich wieder im Sessel. Ich kann nicht glauben, das was ich gerade gesehen habe!
Paolas Schrei bringt mich zur Besinnung. Die Gefahr wird mir bewusst.
Ich stehe auf und sehe auf das Meer. So wütend, so aufgebracht und so hungrig habe ich es nie gesehen! Die riesengroße Welle kommt auf uns zu, direkt auf uns zu und alles was ihr im Weg steht wird zerschmettert oder für immer verschlungen. Ich sehe eine Frau mit zwei Kindern! Sie läuft wie besessen! Sie wird aber nicht schaffen, denn sie ist entkräftet!
"Laufen Sie Signora!", ruft mir Thuan.
Laufen? Wohin denn laufen? Ich setze mich wieder auf den Stuhl. Es entkommt doch keiner! Warum denn laufen? Ich habe Angst, kann mich nicht bewegen, kann mich nicht wehren! Und mein Leben läuft vor meinen Augen.
Ich sehe mich als kleines Mädchen. Fast nackt sitze ich auf dem Bett und sehe ihn kommen: diesen fetten, großen Mann. Er ist nackt. Meine Finger drücken ganz fest die Augen, denn ich möchte nichts mehr sehen. Schreien und laufen! Ich schreie und laufe im Zimmer herum. Warum kann ich nicht entkommen? Warum kommt niemand? Wohin soll ich laufen? Ich habe Angst und kann mich nicht bewegen! Mein kleiner Körper spürt diese eklige, klebrige Berührung. Ich schlage um mich und versuche zu laufen.
Wohin denn laufen? Dieser Abschaum hält mich aber fest! Wo ist meine Mama? Warum kommt sie nicht? Warum hilft sie mir nicht? Ich bin machtlos und habe Angst!
Mit großer Wucht fällt dieses Monster über mich her! Es fühlt sich so kalt an und so abscheulich! Meine Hände schlagen um mich, aber ich kann nicht entkommen! Ich denke ich bin tot. Das Wasser geht zurück und ich versuche mich an dieser Tür, an diesem Baum, an diesem Auto festzuhalten. Zwecklos! Ich werde weggespült! Zu viel Kraft, zu viel Druck, dagegen bin ich hilflos. Ich werde gegen einen riesigen Baum geschleudert. Mein Körper ist wund, die Schmerzen unerträglich. Dennoch kann ich mich an dem Baum festhalten! Ein unbeschreiblich schönes, beruhigendes Gefühl diesen großen, starken Baum zu umarmen! Die zweite Welle fällt über mit zusammen, aber ich fühle mich sicher, ich habe keine Angst mehr! Ich bin eins mit dem Baum! Ich bin der Baum und ich bin staark, ja ich bin staaaark! Das Wasser geht zurück und ich sehe diesen Jungen! Eines Tages wird er auch ein großer, starker Mann sein!
Er blutet! Wenn ich ihm nicht helfe, wird er auf hohe See weggespült und für immer verschwinden. Die Angst ist weg, der Hass und die Wut verschwunden und zum ersten Mal, nach so langer, langer Zeit, spüre ich die Lust zum Leben! Soll ich versuchen ihm zu helfen? Ja, er braucht meine Hilfe und ich bin da! Ich lasse meinen Baum los und bemühe mich den Jungen zu erreichen. Meine Hand berührt seine und einen Augenblick ist mein Herz stehen geblieben. Ich packe ihn kräftig an und suche meinen Baum. Es ist kein Baum mehr da! Um uns herum sind nur Trümmer und Leichen. Wir werden weggespült! Aber ich möchte so gerne leben! Soll das das Ende sein? Jetzt, wo alles erst angefangen hat? Ich sehe den Jungen an! Wir sind doch auf Entdeckungsreise! Das Leben öffnet gerade die Tore für uns. Seine Augen sind zu. Er blutet stark.
Trotz allem, muss ich feststellen, dass ich schwach bin. Meine Kraft ist aufgebracht und spüre wie mein Mund, die Nase und die Ohren sich mit Wasser auffüllen. Ich sterbe, aber ich bin froh, in letzter Sekunde die Schönheit dieser Welt und der Menschen gesehen zu haben.
Zwei Hände fangen mich an und ziehen mich auf einem Holzbrett heraus.
Mein Mund ist voller Wasser, ich spucke aus und huste.
"Der Junge! Wo ist er?"
"Hier Signora! Es ist alles wieder gut, liebe Signora! Haben Sie keine Angst, Thuan ist hier!"
Seine starke Hand berührt scheu meine Hand. Ich drehe den Kopf und starre ihn an. Zum ersten Mal, als wäre mir ein Schleier von der Stirn gefallen, sehe ich ihn so an, wie er ist. Ein rüstiger, schöner Mann mit sanften Augen und herzlichem Lachen.
"Entschuldigen Signora! Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist!" und vorsichtig zieht er die Hand zurück. Ich halte sie aber fest! Es tut gut, diese warme, weiche Hand zu spüren. Keine Angst, keine Wut, kein Ekel, kein Hass! Ich bin frei!
"Wirst du mir jemals verzeihen, Thuan? Du und Paola? Werdet ihr mir je vergeben können? Du und die anderen?"
Auf meinen Wangen rollen die Tränen, bis zu meinem Mund. Ich schlecke sie! Sie sind so salzig! Ich habe vergessen wie die Tränen schmecken!
Ich fühle mich gut!
"Oh, Oh Signora! Genug Wasser ist hier! Muss Signora keine Tränen mehr vergießen!"
Überwältigt stütze ich mein Kopf auf seiner Schulter. Zärtlich streichelt er meine Haare und wischt mir die salzigen Kristalle aus dem Gesicht!

