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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Rauschen und Tröpfeln

© Friedhelm Rudolph


Unten auf der Straße eilen bunte Regenschirme vorbei, unter denen sich Menschen vor den herbstlichen Böen ducken. Ich stehe am gekippten Fenster und beachte sie nicht weiter. Ich stehe da und atme tief ein, lausche dem gleichmäßigen Rauschen und Tröpfeln, das zusammen mit der feuchten Luft hereinweht. Dicke Regentropfen rutschen an der Scheibe herunter, ziehen krumme Wasserspuren, reißen auf ihrem Weg nach unten kleinere Tropfen mit sich, vereinigen sich auf dem Fensterrahmen zu länglichen Pfützen. Andere Tropfen kleben beharrlich am kalten Glas, glitzern silbern im grauen Tageslicht.
Ich stehe da, lächele still in mich hinein und hole tief Atem. Ein schöner Tag. Es regnet.
Von irgendwoher naht ein gleichmäßiges Piepen, wird lauter, aufdringlicher, bis ich es nicht mehr überhören kann. Mir wird schwarz vor Augen. Ich wache auf.
Regen. Es regnet draußen! Ich liege zu Hause in meinem Bett und es regnet. Regen? Zweifel steigen in mir auf. Suchend bewegen sich meine Augen ruckartig unter den geschlossenen Lidern. Wo bin ich? - Die Erinnerung schießt in meinen Kopf. Meine Schultern erschlaffen, meine Mundwinkel fallen hinunter zur Bettdecke. Kein Regen. Klimaanlage, Apparate. Intensivstation.
Die Tür fliegt auf. Ich zucke zusammen und öffne die Augen. Ich sehe die terrakottafarbene Wand, die große Uhr, den Dreimonatskalender; das Fenster zum Nebenraum mit den geschlossenen, grauen Jalousien auf der anderen Seite der Scheibe; die Schwester, die mit forschen Schritten hereinkommt und die Tür weit offen stehen lässt. Ich reiße mich zusammen, hebe mit aller Kraft die Mundwinkel, schiebe mich im Bett ein paar Zentimeter höher. Ein neues Spiel beginnt.
Die Schwester tritt hinter mein Kopfende, hantiert an den Apparaten herum. Das Piepen verstummt, das Rauschen und Tröpfeln bleibt.
"Wie geht es Ihnen? Alles in Ordnung?", fragt sie mich sanft mit gedämpfter Stimme. Sie ist immer so bemüht. Alle hier sind immer so bemüht.
"Alles bestens", antworte ich und meide ihren Blick.
Mit routinierten Griffen tauscht sie die leere Infusionsflasche gegen eine volle aus und verschwindet hinter dem hellen Vorhang, der mein Bett von dem anderen im Zimmer trennt. Die kleinen Adler auf dem Vorhang tanzen.
"Ich muss jetzt einmal nach Ihrer Wunde schauen", höre ich hinter dem Vorhang ihre Stimme, jetzt lauter und schärfer. Ich wende den Kopf dem Schattenspiel zu. "Können Sie sich auf den Rücken legen? Geht das? Ich helfe Ihnen." Ein verkrampftes Stöhnen als Antwort.
Ich drehe den Kopf zurück (der Halskatheter zwickt) und höre nicht mehr hin. Das Schattenspiel langweilt mich. Ich sehe auf die Uhr, auf den Kalender, auf die Wand, auf das Fenster zum Nebenraum mit den geschlossenen, grauen Jalousien auf der anderen Seite der Scheibe, schaue zurück auf die Uhr, fixiere den roten Sekundenzeiger und zähle im Stillen: ein-und-vier-zig, zwei-und-vier-zig, drei-und-vier-zig, vier-und-vie-rzig -: jetzt! Die Manschette bläht sich auf, nimmt mich fest in ihren Griff. Schon wie selbstverständlich strecke ich den Arm aus. Mit einem hastigen Tacktacktacktacktacktacktack lässt die Maschine die Luft aus der Manschette entweichen - bis zum nächsten Mal in einer Stunde. Mein Blutdruck scheint in Ordnung zu sein, denke ich, sonst hätte sich die Technik gemeldet und die Schwester wäre herbeigeeilt, um nach mir zu sehen. Ich entwirre die Kabel und Schläuche, die mir aus Brust, Nase, Hals und Armen wachsen, schließe die Augen und ziehe die Bettdecke bis über das Kinn, übergebe mich wieder dem betörenden Rauschen und Tröpfeln, das mich einhüllt, mich durchdringt, mich schließlich schweben lässt.
Vier bedächtige Glockenschläge zerren mich aus dem Halbschlaf und drücken mich wieder hinunter auf die Matratze. Ich bin verärgert, schaue strafend auf die Wand, auf das Fenster zum Nebenraum, auf die Uhr, auf den Kalender. Die Schwester schießt hinter den Adlern hervor und sieht mich kurz an.
