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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Herrgottswinkel

© Jana A. Czipin


Der in die Haut stechende Sommertag sah seltsam weit weg aus und berührte die Seele nicht, wenn man ihn durch getönte Scheiben eines BMWs betrachtete. Emily Wellson, die berühmte Emily Wellson, wusste, wie heiß dieser Tag da draußen war. Sie wusste, was es hieß, Durst zu haben, keine Zeit für eine Rast im Schatten und Schweiß wie klebriger Sirup auf der Haut. Emily Wellson kam aus Verhältnissen, die man klein nannte. Ihr Vater hatte sich halbtot gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Und dass sie jetzt die Beine bequem ausstreckte, auf weichen Polstern saß und dem Mann am Steuer sagen konnte, wohin er fahren sollte, hielt sie für eine verrückte Idee des Schicksals, für die sie immer dankbar gewesen war. Wenn Emily Wellson ihr Leben betrachtete, so befand sie schlicht, dass sie viel Glück gehabt hatte. Ja, natürlich auch Talent, aber doch sehr viel Glück. Glück, dass ihre Stimme jemandem aufgefallen war, als sie noch ein Kind war. Der sie zu den richtigen Lehrern wies. Die sich ihrer annahmen und ihr den Weg zur Musik öffneten. Menschen, die Geld gaben, um ihr eine Ausbildung zu ermöglichen. Und natürlich ihre Familie, die hinter ihren Entscheidungen gestanden hatte. Emily Wellson fand, dass sie ein glücklicher Mensch war und ein glückliches Leben hatte.
Warum saß sie dann in diesem Wagen?
Um diese Frage kreisten ihre Gedanken, seit sie diese Reise begonnen hatte. Eigentlich war sie auf der Flucht. Lief davon vor einem langen Interview mit einem renommierten Magazin aus England, vor Probeaufnahmen für neue Lieder, die in einem halben Jahr auf einer Tournee durch die USA vorgestellt werden sollten. Eines Morgens war sie aufgewacht und wollte nicht singen. Niemals zuvor hatte sie in ihrem Leben die Lust zu singen verloren. Es war auch nicht ganz das Singen, es war das Drumherum, das sie nicht mehr ertragen konnte. Die Scheinwerfer, die ständige Medienaufmerksamkeit, auch wenn diese zumeist wohlwollend war. Sie war des berühmten Gesichtes müde, der Augen der Menschen, die an ihr hingen und sie auslaugten. Sie hatte kurzerhand Bescheid gegeben, dass sie für ein paar Wochen eine Auszeit nahm und ihre Familie besuchen wolle. Man wunderte sich ein wenig, ließ sie aber gehen ohne viel zu fragen. Statt zur Familie zu fliegen, mietete sie sich in Rom einen Wagen mit Chauffeur und wies ihn an, die Küste entlang zu fahren. Sie schlief in kleinen Hotels und hatte einen Fahrer, der nicht zu den geschwätzigen Typen zählte. Er fuhr sie, ohne ihre Anweisungen mit einem Blick oder einem Satz zu kommentieren. Das Auto war keine Limousine, aber mit jeder Bequemlichkeit ausgestattet. Der Fahrer hatte Anweisung, gute Restaurants und Hotels zu suchen und Emily war froh, nun schon beinahe den dritten Tag mit einsilbiger Konversation hinter sich gebracht zu haben. Genug Zeit zu überlegen, was sie in Zukunft mit ihrem Leben anfangen sollte. Sie genoss das Alleinsein, das Vorwärtstreiben auf der Straße, ihre Abgeschiedenheit und dass niemand mehr von ihr wollte als: "Ist dieses Lokal angenehm? Möchten Sie sich dieses Hotel ansehen?"
Umso überraschter war sie, als der Fahrer das kleine Fenster in der Trennscheibe öffnete und im Rückspiegel ihre Augen suchte.
"Verzeihung, Signora, aber ich glaube, wir bekommen ein Problem mit dem Wagen. Ich möchte im nächsten Dorf an einer Tankstelle oder Garage anhalten."
"Was ist denn?"
