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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gruß aus der Vergangenheit

© Manfred Helmut Schnellbacher


Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterschied sich in nichts von den vielen tausend anderen Paketen, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis - eine ganz besondere. Bereits dreimal hatte Edmund, der Dorfbriefträger geläutet, als er im Nebengebäude klappernde Geräusche vernahm. "Elvira, bist du da drinnen?", rief er und klopfte an die alte, grüngrau lackierte Holztüre. "Aber Hallo! Heute mal was Besonderes?", empfing ihn Elvira wie immer freundlich und reichte Edmund die Hand. " Wie wär's mit einem Schnäpschen?" "Nein, danke. Ich hab's heute eilig. Aber schau' mal auf den Poststempel; das Paket ist schon fast zwanzig Jahre unterwegs. Eine Empfangsquittung brauche ich auch noch." Edmund kramte den Quittungsblock hervor, doch Elvira achtete nicht auf den angebotenen Kugelschreiber. Sie wurde neugierig. "Du, Edmund, es ist ja an Opa adressiert. Der ist im Juni schon fünfzehn Jahre tot!" "Und es ist aus Russland", bemerkte Edmund, "eine Unterschrift bitte und dann tschüs. Lasst euch einfach überraschen!" Nachdenklich blickte Elvira dem gelben Auto hinterher. Die Adresse war ohne Postleitzahl. Einfach: Herrn Adam Strein, Wildensee im Spessart, Deutschland. Plötzlich erschrak Elvira. --- Eine Briefbombe ?! Es wurde ihr warm und kalt zugleich. Schnell verbannte sie ihr Problem auf die vom Haus reichlich weit entfernte Gartenbank.
Vorsichtig löste Andreas am Abend die Schnüre. Das kleine Messer zitterte leicht in seinen Fingern, als er behutsam das Packpapier aufschlitzte. Ein dunkelgrauer Karton kam zum Vorschein, zusammengehalten mit drei roten Gummibändern. Erleichtert atmete er tief durch und brachte das gute Stück zum Haus zurück. "Elfi, so sieht bestimmt keine Bombe aus", beruhigte er seine Frau, die dennoch in sicherer Entfernung abwartete, bis Andreas den geheimnisvollen Inhalt auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Ein gerahmtes Bild in schwarz-weiß, das einen großen Mann mit mächtigem weißem Vollbart, eine wohlbeleibte Frau mit schwarzem Kopftuch, sowie zwei hoch gewachsene schlanke junge Frauen zeigte. Auf der Rückseite war mit Bleistift ein Datum notiert: 18. 5. 1986. Eine, mit eingestanzten Ziffern versehene, ovale Metallplatte, die an einem Kettchen hing, identifizierte Andreas sofort als Soldaten-Erkennungsmarke. Eine unetikettierte Literflasche mit klarer Flüssigkeit hatte die Reise unversehrt überstanden. Sogar der Korken saß noch fest. Das in Öltuch eingewickeltes Stück Schinken gab Zeugnis von der Verderblichkeit des Fleisches und der grob geschnittene Tabak zerbröselte zu Staub, als ihn Andreas in der mit unbekannten Schriftzeichen bedruckten Metallschachtel berührte. Ganz unten lag das Wichtigste. Ein Begleitbrief, jedoch in Russisch, und ein abgegriffenes, schlichtes Tagebuch. Andreas stockte der Atem. Das Tagebuch gehörte einem Phillipp Strein, geboren am 8. März 1924 in Wildensee. Also seinem Vater! Dem Hauptgefreiten Strein, der zu Weihnachten 1943 den letzten Heimaturlaub genoss und am 28. Dezember 1943 zurück zur Kompanie musste. Niemand hatte mehr von ihm gehört. Andreas wurde am 20. September 1944 geboren. Seine Mutter, die damals 18-jährige Theresa Klein, Verlobte seines Vaters, starb bei der Geburt. So wuchs Andreas beim Großvater auf, der ihn auch adoptierte, um den Namen Strein in Wildensee zu erhalten.
Nachdenklich und mit bleichem Gesicht saß Andreas im Wohnzimmersessel und las aus dem Tagebuch seines Vaters. Elvira, sein Sohn Roland und Schwiegertochter Kerstin waren eifrige Zuhörer. Der Text, in deutscher Schrift abgefasst, bereitete Andreas Mühe. Die ersten, mit Tinte geschriebenen Seiten waren oft unleserlich verblasst oder verwaschen; Bleistifteinträge jedoch vollständig erhalten. ..... "Genau zehnmal wurde es nach kurzen Sommern wieder Winter. Diese unmenschliche Kälte. Außer mir gibt es hier im Lager keinen Deutschen mehr. Täglich sind wir 14 Stunden im Schacht und fördern Kohle. Meiner Zeitrechnung nach könnte es 1956 oder 1957 sein." ..... ..... "Wir schreiben das Jahr 1963. Die Haftbedingungen wurden verbessert, da Reprowitch, unser Lagerleiter, verstarb." ..... ..... " Tagarskoje, 01. Februar 1964. Maria, die Tochter Reprowitchs, und ich haben heute geheiratet. Ich arbeite nun als freier Mann im Stollen; darf Sibirien jedoch nie verlassen." ..... ..... " 5. Juni 1986. Lieber Vater, nachdem es endlich möglich wird, sende ich Dir dieses Paket. Vielleicht sehen wir uns bald wieder! Dein Sohn Phillipp." ..... Nicholas Merz, ein russischer Spätaussiedler aus dem Nachbarort, übersetzte am nächsten Tag den netten Brief, den Natascha und Theresa Strein, für ihren Großvater geschrieben hatten. Andreas war zutiefst bewegt, als er die Botschaft seiner neuen Schwestern vernahm.
Nur sechs Wochen später checkten Elvira und Andreas im Flughafen Frankfurt ein. Die Russische Botschaft hatte es ermöglicht. Über Moskau sollte es nach Nowosibirsk und dann auf dem Landweg nach Tagarskoje gehen. Überglücklich flüsterte Andreas seiner Elvira ins Ohr: "Vater werden ist toll; aber Sohn werden ist noch toller!"



Eingereicht am 14. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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