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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Ursache

© Myriam Keil


In der Stadt, die nur aus grauen Türmen bestand, war alles wie immer. Fremde trafen sich und gingen wieder auseinander; es zu beobachten war, als habe man einen der billigen Plätze im Kino, direkt vorne vor der großen Leinwand, wo die Gesichter der Darsteller riesig und die Zusammenhänge verschwindend klein sind. Genauso war der Blick auf die Fremden, die sich hier Sekunde um Sekunde begegneten - verzerrt und schmerzend für die Augen. Man konnte jede einzelne Pore der Stadt sehen.
In der Stadt lebte ein Mann, nicht mehr ganz jung, aber auch nicht sehr alt, der sich manchmal fragte, wieso man für die billigen Plätze vor der Leinwand auch noch bezahlen musste. Er kannte ein paar Leute, die keine Fremden für ihn waren. Das heißt, objektiv gesehen waren sie es nicht, keine Fremden, die sich mit ihm auf der Leinwand trafen und ihn dann wieder verließen, aber dennoch kam es ihm manchmal vor, als seien sie gerade eben dies. Die Fremdesten unter den Fremden.
Der Mann hatte einen guten Freund. Sein Name war Sascha. Die beiden vertrauten einander, wenngleich sie oft nicht wussten, warum das so war. Vielleicht, weil es so zu sein hatte. Vielleicht aber auch, weil es sich gut anfühlte und, obwohl nicht sehr logisch, irgendwie richtig zu sein schien. "Wir geben nichts auf das, was die anderen tun oder was sie von uns erwarten." Tagtäglich wiederholten Sascha und der Mann diesen Satz. Es war ihr Wahlspruch. Nur nicht wie die anderen sein.
Sascha erzählte manchmal Geschichten. Sie waren schön und man konnte gut zu ihnen träumen. Aber von Zeit zu Zeit machten die Geschichten den Mann wütend, weil er sich dann sagte, dass niemand das Recht hatte, solche Märchen zu erfinden, wenn die Wirklichkeit so enttäuschend anders war. "Es war einmal ein Mann, der unter Wasser lebte, in der Mitte eines zugefrorenen Sees", begann eine von Saschas Geschichten. "Er liebte es, sich die Delphine vorzustellen, die es dort niemals gegeben hatte, und er sehnte sich danach, dass das Eis eines Tages schmelzen würde. Er lebte nur auf eine einzige Weise: allein. Das könnte die Ursache gewesen sein..."
Der Mann wusste, dass er sich auf seinen Freund verlassen konnte, genauso wie sich dieser auf ihn verließ. Irgendetwas gab es, das manche der Fremden enger aneinander band als andere. Der Mann hätte gerne gewusst, was es war, das diese Bande knüpfte. Es konnte nicht nur ein Wahlspruch sein. Möglicherweise war es eine gemeinsame Lebensphilosophie. Aber durfte das genügen, um sein Leben in die Hände des anderen zu legen?
Mindestens einmal pro Woche gingen die beiden in eine Bar, und obwohl sie im Laufe der Zeit in vielen verschiedenen Bars gewesen waren, kehrten sie doch immer wieder zu der einen zurück, in der die Leute ein wenig anders waren als in gewöhnlichen Kneipen. Dort saßen Sascha und der Mann am Tresen und hörten neben sich die Menschen über die wichtigen Dinge im Leben sprechen. Die wichtigen Dinge waren Aktien und Investmentfonds, die neuesten Entwicklungen in der Medikamentenforschung und der Datenverarbeitung. Vor allem aber war es Politik. Diese Leute dachten, sie wüssten alles über Politik und wie man sie "richtig" zu machen habe. Hauptsächlich redeten sie im Zusammenhang mit diesem Thema davon, dass man nicht zuviel darüber sprechen sollte. Sie sagten, über Politik solle man nicht reden, man müsse sie leben. Und so lebten sie die Politik, jeder auf seine Weise und keiner wie der andere. Es war ein bisschen traurig, mit ansehen zu müssen, dass jeder Politik machte, jeder sie richtig machte, aber die meisten nicht einmal wussten, was ihr Nachbar über Politik dachte. Und wenn sie es doch wussten, dann wichen sie eilfertig von ihrem Grundsatz ab, nicht über Politik zu reden, und taten ihr Möglichstes, um den armen Irrgläubigen von der einzig richtigen Politik zu überzeugen. Überraschenderweise setzten sie auch dann all ihre Überzeugungskraft ein, wenn ihr Gegenüber derselben Meinung war wie sie selbst. Sie bemerkten es nämlich nicht. Sie redeten und redeten - und dann lebten sie die Politik weiter auf ihre eigene kleine, überschaubare Art und Weise.