"Da ist schon wieder etwas locker", sage ich zu ihr, bemüht, nicht vorwurfsvoll zu klingen und schiebe schon einmal die Bettdecke herunter bis zur Hüfte und mein kleinkariertes Krankenhaushemd hoch bis unter das Kinn.
"Das haben wir gleich", entgegnet sie sanft wie immer und lächelt, beugt sich über mich und befingert die Elektroden auf meiner Brust. Ich betrachte die Schwester, ihre geschickten Finger, ihre dunklen Haare, die sie hochgesteckt hat, ihren weißen Kittel, ihr Namensschild auf der linken Brust. Sie riecht nach Desinfektionsmittel. Ich bin überrascht, dass ich an ihr Desinfektionsmittel rieche, wo hier alles nach Desinfektionsmittel riecht, mich eingeschlossen. Benutzt sie ein anderes Desinfektionsmittel, das anders riecht? Ich traue mich nicht, sie danach zu fragen.
Mit einem "So. Alles wieder in Ordnung", beendet sie ihr Werk, wendet sich von mir ab und drückt ein paar Tasten hinter meinem Kopf.
"Danke schön", sage ich und lächele müde. Sie ist immer so bemüht. Alle hier sind immer so bemüht. Mir ist das peinlich.
Sie hilft mir, die Kabel und Schläuche zu entwirren, das Hemd unter die Bettdecke zu stopfen und lässt die Adler wieder tanzen. Einhundertdreiundzwanzig. Einhundertdreiundzwanzig Adler habe ich gestern gezählt. Oder war es vorgestern? Ich weiß es nicht mehr. Die halben Adler habe ich nicht gezählt, die Falten im Vorhang haben mir die Lust daran genommen.
"Möchten Sie wieder auf der Seite liegen?", geht drüben die Vorstellung weiter. Ihre Stimme ist jetzt wieder lauter und schärfer.
"Ja. Ja, bitte", antwortet erschöpft eine alte Stimme. Und wieder dieses Stöhnen.
Dann erscheint die Schwester auf meiner Seite des Vorhangs: "Wenn etwas ist, dann klingeln Sie einfach, ja?" An ihre sanfte Stimme und ihr aufmunterndes Lächeln könnte ich mich gewöhnen.
"Mache ich", sage ich betont freundlich und ebenso sanft.
Sie schließt die Tür leise von außen. Meine Mundwinkel wandern nach unten. Das Spiel ist aus. Ich starre wieder auf die terrakottafarbene Wand, auf das Fenster zum Nebenraum mit den geschlossenen, grauen Jalousien auf der anderen Seite der Scheibe, auf die Uhr, auf den Dreimonatskalender. Beim Vorbeihuschen hat sie das Datum umgestellt. Ich habe es nicht bemerkt. Wie konnte mir das entgehen? Bevor ich beginnen kann, darüber nachzudenken, wodurch ich in dem Moment, als sie den Kalender umgestellt hatte, abgelenkt hätte gewesen sein können, meldet sich die Stimme hinter dem Vorhang: "Entschuldigen Sie bitte mein Gestöhne, ich störe Sie sicherlich fürchterlich. Ich bitte vielmals um Entschuldigung."
"Ist schon in Ordnung. Kein Problem", lüge ich höflich und verdrehe die Augen. "Sie müssen sich nicht entschuldigen." Das erste Mal, dass die Stimme zu mir spricht. Eine frische Bauch-OP.
Hinter dem Vorhang geht das ruhige Atmen in ein heiseres Schnarchen über. Ich schließe die Augen. Schlafen, einfach nur schlafen. Ungestört. Zu Hause. - Erst langsam, dann immer schneller entfernt sich das Schnarchen von mir, gleichzeitig wird das Rauschen und Tröpfeln lauter, hüllt mich ein, durchdringt mich, lässt mich schließlich schweben. Regen. Mal wieder im Regen stehen ... - Die Dunkelheit vor meinen Augen schwindet. Ich stehe wieder am gekippten Fenster. Unten auf der Straße eilen bunte Regenschirme vorbei, unter denen sich Menschen vor den herbstlichen Böen ducken. Ich stehe da und atme tief ein, lausche dem gleichmäßigen Rauschen und Tröpfeln, das zusammen mit der feuchten Luft hereinweht. Dicke Regentropfen rutschen an der Scheibe herunter, ziehen krumme Wasserspuren, reißen auf ihrem Weg nach unten kleinere Tropfen mit sich, vereinigen sich auf dem Fensterrahmen zu länglichen Pfützen. Andere Tropfen kleben beharrlich am kalten Glas, glitzern silbern im grauen Tageslicht.
Ich stehe da, lächele still in mich hinein und hole tief Atem. Ein schöner Tag. Es regnet.
Von irgendwoher naht ein gleichmäßiges Piepen ...



Eingereicht am 09. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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