"Kann ich nicht sagen, aber der Motor macht ein seltsames Geräusch und ich sehe mir das lieber an, bevor wir irgendwo auf der Landstraße liegen bleiben."
Die Vorstellung, vielleicht endlos lange in der Hitze auf Hilfe warten zu müssen, war Emily Notwendigkeit genug, um zu nicken.
"Wir können ja auch Wasser und vielleicht ein Eis kaufen", meinte der Fahrer mit einem entschuldigendem Ton in der Stimme, so als sei das Problem des Motor sein persönliches Versagen, das er wieder gut zu machen habe.
"In Ordnung", sagte Emily, brachte ein schwaches Lächeln zustande, um dann wieder ihre Gedanken aus der Gegenwart in die Vergangenheit oder möglichen Zukunft schweifen zu lassen.
Wenige Kilometer später folgte der Fahrer einem Schild, das von der Hauptstraße eine holprige Landstraße zum Meer wies und zu einem Dorf führte. Emily wurde mit einem Mal durchgerüttelt und geschüttelt. Sie musste sich festhalten, um nicht von der Sitzbank zu fallen. Glücklicherweise dauerte die Tortur nicht lange, schon nach zehn Minuten kamen sie in ein kleines Fischerdorf, das mit einem kleinen, steinigen Strand noch nicht vom Tourismus gefunden worden war. Von vielen Häusern blätterte der Verputz ab, die Straße war von der Nachmittagshitze leergefegt, nur im Wasser spielten einige Kinder. Es gab einen Laden und daneben die Tankstelle. Der Fahrer parkte den Wagen bei den Zapfsäulen, stieg aus und ging, jemanden zu suchen, der ihm mit dem Motor helfen konnte. Emily betrachtet gedankenlos die gelbe Farbe des heißen Tages, die über den Häusern und der Straße lag. Die Kinder hatten ihr Spiel am Wasser vergessen und kamen neugierig herbei gelaufen. Einen solchen Wagen sahen sie vermutlich nicht oft. Immerhin, dachte Emily, haben solche Dörfer heutzutage Strom und die Kinder gehen zur Schule. Ein, zwei wagemutige betatschten den Lack und versuchten in das Innere des Wagens zu sehen. Mit dem ihnen ganz eigenen Sinn, wussten sie, dass jemand drinnen saß, auch wenn sie durch die getönten Scheiben niemanden erkennen konnten. Emily bekam Angst, gesehen zu werden, angesehen zu werden und drückte sich tiefer in die Polster.
Der Fahrer kehrte mit einem älteren Mann zurück und verscheuchte die Kinder. Sie blieben in sicherer Distanz stehen, ohne jedoch ihre Neugier aufzugeben. Die Motorhaube wurde geöffnet und die Männer studierten Gewinde und Schläuche. Es wurde geklopft und gerüttelt und Emily fühlte allmählich ihre Geduld und ihr Wohlwollen schwinden. Sie war ärgerlich, sie wollte nicht von dummen Kleinigkeiten aufgehalten werden. Sie wurde unruhig und wusste nicht, was tun. Sie wollte nicht aussteigen.
Schließlich kam der Fahrer zu ihrer Tür und klopfte. Unangenehm berührt lies Emily die Fensterscheibe herunter und fühlte ihr Gesicht hart und kalt, als sie fragte: "Ja?" "Ich entschuldige mich, Signora, aber der Mechaniker meint, es müsse etwas ausgetauscht werden und dass es wohl ein bis zwei Stunden dauern könnte. Vielleicht möchten Sie sich einstweilen rüber in den Laden setzen und etwas Kühles trinken. Der Wagen muss nämlich auf die Rampe."
