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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Schutzengel

© Sylvia Hubele


Es kam mit der Morgenpost: ein ganz normal aussehendes Paket in braunem Packpapier und verschnürt mit derber Doppelschnur. Es unterschied sich in nichts von den Tausenden anderer Pakete, wie sie die Postboten tagtäglich austragen. Mit diesem aber hatte es eine besondere Bewandtnis, doch das konnte der dicke Postbote nicht ahnen, als er stöhnend und schnaufend die Treppen hochächzte. Oben angekommen, stellte er das Paket ab, holte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch und wischte sich erst einmal über das hochrote, schweißglänzende Gesicht. Das Paket war nicht sonderlich schwer, trotzdem schwitzte er, denn der Tag war warm und hatte erst begonnen.
Der Bote klingelte, hörte die Schelle rappeln, aber sonst blieb alles still. Er klingelte noch einmal. Niemand öffnete.
Langsam und umständlich kramte er aus seiner Tasche den Block mit den Benachrichtigungen. Er füllte das Formular aus, klebte es an die Wohnungstür und nahm das Paket wieder an sich.
Angelo hatte bei eBay einen wunderschönen, tönernen Schutzengel gefunden und ersteigert. Er beeilte sich jeden Tag, so schnell wie möglich von der Arbeit heimzukehren, um das erwartete Paket vor Marlene in Empfang zu nehmen.
Marlene sammelte Schutzengel. Die ganze Wohnung stand voll mit ihnen. Sie glaubte an ihren Schutz und Beistand, auch wenn Angelo sie oft damit aufzog: "Wozu brauchst du diese ganzen Engel? Du hast doch mich!"
Doch eigentlich war Angelo eher belustigt und gerührt von Marlenes Sammeltick. Ab und an überraschte er sie sogar mit einem außergewöhnlichen Exemplar, welches er aufgestöbert hatte.
Langsam wurde Angelo jedoch ungeduldig. Morgen war Marlenes Geburtstag! Ungeduldig eilte er mit großen Schritten, zwei Stufen auf einmal, die Treppen hinauf. Da hing ein Zettel an der Tür. Er riss ihn ab und beseitigte umsichtig sämtliche Spuren auf der Tür.
Angelo war überglücklich. Er ging beschwingt durch die Straßen und summte ein Lied. Die Leute sahen ihm lächelnd nach, so viel Fröhlichkeit steckte regelrecht an. Er kam an einem Blumenladen vorbei, sah im Vorübergehen liebevoll gebundene Sträuße, tiefrote Rosen, himmelblauer Rittersporn, zartes Schleierkraut, leuchtend gelbe Sonnenblumen, lachsfarbene Anthurien mit dem gelben aufgerichteten Stempel in der Mitte, ein Meer an Farben, verschwenderisch verströmten die Blumen ihren Duft.
Angelo kehrte um, blieb vor dem Blumenladen stehen und bewunderte die Vielfalt. Er sah sich die Blumen an, die Sträuße, wenn er einen gefunden hatte, fand er etwas versteckt noch einen schöneren …
Angelo fiel plötzlich das Paket wieder ein. Er sah auf seine Armbanduhr: jetzt aber superschnell! In ein paar Minuten schließt die Post! Er rast los, ist kaum am nächsten Haus vorbei, plötzlich hört er hinter sich ein lautes Krachen. Er flitzte noch das letzte Stück und tauschte den Benachrichtigungsschein gegen sein Paket.
Da war es. Er strich zart darüber. Marlene würde Augen machen! Jetzt konnte er noch einen Blumenstrauß mitnehmen.
Aber der Blumenladen war verschwunden. Die Schaufensterscheibe war in Tausende von Splittern zersprungen, die sich auf dem Bürgersteig und der Fahrbahn verteilten. Die Blumen lagen zerfetzt und zerstreut auf dem Gehweg. Blütenköpfe waren abgerissen, Blätter verteilten sich überall, Scherben der Vasen und Töpfe lagen dazwischen und vervollständigten das Chaos. Sie Sonnenstrahlen brachen sich in Glasstücken und Wassertropfen und ließen diese in alles Regenbogenfarben schillern.
Ein Auto stand halb im Blumenladen, die Frontscheibe kaputt, der Motorraum eingedrückt. Der Fahrer des Autos war auf seinem Sitz zusammengesunken, lediglich gehalten durch Gurt und Airbag. Feuerwehr und Rettungswagen waren schon heulend in der Ferne zu hören. Passanten bevölkerten das Chaos. In der Mitte der Fahrbahn hielt eine Straßenbahn. Auch diese war vorne eingedellt, die vorderen Räder durch die Wucht des Aufpralls aus dem Gleis gesprungen.
Eine Frau weinte vor dem Scherbenhaufen. Sie war hinten im Hof gewesen, stellte neue Sträuße zusammen, als das Unglück passierte.
Angelo besah sich den Blumenladen. Glücklich war er über sein Paket, mit dem Schutzengel. Nein, über Marlenes Tick würde er sich jetzt nicht mehr lustig machen, hatte ihm dieser doch geradezu das Leben gerettet. Eine tiefdunkelrote Rose lag direkt vor seinen Füßen auf dem Bürgersteig. Er bückte sich und hob sie auf. Auf einem Blütenblatt glänzte ein Wassertropfen. Er nahm die Rose mit. Sie konnte in einer hohen schlanken Vase zwei Menschen an ihre Liebe erinnern.
Nachdenklich ging Angelo nach Hause.
Als Marlene ihm die Tür öffnete, nahm er sie in den Arm und küsste sie wortlos. Dann überreichte er ihr die Rose: "Zu deinem Geburtstag morgen und meinem Geburtstag heute."



Eingereicht am 09. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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