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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Angst ins Gesicht

© Anja Labussek


"Ein bisschen verrückt war deine Tante Hanna ja schon immer", sagte Peter kopfschüttelnd. "Aber dass sie dir ausgerechnet diese hässliche Holzkiste hinterlassen musste ... Warum hat sie dir nicht ihr Haus in Spanien vererbt?"
"Typisch, dass du sofort daran denkst!" Wütend sah ich ihn an. "Ich weiß nicht, was aus dem Haus wird, es geht mich auch nichts an. Die Schatulle finde ich jedenfalls schön - sie hat so etwas Geheimnisvolles."
Tante Hannas Nachlassverwalter hatte sie mir geschickt, und nun stand sie auf unserem Wohnzimmertisch: schuhkartongroß, aus dunklem Holz und mit einem kleinen Vorhängeschloss. Der Anblick machte mir schmerzlich bewusst, dass ich meine Großtante nie wieder sehen würde. Als Kind hatte ich sie fast jedes Wochenende besucht. Dann aber war sie nach Andalusien ausgewandert, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. So blieben uns in den letzten Jahren nur Briefe und Telefonate; meiner geplanten Reise an die Costa de la Luz war Tante Hannas Tod zuvorgekommen.
"Willst du nicht wissen, was sie dir geschrieben hat?" Peter tippte auf den Briefumschlag, der neben der Schatulle lag.
Einen Moment lang zögerte ich, dann riss ich den Umschlag auf und zog einen Bogen Papier heraus. Ein Schlüssel fiel mir in den Schoß. Ich musste schlucken, als ich die vertraute Handschrift meiner Tante sah - rund, schwungvoll und mit einzelnen Sütterlin-Buchstaben durchsetzt. Peter schaute mir über die Schulter, während ich las:
Mein liebes Annettchen,
bald ist es an der Zeit für mich zu gehen. Das Warten auf den Sensenmann ist inzwischen genauso banal geworden wie der nächtliche Gang zur Toilette. Ich habe veranlasst, dass du nach meinem Tod diese Schatulle erhältst. Sie ist etwas ganz Besonderes, so wie du. Ein Freund hat sie mir vor Jahren aus Marokko mitgebracht. "In ihr befindet sich das, wovor du dich am meisten fürchtest", sagte er, "halte sie immer fest verschlossen, dann wird dir im Leben nichts Böses passieren." Ich habe sie nie geöffnet. Nettchen, ich weiß nicht, ob du so mutig bist, dem Gegenstand deiner Angst ins Auge zu blicken und dadurch deine Furcht zu besiegen. Ich weiß nicht einmal, ob es eine Frage des Mutes ist, die Schatulle anzutasten - oder eine große Dummheit. Aber ich bin sicher, du wirst das Richtige tun.
Deine dich liebende Tante Hanna
Tränen traten mir in die Augen, und für Sekunden fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich sah die rundliche Tante Hanna in ihren wallenden Kleidern vor mir, roch die Wildblumen aus ihrem Garten, in dem ich so viele Sommernachmittage verbracht hatte, schmeckte wieder ihre selbst gemachte Himbeerlimonade.
Peters Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "So einen Quatsch habe ich schon lange nicht mehr gehört! Was ist, Annette - du glaubst doch nicht an dieses Märchen?"
"Und wenn es wahr ist?", fragte ich tonlos.
"Überleg mal, wovor hat man denn am meisten Angst? Vor dem Tod, einer schweren Krankheit, einem Krieg. Und das soll in einer kleinen Schatulle stecken? Lächerlich!"
"Du machst es dir verdammt leicht", sagte ich ungehalten.
Die Angst, die mich zuweilen überkam, ließ sich nicht so einfach benennen. Sie war wie ein dicht gewebter, dunkler Schleier, der sich auf mich nieder senkte und mir das Atmen erschwerte. Aber darüber konnte ich nicht mit Peter reden. Er verstand gar nicht, worum es ging.
"Du lieber Himmel, da hat dir deine Tante einen schönen Floh ins Ohr gesetzt. Am besten verfeuern wir das scheußliche Ding im Kamin."
"Hör auf damit!", fuhr ich ihn an. "Merkst du gar nicht, wie weh du mir tust?"
