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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Alles zu seiner Zeit

© Michael Helming


Letztes Jahr, kurz nach elf Uhr am Vormittag des ersten Weihnachtstages, brachte mich meine Mutter zum Bahnhof. Es war unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest seit zwölf Jahren gewesen und obwohl mein Terminplan mich schon jetzt zurück in den Süden kommandierte, hatten wir doch eine ruhige und schöne Zeit miteinander verbracht.
Zwei Tage vor Heiligabend hatten die Handwerker ihre neue Küche gebracht und so wurde ich täglich mit drei warmen Mahlzeiten verwöhnt, begann den Tag mit frischen Krabben und Bratkartoffeln, während meine Mutter in großen Töpfen und Pfannen Reh- und Wildschweinbraten vorbereite. Es roch bereits nach Rotkohl. Den Vormittag verbrachte ich mit meinem Vater in der Stadt. Wir kauften meiner Mutter für die Küche ein kleines Radio.
Nachdem ich eine Zeitung gekauft hatte gingen wir gemeinsam die Stufen zum Bahnsteig Zwei hinauf und standen ein paar Minuten im ungemütlichen Seewind. Hier drückte mir meine Mutter ein kleines Päckchen in die Hand.
Seit Jahrzehnten ist es in unserer Familie üblich, sich dem vorweihnachtlichen Einkaufsstress durch eine Abmachung zu entziehen, die wir mit militärischer Treue unseren Nichtschenkungspakt nennen. Ein antikapitalistisches Bündnis, welches im Allgemeinen von allen Seiten akzeptiert und eingehalten wird. Daher war ich über dieses nachträgliche Geschenk einigermaßen verwundert, das sie mir mit der nachdrücklichen Bitte übergab, meinem Vater gegenüber darüber Stillschweigen zu wahren. Da man der Verpackung ansehen konnte, dass sie aus einem Juwelierladen stammte, ahnte ich Böses und wenn Söhne Böses ahnen, bleibt dies Müttern bekanntlich kaum eine Sekunde lang verborgen. Meine Mutter weiß natürlich, dass ich eine große Antipathie gegenüber Halsketten hege und mir derartige Ketten und Fesseln nie freiwillig umlegen würde. Daher dementierte sie auch sofort, für mich ein derartiges Zuhälteraccessoire erstanden zu haben. Es sei eine Uhr, sagte sie, kündigte damit eine tief greifende Veränderung in meinem Leben an, da ich seit über eine Dekade keine Uhr mehr besessen habe. Inzwischen weiß ich ein Leben ohne Uhr sehr zu schätzen, genieße mein zeitloses Leben und gebe davon mitunter sogar etwas an meine Mitmenschen weiter. So häuften sich zu Beginn meiner zeitlosen Zeit die Tage, an denen ich mit Verspätungen von fünf bis zehn Minuten am Arbeitsplatz erschien.
Hierfür konnte ich keinen Bus und keine defekte Autobatterie verantwortlich machen, da ich immer zu Fuß zur Arbeit gehe. Mein zeitloses Auftreten sorgte für einigen Unmut bei Kollegen und Vorgesetzten und führte sogar zu einem ernsten Gespräch mit meinem Chef. Da meine Verspätungen trotz Drohungen zwar zurück gingen, sich aber konstant bei drei bis fünf Minuten einpendelten rechnete ich mit Konsequenzen, die sich auch ergaben, jedoch in anderer Form, als ich es erwartet hatte. Heute gibt es an meinem Arbeitsplatz eine Art stillschweigende Gleitzeit. Alle Mitarbeiter erscheinen nicht mehr zu einem festen Zeitpunkt, sondern sie umlagern die Minuten davor und auch danach. Ohne dies besprochen zu haben, regiert in unserem Laden die Übereinkunft, dass eine Minute durchaus mal das Zehnfache ihrer physikalisch festgelegten Länge erreichen kann. Auf unsere Arbeit hat diese großzügige Interpretation von Intervallen keine Auswirkungen. Nicht einmal auf unsere Leistung, eine Größe, bei deren Definition man ja bekanntlich Arbeit in einen Bezug zur Zeit zu bringen versucht.
Der Zufall wollte es an jenem ersten Weihnachtstag, dass am Bahnsteig Zwei alle Uhren ausgefallen waren, und deren Zeiger damit auf längst Vergangenes verwiesen. Ich öffnete das Päckchen und fand eine goldene Junghans mit Datumsanzeige, die ich gleich umband und so unter dem Ärmel meines Mantels verschwinden ließ. Wenn das Armband zu eng währe, sollte ich es zu einem Uhrmacher bringen, sagte meine Mutter. Nein, es fühlte sich eigentlich genau richtig an.
Meine Mutter machte sich Sorgen, ob ich wohl alle Anschlusszüge erreichen konnte, da mir in Dortmund doch nur fünf Minuten zum Umsteigen blieben.
Aus einem Lautsprecher wurde die Regionalbahn 24917 nach Bremen angekündigt.
Ob der Zug pünktlich einfuhr blieb im Unklaren, dank jener Eigenart der Bahn, ihre Züge immer mit ihrer "Planmäßigen Ankunftszeit" anzukündigen, selbst wenn letztere längst verstrichen ist und sich die Verspätungen zu Dutzenden von Minuten aufsummiert haben.
Ich verabschiede mich, verspreche, nach meiner Ankunft am Abend anzurufen und steige in den Zug. Dieser setzt sich in Bewegung, bevor ich meinen Platz erreiche, wo ich die Zeitung entfalte. Obwohl ich sie heute gekauft habe, trägt sie als Erscheinungsdatum den vierundzwanzigsten zwölften, ist eine Zeitung von gestern.
In Bremen habe ich komfortable achtzehn Minuten Zeit zum Umsteigen und im Zug nach Dortmund erklärt mir der Zugbegleiter, ich könne meinen Anschlusszug bequem in zwei Minuten erreichen, da am Hauptbahnhof Dortmund die Gleise Elf und Sechzehn seltsamerweise am selben Bahnsteig liegen und mein Zug so direkt gegenüber hält.
In Ulm schließlich, standen mir nach Fahrplan auch nur sechs Minuten Umsteigzeit zur Verfügung, doch ich fand keine Eile. Jeder, der auf dieser Strecke regelmäßig unterwegs ist, weiß, dass der InterRegioExpress nach Friedrichshafen immer zwei bis drei Minuten später abfährt.
Abends konnte ich meiner Mutter dann wahrheitsgemäß berichten, wie glatt alles gelaufen war. Obwohl wir uns jetzt einige Tage gesehen hatten, wussten wir doch noch einiges zu erzählen und irgendwann stellte meine Mutter fest, wir hätten schon wieder über eine Stunde miteinander telefoniert.
Ich trage die Uhr jetzt öfter. Doch schaue ich nur selten und flüchtig drauf. Ich vergesse einfach, danach zu sehen. Obwohl ich lernwillig bin. Manchmal zwinge ich mich. Das ist schon zu einer reflexartigen Bewegung geworden: Beide Arme auf Bauchhöhe bringen. Den Kopf senken, leicht nach rechts geneigt. Mit der linken Hand den rechten Ärmel zurückschieben. Einige Augenblicke in der Stellung verharren. Dann Arme fallen lassen. Alle Muskeln entspannen. Kopf wieder aufrichten.
Oft weiß ich nach derartigen Übungen auch nicht, wie spät es ist. Aber es gab in letzter Zeit schon wieder Momente, in denen ich mit den Auskünften vom Zifferblatt vereinzelt etwas anfangen konnte.



Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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