Emily wollte schon heftig den Kopf schütteln, doch war klar, dass sie nicht im Auto sitzen bleiben konnte. Widerwillig und ohne eine Antwort zu geben griff sie nach ihrer Handtasche und stieg aus. Die Hitze traf sie wie ein Schlag. Ihr erster Impuls war wieder ins Auto zu kriechen, aber sie hielt sich aufrecht, grüßte mit einem Nicken den Mechaniker und ging leicht wankend auf den Laden zu. Die Kinder kamen schnell näher, um sie in Augenschein nehmen zu können. Sie war weder besonders teuer noch auffällig gekleidet, aber vermutlich unterschied sie sich doch sehr von den Frauen des Dorfes. Der Weg zum Laden schien endlos zu dauern. Ihre Sinne waren von der heißen Luft und dem Schock völlig abgestumpft. Sie hoffte, nicht in Ohnmacht zu fallen und eine peinliche Szene heraufzubeschwören. Die Kinder folgten ihr wie ein Rudel Wölfe seinem Opfer. Eines überholte sie, immer noch in sicherer Entfernung, um ihr ins Gesicht starren zu können. Emily brachte in kleines Lächeln zustande, in der Hauptsache immer noch damit beschäftigt, ihren Körper im Gleichgewicht zu halten. Das Kind, ein Junge in blauen Hosen und einem ausgewaschenen, ehemals rotem T-Shirt, schrie plötzlich auf, einen erstaunten, verblüfften Ausdruck im Gesicht und lief aufgeregt schnatternd davon.
Oh, nein, dachte Emily, geht das schon wieder los? Gleich darauf lächelte sie über den Gedanken, das kleine Kind hätte sie erkannt und wüsste, wer sie war. Das war doch lächerlich.
Endlich hatte sie es in den Schatten des Ladenvordaches geschafft. Sie entspannte sich ein wenig. Sie trat ein, die Tür knarrte und dann bimmelte eine Glocke wie in einem alten Film. Emily fand sich in einem kleinen, staubigen Dorfladen wieder, in dem es alles Lebensnotwenige und ein paar Extras gab. Der Laden hatte eine Theke mit Barhockern und zwei kleine Tische, an denen am Abend wohl der Dorfklatsch besprochen wurde. Die Glocke hatte den Besitzer aus seiner Siesta geweckt. Er kam verschlafen und mit halboffenem Hemd aus einem hinteren Zimmer geschlurft, grüßte sie grantig und wartete, was sie zu sagen hatte. In gebrochenem Italienisch bat sie um ein kaltes Getränk, das ihr ohne ein weiteres Wort an einen der Tische serviert wurde. Emily nahm Platz und war froh, sich in der Nähe des Ventilators zu befinden. Der Ladenbesitzer zögerte einen Moment, ob er die Fremde bewachen musste, entschied sich dann aber für seine Siesta und verschwand mit ein paar vor sich hin gemurmelten Worten wieder nach hinten. Emily stieß einen kleinen Seufzer aus, als sie alleine mit dem flappenden Geräusch des Ventilators zurückblieb.
Nach fünf Minuten langweilte sie sich. Sinnloser Ärger stieg in ihr hoch. Die ganze Sinnlosigkeit ihrer kopflosen Flucht aus Rom, das Herumfahren ohne Ziel und Richtung, das hier in diesem winzigen Dorf zu einem vorläufigen Ende gekommen war. Plötzlich geriet Emily in Unruhe bei dem Gedanken, was wäre, wenn sie hier über Nacht bleiben müsste. Sogleich redete sie sich gut zu, versuchte positiv zu denken. Es würde sicher nicht dazu kommen, nicht so schlimm werden. Es würde alles gut sein, sogar leicht und einfach gehen.
Sie war es nur einfach nicht gewohnt, herumzusitzen und nichts zu tun zu haben. Hätte sie doch wenigstens ein Buch mitgenommen. Doch daran hatte sie nicht gedacht. Sie hatte sich einfach ein Auto mit Chauffeur gemietet, ein paar Kleider in einen Koffer geworfen und war los gefahren. Und nun saß sie da. Saß sinnlos herum.
Plötzlich gab es draußen einen Aufruhr. Erregte Stimmen näherten sich dem Laden. Eine hysterische Frauenstimme überschlug sich, schimpfte und drohte jemandem. Dann wurde die Tür aufgestoßen und ein Knäuel von Menschen quoll herein. Erschrocken sprang Emily auf. Drei, vier Erwachsene standen da und starrten sie an. Hinter ihnen zwängten sich einige der Kinder herein und blieben ebenfalls mit offenem Mund stehen.