"Nichts für ungut." Abwehrend hob er die Hände. "Ich lasse dich erst mal mit deinem Erbstück allein. Schrei, wenn du Hilfe brauchst." Er wandte sich um und verließ das Zimmer.
Stumm saß ich da und versuchte, an gar nichts zu denken. Wenige Minuten mochten so vergangen sein oder aber mehrere Stunden. Immer wieder strichen meine Hände über das polierte Holz der Kiste. Ich hob sie hoch und schüttelte sie behutsam, konnte aber keinerlei Rückschlüsse auf ihren Inhalt ziehen.
"Tante Hanna, was wolltest du mir mitteilen?", flüsterte ich.
Ich fühlte mich meiner Tante so nah wie lange nicht mehr und spürte zugleich Wut aufsteigen, weil sie mich in dieses Dilemma gestürzt hatte. Wenn die Kiste mich vor allem Bösen beschützen sollte, wäre es dann nicht unfassbarer Leichtsinn, sie zu öffnen? Andererseits wusste ich, dass die Frage nach dem Inhalt an mir nagen, mir keine Ruhe mehr lassen würde. Was wäre schlimmer: meine unbezähmbare Neugier oder das Bewusstsein, ein elender Feigling zu sein?
Ich sah Tante Hannas Gesicht, ihre kleinen, von Lachfältchen gesäumten Augen, ihr hintergründiges Lächeln. Und wenn die Geschichte, die sich um die Kiste rankte, nur von ihr erfunden war, um mich in die Irre zu führen? Aber ich bin sicher, du wirst das Richtige tun, schossen mir die Worte aus dem Brief durch den Kopf.
Es war kein Paukenschlag, eher ein sanftes Drängen in meinem Inneren, das sich langsam den Weg an die Oberfläche des Bewusstseins bahnte und zum Entschluss reifte: Ich musste diese Kiste öffnen.
Das Blut pochte mir in den Schläfen, während ich den Schlüssel ins Schloss steckte und herumdrehte. Ganz leicht ließ sich der Deckel hochklappen. Hatte ich ein Erdbeben erwartet? Einen hellen Blitz, ein Donnergrollen? Nichts dergleichen geschah, alles blieb still. Für einen Moment verharrte ich, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich holte tief Luft, dann beugte ich mich vor und blickte hinein.
Jäh zuckte ich zurück. Ein Paar angstgeweiteter Augen glotzte mich an, und ein verzerrter Mund griente mir entgegen. Erst nach einer Schrecksekunde begriff ich, dass sich ein Spiegel auf dem Boden der Schatulle befand und diese Fratze mein eigenes Gesicht war. Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Spiegel. Darunter bemerkte ich einen weiteren Schlüssel und noch ein Blatt Papier.
Nettchen,
bitte verzeih mir, dass ich dich angeflunkert habe, aber ich wollte deine Entscheidung nicht zu stark in eine bestimmte Richtung lenken. Natürlich habe auch ich die Kiste geöffnet. Glaubst du ernsthaft, dein neugieriges altes Tantchen hätte dem widerstehen können? Und ich habe genau das erblickt, was du gerade gesehen hast: ein grotesk deformiertes Spiegelbild meiner eigenen Angst.
Unsere Angst ist das, was wir am meisten fürchten. Und dein Mut, dich ihr zu stellen, soll belohnt werden. Bitte wende dich mit diesem Brief und dem Hausschlüssel an meinen Nachlassverwalter, er wird alles Weitere regeln. Ich hoffe, du wirst Andalusien genauso lieben, wie ich es immer getan habe.
Pass gut auf dich auf!
Deine Tante Hanna
Ich starrte auf den Brief und war zunächst wie gelähmt. Dann begann ich aus vollem Halse zu lachen, lachte, bis ich keine Luft mehr bekam. Als ich Schritte hörte, ließ ich Schlüssel und Zettel schnell in meine Hosentasche gleiten.
"Na also, du lebst ja noch", sagte Peter spöttisch, "und offenbar amüsierst du dich prächtig. Was war denn drin in der Hokuspokus-Kiste? Etwa nur dieser Spiegel und sonst nichts?"
"Nur dieser Spiegel", echote ich. "Verrückt, oder?"
Unbemerkt steckte ich die Hand in die Hosentasche, um nach dem Schlüssel zu tasten. Während meine Finger ihn umschlossen, spürte ich die heiße spanische Sonne auf meiner Haut und lächelte in mich hinein.



Eingereicht am 10. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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