Eines Tages, als der Mann und sein Freund wieder einmal in ihrer Stammkneipe saßen, wurden sie Zeugen einer sonderbaren Debatte, die am Nebentisch ausgetragen wurde. Man redete dort, ganz entgegen dem ungeschriebenen Gesetz, über Politik. Es ging um einen "Vereinheitlichungsplan", der die Welt ein gutes Stück vorwärts bringen sollte. Als das Gespräch am Nebentisch endete, hatten Sascha und der Mann nur eine sehr vage Vorstellung davon, was unter dem "Vereinheitlichungsplan" zu verstehen war. Was sie begriffen hatten, war das Folgende: Wenn man davon ausging, dass es unterschiedliche Meinungen sowie Differenzen waren, die Menschen gegeneinander kämpfen ließen, dann würde es keine Kämpfe mehr geben, wenn die unterschiedlichen Standpunkte wegfielen. Es war überhaupt nicht schwer, Meinungen zu vereinheitlichen, darüber war sich die Gruppe am Nebentisch einig. Diejenigen, welche nicht die richtige Meinung hatten, unterlagen einem falschen Weltbild, und wenn es gelänge, dieses zu korrigieren, dann wäre das Ziel der Vereinheitlichung erreicht. Alles Weitere ergäbe sich von alleine.
Als die Gruppe sich zum Aufbruch rüstete, beschlossen Sascha und der Mann, den Leuten zu folgen. Dabei ergaben sich keine größeren Probleme, denn nach einem zehnminütigen Fußmarsch verschwanden sie in einem leerstehenden Fabrikgebäude, dessen ruinenhafte Fassade bei dem Mann ein Gefühl der Trauer hervorrief. Sascha zog ihn energisch unter eine der eingeschlagenen Fensterscheiben, hinter der sich die Gruppe nun aufzuhalten schien. Ein schwacher Lichtschein drang von dort nach draußen, und man konnte leise Stimmen vernehmen. Den Mann durchströmte eine Welle der Zuversicht. Vielleicht würden diese Leute einen wundervollen Traum wahr werden lassen.
Während er sich derartigen gedanklichen Spinnereien hingab, dachte er darüber nach, ob es vielleicht an der Zeit sein könnte, in seinem eigenen Leben etwas zu ändern. Er könnte sich der Gruppe anschließen. Gemeinsam mit ihnen für eine Welt ohne Kriege kämpfen. Kämpfen für den Frieden. Wie paradox sich das anhörte. Und doch könnte es so effektiv sein. Und richtig. Möglicherweise wäre auch Sascha bereit, seine Träumergeschichten aufzugeben und, statt immer nur zu reden, endlich einmal zu handeln.
"Sascha!"
Er stieß den gedankenlos ins Leere Starrenden in die Seite. Der ließ vom Sinnieren ab und blickte ihn fragend an.
"Wenn sie wieder rauskommen, könnten wir doch fragen, ob wir mitmachen dürfen!" "Hm", entgegnete Sascha. "Meinst du, die haben ausgerechnet auf uns gewartet?" "Fragen kostet nichts." Der Mann wollte sich seine Idee nicht so schnell ausreden lassen. "Außerdem können sie bei so einem Projekt, wie auch immer es umgesetzt werden soll, sicher jeden einzelnen Helfer gebrauchen." Dagegen konnte Sascha nichts mehr sagen. Seine Mundwinkel zogen sich ein klein wenig nach oben, und der Mann wusste, dass er ihn überzeugt hatte.
"Wir werden dich von deinem Irrglauben befreien", hallten mit einemmal einige Worte in die stille Nachtluft hinaus. Sie klangen blechern und waren ohne jegliche menschliche Regung, so wie Worte nur klingen können, wenn der sie Äußernde zwar hundertprozentig von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt ist, dieses Stadium jedoch erst nach sehr langem Training erreicht hat. Dann hörte der Mann ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, aber er wusste, dass es das Grauenvollste war, was er je vernommen hatte. Um es nicht vielleicht doch begreifen zu müssen, konzentrierte er sich völlig auf den kalten Klang der Worte, die er gehört hatte. Jemand schrie. Einmal. Zweimal. Dreimal. Der Mann hörte auf zu zählen. Irgendwann wurden die Schreie schwächer. Schließlich verstummten sie ganz. Erst jetzt spürte der Mann die Kälte, die ihn bis ins Innerste durchdrungen hatte. Er sah zu Sascha hinüber, der nur zwei Schritte von ihm entfernt stand, und berührte ihn an der linken Schulter. Eine ganze Welt trennte sie voneinander. Sascha starrte zu der zerbrochenen Fensterscheibe empor, über sein Gesicht rannen Tränen. Es war fast eine Stunde vergangen, seit sie ihren Posten unter dem Fenster bezogen hatten.