Oh nein, dachte Emily. Sie haben mich erkannt. Sie wissen, wer ich bin. Oh, nein, lieber Gott, bitte nicht. Emily kannte diesen Blick. Dieses leicht dämliche, fassungslose Starren. So als wäre man ein exotische Tier mit grotesken Gliedmaßen. Emily wollte weg laufen. Diese Blicke, sie waren ihr so verhasst. Endlose Sekunden standen sie einander gegenüber, schweigend, die Zeit an einem Ende angekommen, festgefroren in einem Bild. Instinktiv griff Emily nach ihrer Handtasche, die am Tisch liegen geblieben war. Diese kleine Geste brachte Bewegung in das Stillleben. Eine Frau mit schwarzem Kopftuch tat einen entzückten Schrei, riss die Arme auseinander und stürmte auf sie zu. Emily wich ein wenig zurück, versuchte ihre Abneigung gegen die ganze Szene nicht zu offensichtlich zu zeigen. Doch die Frau schien das nicht zu bemerken. Schon war sie heran, hatte ihre beiden Hände umfasst und begann wild auf sie einzureden. Emily verstand kein Wort, entnahm jedoch dem ungläubigen und doch so glücklichen Ton, dass sie es hier mit einer Bewunderin ihrer Kunst, wenn nicht gar mit einem leidenschaftlichen Fan zu tun hatte. Innerlich seufzte sie, äußerlich jedoch setzte sie ein freundliches, professionelles Lächeln auf, blickte in die strahlenden Augen der einfachen Frau und nickte ein wenig. Das Gesicht der Verehrerin war von der Sonne verbrannt. Tiefe Falten erzählten von schwerer Arbeit und wenig Luxus. Sie schien nicht alt zu sein, vielleicht fünfundvierzig und doch lag in ihren Zügen die Müdigkeit einer Achtzigjährigen. Die Freude darüber, ihrem großen Star persönlich gegenüber zu stehen verlieh ihrem Gesicht eine kurze Schönheit. Trotz aller Ablehnung des Starrummels fühlte sich Emily geschmeichelt. Es bedeutete der Frau so viel. Ein klein wenig konnte sie diesen Menschen nur durch ihre bloße Anwesenheit glücklich machen. Sie konnte für einen winzigen Moment das Leben dieser hart arbeitenden Frau zu etwas Besonderem machen. Emily spürte die dicken Schwielen auf ihrer Handfläche. Vor Aufregung zitternd traute sich ein krummer Finger über ihre Wangen streichen. Emily wich nicht mehr zurück. Sie sagte einige freundliche Wort in Englisch und hoffte, dass das Ganze mit einem Autogramm und kurzen Reden bald vorüber sein würde. Und während sie die bewundernden Versicherungen und das aufgeregte Geschrei stoisch ertrug, wusste sie mit einem Mal, dass dies ein Ende haben musste. Sie wollte nicht mehr gefragt und berühmt sein. Sie wollte in ein kleines Fischerdorf kommen können und dort nicht von jedermann erkannt werden. Die Frau hielt immer noch ihre Hände gefangen und begann jetzt, sie mit sich zu ziehen, hinaus vor die Tür. Emily schüttelte den Kopf und versuchte, sich sanft zu wehren. Sie wollte keine Babys küssen und Großmüttern die Hand geben. Doch die Frau war hartnäckig. Sie schaffte es, Emily bis vor die Tür zu ziehen, wo das Sonnenlicht sie blendete und die Hitze sofort Schweiß auf der Haut ausbrechen ließ. Wie ein rettender Engel kam ihr Chauffeur herüber gelaufen und erkundigte sich in Stakkato-Italienisch, was das zu bedeuten habe. Emily redete gleichzeitig auf ihn ein.
"Bitte, erklären Sie doch der Dame, dass ich hier bleiben möchte. Man möge doch bitte nicht so einen Aufwand machen."