V
Dieser Ruf, der kommt von weitem und ich kenne die Stimme! Kann aber nicht antworten!
"Simone, Simone!"
Meine Brust wird kräftig gepresst und meine Lungen bekommen auf einmal ganz viel Sauerstoff. Das Wasser lässt mich frei, frei atmen. Meine Augen lassen sich schwer öffnen. Ich sehe Leo und will unbedingt wissen, wo die Kinder sind, aber ich bin erschöpft! Ich spüre die Tränen, sie brennen mein Gesicht!
"Simone, Marie und Pascal sind in Sicherheit .... aber Alexander ....." Er weint auch.
"Ich wollte ihn nicht loslassen, nein, ich wusste, dass er es nicht schaffen wird." Meine Stimme klingt ungeheuerlich, maßlos. Ich hasse mich, ich hasse das Meer. "Nein, Alexander! Ich komme, ich helfe dir, ich lass dich nicht allein!" Ich stehe auf, reiße mich los, aber die markigen Männerhände ziehen mich zurück.
"Nein, Simone, ich gehe ihn suchen. Du musst ins Krankenhaus mit den Kindern." Sein warmer Kuss ist mir so fremd! Warum hasse ich ihn? Ich werde weggetragen. So viele Trümmer und Zerstörung, so viele Leichen und ruinierte Leben! Wo sind meine Kinder! Wo werde ich hingebracht!

VI
"Der Junge muss schleunigst in Krankenhaus, Thuan, aber wie schaffen wir es? Schau dich nur um! Und wo sind wir eigentlich?"
"Wir werden es schon bewältigen! Ich kenne mich aus!"
Ich nicke.
"Mein ganzer Besitz, bin ich los! Ich habe nichts mehr!"
"Doch Signora, Ihr Leben! Und das hat mehr Wert als alles anderes!"
"Du hast Recht Thuan! Ich bin arm, aber glücklich! Obwohl ich jetzt weinen sollte, lache ich!"
"Lachen Sie Signora, lachen Sie!"
"Angela, keine Signora, einfach nur Angela!"
Ich schaue tief in seinen schwarzen Augen, bis mir warm ums Herz wird.
"Sag mir, Thuan, warum hast du mich gerettet? Das habe ich gar nicht verdient!"
"Sig..., Angela, vielleicht hört sich blöd an, aber ich kenne Ihre ..."
"Nicht - ."
"Ich kenne deine Seele, deine Alpträume sind mir bekannt! Und außerdem", er nimmt meine Hand und hält sie fest in seiner, "liebe ich dich!"
Ich bin bestürzt.
"Woher ... wie kannst du das wissen? Was bedeutet das?"
"Pst! Ich werde dir erzählen, aber nicht jetzt. Ich besorge uns eine Fahrgelegenheit."
Thuan ist weg. Wir bleiben auf einem kleinen Hügel. Um uns herum nur Wracke und Kadaver. Alles ist zerstört.

VII
Der Tag neigt zu Ende. Die weinenden Menschen haben für kurze Zeit aufgehört mit dem Schicksal zu hadern. Der Sensenmann ist heute da gewesen, aber weg ist er immer noch nicht, denn heute Abend werden noch viele Seelen geerntet. Die Nacht ist gekommen!
Und am Himmel brennen die Sterne.
Die Gedanken sind wie Gestirne,
Sterne die brennen und am Ende sterben.
Die Schmerzen sind wie die Flammen,
Die fressen dich auf - bis in dem Tod hinein.
Stumm ist der Schmerz und taub der Gedanke, Der Schlaf kam herunter und die Seele erstarrte.
Die Nacht alleine herrscht mit einer tiefen Stille, Und ihr Schatten fließt herab über Leichen und Ruinen.
Noch Tage, noch Wochen vielleicht auch noch Monate, bestimmt auch noch Jahre wird man nach den Liebsten suchen.
Es wird qualvoll morgen, der Morgen danach! Denn die Realität wird all die Erwartungen zerschmettern.
Dennoch wird man die Hoffnung nicht aufgeben und nach vorne blicken, morgen, der Morgen danach!



Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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