Alles war Politik. Vereinheitlichung war Politik, Religion war Politik, Frieden war Politik. Menschen waren Politik und keine Menschen mehr. Die richtige Politik war nicht leicht zu verstehen, aber wenn sie derart überzeugend gelebt wurde, dann musste man sie begreifen, ob man wollte oder nicht. Ich bin Politik, dachte der Mann und biss sich auf die Lippen, bis sie bluteten. Er hörte die Stimmen der Leute dumpf aus dem hohlen Gebäude herausschallen. Es klang unheimlich, so als kämen die Laute aus dem tiefsten Innern der Erde. Schwer vorstellbar, dass diese Geräusche von Menschen stammen sollten.
Mit einem Blick in Saschas von Ekel erfülltes Gesicht konnte er sehen, dass sein Freund die gleichen Gedanken hatte wie er. Sie machten beide ein paar Schritte weg von dem Fenster, weg von dem Tor zur Politik. Langsame Schritte waren es, die in eine falsche Richtung zu führen schienen. Dann rannten sie. Sie rannten sehr lange und ohne eine Pause zu machen. Irgendwo zwischen grauen Türmen blieben sie schließlich stehen.
"Die Polizei", keuchte Sascha, "warum haben wir nicht die Polizei gerufen?"
"Ich weiß es nicht", antwortete der Mann, und er wusste es tatsächlich nicht.
Erst als Sascha ihn an der Schulter rüttelte, wurde ihm bewusst, wo er war. Sie standen vor ihrer Stammkneipe.
"Lass uns ein letztes Mal reingehen", schlug Sascha vor.
"Wozu?", fragte der Mann.
"Für uns."
Es war bereits sehr spät. Am Tresen saßen nur noch zwei Leute. Jeder für sich. Allein. Einen Meter siebzig Abstand voneinander haltend. Sascha und der Mann nahmen zwischen den beiden Platz, um die klaffende Lücke zu füllen. Was sie wohl denken mögen, fragte sich der Mann. Vielleicht hatten sie ja Recht, sich so weit auseinander zu setzen. Vermeidung konnte unter Umständen die beste Politik sein.
"Das bringt nichts, rein gar nichts!" zischte er wenig später zu Sascha hinüber.
"Doch, das tut es", antwortete dieser.
"Ach ja, und was?"
"Abschied nehmen."
Der Mann lachte spöttisch auf. "Abschied nehmen? Wer braucht das schon!"
Eine Stunde später kamen die Gespräche über Aktien und Datenverarbeitung langsam in Gang. Die Bar hatte sich überraschenderweise noch einmal gefüllt. Lücken gab es keine mehr. Äußerlich zumindest. Sascha und der Mann jedoch hatten in der vergangenen Stunde kein einziges Wort miteinander gewechselt.
"Wir sollten gehen", sagte der Mann schließlich, um das Schweigen zu beenden.
Sascha nickte nur.
Draußen setzte sich die bedrückende Stille fort. Wir haben uns nichts mehr zu sagen, dachte der Mann resigniert, wir sind uns so fremd geworden, wie es sonst immer nur die anderen waren. Was wir hatten, haben wir verloren. Was uns verbunden hat, ist fort. Wir sind allein.
"Es ist spät."
Er wagte es nicht, Sascha bei diesen Worten in die Augen zu sehen. Doch obwohl er den Blick in seine Richtung vermied, wusste er, dass Sascha zustimmend nickte. Dass es in Ordnung war. Dass er nichts mehr sagen musste. Die Absolution für das, was folgen würde, war erteilt.
Es war einmal ein Mann, der unter Wasser lebte, in der Mitte eines zugefrorenen Sees. Er liebte es, sich die Delphine vorzustellen, die es dort niemals gegeben hatte, und er sehnte sich danach, dass das Eis eines Tages schmelzen würde. Er lebte nur auf eine einzige Weise: allein. Das könnte die Ursache gewesen sein.
Es gibt eine Menge Dinge, für die man definitiv leben sollte, schoss es dem Mann durch den Kopf, als er sich an diesem Abend von Sascha verabschiedete, die Stadt verließ und nie wieder zurückkehrte. Ja, es gibt diese Dinge, für die man leben sollte. Man tut es jedoch nur in den seltensten Augenblicken. Man erinnert sich ihrer erst dann, wenn der Tod sich nähert - der eigene, der eines Freundes oder der eines Fremden, das spielt so gut wie keine Rolle. Und dann macht es einen verrückt, dass man sich nicht früher für diese Dinge interessiert hat. Aus irgendeinem Grund scheint es unendlich schwer zu sein, für sie zu leben. Für die in eine konstante Abfolge von Tagen eingebetteten und nur durch hauchdünne Wände aus Zuckerwatte voneinander getrennten Zwischenfälle und Begegnungen auf der Leinwand, die weggesperrt in der verborgenen Box eines Lebens ruhen, oder für den lange vergessenen russischen Roman, den man die ganze Zeit über mit sich herumträgt, im Herzen, im Verstand, der Seele. Wo es kein Leben gibt, da möchte man leben. Wo kein Wasser ist, da wünscht man sich, den Ozean zu sehen.



Eingereicht am 13. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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