Der Fahrer sah verwirrt von einem zum anderen und versuchte zu begreifen, was vor sich ging. Die Frau hielt eine von Emilys Händen fest, mit der andern gestikulierte sie heftig in der Luft herum, beschwor den Chauffeur zu ihren Gunsten einzugreifen.
Schließlich sagte er: "Signora, verzeihen Sie, doch diese Frau ist so glücklich darüber, Sie getroffen zu haben. Sie sagt, sie müsse Ihnen unbedingt etwas zeigen. Sie mögen doch in ihr Haus kommen, etwas trinken und dort warten, bis der Wagen fertig ist."
"Bitte", flehte Emily, "sagen Sie ihr doch, ich möchte hier bleiben. Die Einladung ist sehr freundlich, doch ich möchte keine Umstände machen."
Der Chauffeur übersetzte und sofort traten Tränen in die Augen der Frau. Sie ließ Emilys Hand los und sagte einige Sätze in sehr unglücklichem Ton.
"Sie sagt, was sie Ihnen zeigen möchte, würde auch Sie sehr glücklich machen. Es sei etwas ganz Besonderes. Bitte überlegen Sie es sich noch einmal. Es scheint ihr sehr wichtig zu sein."
Die Frau fügte bittend und bettelnd noch einiges in Italienisch hinzu.
Dein Leben gehört nicht mehr dir, sagte plötzlich die Stimme ihres Vaters in Emilys Kopf. Daran musst du dich gewöhnen. Das hatte er ganz zu Anfang ihrer Karriere einmal gesagt, als sie sich über freche Berichterstattung in einem Magazin beklagt hatte.
Aber es wird wieder mir gehören, schwor sich Emily. Dieses eine Mal noch und dann nie wieder. Ich will wieder über mich bestimmen. Ich werde von hier zurückfahren und bekannt geben, dass ich meine Karriere beende. Nie wieder Rampenlicht. Ein ruhiges, abgeschiedenes Leben irgendwo, ja, das wird es werden.
Sie sah in die traurigen, bittenden Augen der Frau und nickte. Sofort kehrte das Strahlen in sie zurück. Wieder wurde Emily an der Hand gefasst und mitgezogen.
"Bitte kommen Sie mit zum Übersetzen", bat Emily den Chauffeur.
Er nickte und folgte dem Trüppchen hinterher.
Die Frau hatte sich bei Emily untergehakt und beschrieb ihr mit weit ausholenden Gesten das Dorf. Emily kam sich ebenso dumm wie geehrt vor. Vor allem aber war sie genervt und wünschte, es möge doch so schnell wie möglich vorüber sein.
Man brachte sie zu einem kleinen Haus, typisch für die Gegend weiß getüncht, mit herabfallendem Putz. Drinnen war es dunkel und nur wenig kühler. Emily brauchte einige Sekunden, bis sie sich orientieren konnte. Eifrig schnatternd schleppte die Frau sie durch das kleine Wohnzimmer in den nächsten Raum, der offensichtlich das Schlafzimmer des Ehepaares war. Ein ordentlich gemachtes, breites Bett, ein wuchtiger, dunkler Kasten, ein kleiner Tisch, alles sauber und einfach, das Zimmer nur von zwei kleinen Fenstern ein wenig erhellt. Ihre Gastgeberin machte das Licht an und wies dann triumphierend in eine Ecke. Zuerst etwas geblendet blinzelte Emily in die Helligkeit und dann erkannte sie, was das Besondere war. Da, wo man in alten Zeiten einen Herrgottswinkel gehabt hatte, war ihr zu Ehren ein kleiner Altar errichtet worden. Eine Welle von Rührung überkam sie. Du meine Güte, so eine Verehrung. In der Mitte thronte ein Schwarzweißporträt von ihr, für das der Fotograf sogar einen Preis in den USA bekommen hatte. Es war sorgfältig aus einem Magazin ausgeschnitten worden und in Holz gerahmt. Auf diesem Bild sah sie gut aus, das musste sie zugeben. Um das Bild herum waren Plastikblumen und Kerzen arrangiert. Davor stand eine kleine, goldgefärbte Statue der heiligen Mutter Maria, die anscheinend für sie beten musste. Links war ein vergilbter Artikel über eine Konzerttour durch Italien an die Wand gepinnt und rechts die verwischte Kopie einer ihrer CD-Covers. Ihre Verehrerin deutete mit heftigen Gesten zwischen ihr und dem Bild hin und her. Emily nickte und lächelte ihr herzlich zu. Ja, sie war es tatsächlich. Auf einmal machte es nichts mehr aus, dass man sie erkannt hatte. Das glückliche Gesicht der Frau erfüllte sie mit Stolz. Ihre eigenen Augen blickten sie nachdenklich aus dem Bild an. Auf einmal begriff Emily. Wenn ihre Berühmtheit selbst in ein kleines Fischerdorf weitab von der großen Welt gedrungen war, wenn sie selbst unter solchen Menschen, wie sie in diesem Dorf lebten, Bewunderer fand, dann war sie tatsächlich in den unsterblichen Olymp der Kunst eingetreten. Ihre Kunst war so groß, dass sie im Gedächtnis der Menschheit bleiben würde, auch lange nach ihrem Tod. Ihrer würde man sich vielleicht noch in Generationen erinnern, sie bewundern, ihre Lieder auf Platten und CDs anhören. Emily spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen. Vielleicht war das der wirkliche Grund ihrer Reise gewesen. Diese Frau und ihre Verehrung zu finden. Wieder zu spüren, was es hieß, Menschen mit ihrer Kunst glücklich zu machen. Tief bewegt nahm sie die Hände der Frau in die ihren und drückte sie. Was musste es für diese Frau bedeuten, den hochverehrten Menschen tatsächlich im eigenen Hause zu haben! Von diesem Tag würde sie Enkel und Urenkeln erzählen. Emily fühlte sich von ihrer kleinen menschlichen Existenz erlöst und erhoben, erhaben und mit dem gesamten Universum verbunden. Auf einmal war sie voller Liebe für die Menschen und konnte über ihre Kleinlichkeiten hinwegsehen. Sie würde in die Welt zurückkehren und weiter singen. Denn nun hatte sie den Glanz in den Augen einer einfachen, hart arbeitenden Frau gesehen, die so einfach zum glücklichsten Mensch der Welt zu machen war.
Aus dem Mund der Frau kam weiterhin ein italienischer Wortschwall, den Emily zusammen mit den strahlenden Augen als ungläubige Huldigung ihrer Person interpretierte. Nach und nach war der Rest der Familie ins Schlafzimmer getreten, der kleine Junge in den blauen Hosen hüpfte aufgeregt auf und ab. Die ganze Aufregung war seiner Entdeckung zu verdanken. Auch ihr Chauffeur kam herein. Unaufgefordert begann er zu übersetzen:
"Sie sagt, dies sei der strahlendste Tag ihres Lebens, selbst ihr Hochzeitstag sei nicht so schön gewesen."
Emily nickte dankend in Richtung der Frau.
"Diese Ähnlichkeit sei einfach unglaublich, sagt sie, nie hätte sie gedacht, dass es ein zweites Gesicht wie das von Emily Wellson gebe. Sie mögen verzeihen, natürlich sehe man da kleine Unterschiede, aber das sehe nur sie, weil sie jeden Tag das Gesicht der größten Sängerin aller Zeiten studiere. Sie lässt fragen, ob es nicht ermüdend sei, ständig gefragt zu werden, ob man mit Emily Wellson verwandt sei?"
Ähnlichkeit? Verwandt? Emily schüttelte verwirrt den Kopf. Was war damit gemeint? Sie sah von der Frau zu dem Photo und zum Chauffeur. Hatte sie ihn richtig verstanden? Er wusste nicht, wer sie war. Sie hatte Wagen und Fahrer über eine Agentur gemietet und als sie sich trafen, gab er kein Anzeichen einer Erkennung ihrer Person. Also hatte er die Frau nicht darüber aufklären können, dass sie tatsächlich Emily Wellson war.
Eine Welle der Entrüstung durchflutete Emily. Sie öffnete den Mund, um den Irrtum aufzuklären. Und schloss ihn wieder, erstaunt darüber wie beleidigt sie war. Gerade noch hatte sie sich in der Verehrung wohlig gerekelt und nun musste sie erfahren, dass man gar nicht daran dachte, die berühmte Emily Wellson sei in diese Hütte eingekehrt, sondern nur eine müde Kopie des Originals. Sie betrachtete das Photo. Natürlich war sie da ein paar Jahre jünger gewesen, hatte Make-up getragen und war alle zwei Minuten von einem Friseur gestylt worden. Jetzt trug sie gewöhnliche Kleidung, man sah ihre Falten um Augen und Mund und nach drei Tagen Reise hing ihr Haar form- und glanzlos über die Schultern, war ihr Gesicht angespannt. Sie war erstaunt über das Ausmaß ihrer Kränkung. Sie wurde für eine gewöhnliche Person gehalten, die zufällig einer berühmten Sängerin glich. Die Frau hatte sie nur hereingebeten, um ihr die Ähnlichkeit zu zeigen. Sie war alleine darüber glücklich, dass jemand, der so aussah wie Emily Wellson, ihr Haus beehrte. Es überstieg ihre Vorstellungskraft, die wirkliche Emily Wellson könnte durch eine schicksalhafte Fügung in ihr Leben getreten sein. Hier wurde Emily ärgerlich. Sie wollte die Göttin sein, die von Olymp herabstieg und dieses Haus mit ihrem Licht erstrahlen ließ. Sie wollte der Frau ein noch großartigeres Erlebnis schenken, als sie es ohnehin schon hatte. Ihr die einmalige Primmadonna vorführen, die sie so verehrte. Und wenn sie singen musste, um zu beweisen, dass sie Emily Wellson war.
"Man bittet Sie, zum Abendessen zu bleiben", sagte der Chauffeur. "Die Hausfrau würde gerne mehr über Sie erfahren, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Sie wäre sehr glücklich, Sie beherbergen zu dürfen."
Emily sah in das ängstliche Gesicht der Frau. Sie hatte bemerkt, dass etwas Emilys Unwillen erregt hatte. Wäre es nicht lächerlich, nun den Mund auf zu machen und zu singen, nur um ihre Identität zu beweisen? Nur, um einen noch größeren Schock auszulösen. Und dann! Hatte sie die Reise nicht unternommen, gerade weil ihr das Berühmtsein so auf die Nerven gefallen war? Gerade weil man sie immer und überall erkannte? Hier war eine wundersame Verwechslung geschehen. Sie war nicht berühmt, sah nur jemand Berühmtem ähnlich, hier galt sie als normaler Menschen und war darüber schrecklich gekränkt. Beinahe hätte sie laut aufgelacht. Sie riss sich zusammen. Wie seltsam. Sie hatte genau das sein wollen, wofür die Frau sie hielt und nun war sie unzufrieden damit. Emily erkannte, wie sehr sie ihrer Eitelkeit zum Opfer gefallen war. Ich, der große Star, dachte sie innerlich kichernd. Ich bin doch ein ganz normaler Mensch, ich bin nur auf der Bühne das, was die Frau da in mir sieht. Hier bin ich nur das Double, die Kopie und dabei wollen wir es bewenden lassen.
Sie ließ vom Fahrer ihre Danksagungen übersetzen und die Entschuldigung, dass sie ihre Fahrt so bald wie möglich fortsetzen müsse. Der Wagen war glücklicherweise inzwischen repariert worden. Unter viel Händeschütteln und Wortkaskaden verabschiedete sie sich. Draußen hatte sich das halbe Dorf versammelt und man winkte mit tausendfachen Fingern, als sie davon fuhren und die Häuser im Staub verschwanden. Als sie wieder zur Kreuzung kamen, fragte der Chauffeur, welche Richtung sie einschlagen wolle. Emily überlegte einen Moment und dann fragte sie den Fahrer ein wenig verschämt:
"Wie heißen Sie eigentlich?"
"Antonio, Signora. Mein Name ist Antonio Cavallo."
"Antonio. Bitte bringen Sie mich zurück nach Rom."



Eingereicht am 09. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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