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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gezeichnet

© Sigrid Lang


Den Kakao gieße ich zum Abkühlen in die blaue Kanne. Gleich kommt Jule. Es sind Weihnachtsferien, der Kindergarten hat geschlossen. Diesen Vormittag nutzt Jules Mutter, um etwas zu erledigen. Sie wohnen über mir. Ich freue mich. Jule ist ein Kind, das ich gern um mich habe. Heute wollen wir Weihnachtsplätzchen backen. Obwohl es schon zehn Uhr ist, scheint es heute nicht hell zu werden. Schwere, graue Wolken hängen über den Häusern. Die Luft riecht nach Schnee.
Ich höre ihre leichten Schritte auf der Treppe und das Klappern der Buntstifte in der Blechschachtel, die sie immer mitbringt. Bis vor kurzem zeigte sie mir mit drei kleinen Fingern, wie alt sie war. Jetzt sagt sie: "Ich bin schon vier." Alles will sie allein machen. "Ich kann das", ist ihr Lieblingssatz. Es läutet. Einmal, zweimal. Ich lasse ihr ein wenig Zeit, sie darf auch dreimal.
Mein Bein schmerzt, als ich aufstehe und ihr die Tür öffne. "Hallo", sagt sie fröhlich. "Hallo, Julchen", sage ich. "Komm rein". Ihr lockiges, braunes Haar ist mit Frotte-Gummibädern zu zwei abstehenden Zöpfchen frisiert. Sie marschiert schnurstracks in die Küche. Der Malblock liegt schon auf dem Tisch. Sie klettert auf den Stuhl und kniet sich darauf.
Ich sehe, dass sie sich abmüht, die Blechschachtel zu öffnen, in der sich früher Marzinpanschwarzbrote befanden. Ich helfe nicht. ‚Ich kann das', braucht sie nicht zu sagen, sie schafft es allein. Die Buntstifte kollern über den Tisch. Während ich den Mürbeteig knete, erzählt sie mir, was sie malt. Den Strand, die Ostsee, an der sie in diesem Jahr Ferien gemacht haben. Ich wickele den Mürbeteig in Folie und lege ihn zum Ruhen in den Kühlschrank, wasche meine Hände.
Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich neben sie. Wir betrachten ihr Bild. "Ich und Papa sind im Wasser, siehst du?", sagt sie und deutet auf zwei Strichmännchen, die auf einer blauen Fläche treiben. "Mama ist am Strand". "Und Bäume, waren keine Bäume da?", frage ich. "Doch", sagt sie. "Den grünen Malstift hab' ich vergessen. Der liegt oben auf Papas Schreibtisch. Und der Hellblaue auch." Der Strand. Gelbe Striche. Dahinter dunkles Blau. Oben, auf weißem Grund - Hellblau liegt auf Papas Schreibtisch - ein gelber Kringel mit Stacheln, die Sonne.
Ich denke an einen anderen Strand. Sand, der grell weiß flimmerte in der Mittagshitze. Auch kein Grün, kein Baum, Sand und Dünen. Niedriges Dornengestrüpp. Der indische Ozean. Durchsichtig liefen die Wellen auf den Sand. Hellgrün blaues Glitzerwasser. Darüber der Himmel, hoch und leuchtend. Afrika. Zwei Jahre schon Bürgerkrieg. Schwarz gegen Schwarz. Erst später durften auch die Weißen mitspielen, ob sie wollten oder nicht. Es war nicht persönlich gemeint. Man brauchte ihre Fahrzeuge, die Transportmittel. Um jeden Preis. Ein Menschenleben mehr oder weniger, zählte schon nicht mehr.
Die Sonne brannte auf meine Schultern. Kilometerlanger, menschenleerer Strand. Wir hatten Muscheln gesucht, Britta und ich, die junge Frau, die als Sekretärin bei der Deutschen Botschaft arbeitete. Ihr Freund und mein Mann waren zum Schnorcheln zum Riff geschwommen, wollten mit dem Speer Langusten aufstöbern. Ein Leckerbissen auf dem Grill. Wir waren die ersten der Gruppe, die sich freitags immer am Strand traf. Ein Schattendach zwischen den beiden Geländewagen bot Schutz vor der knalligen Sonne. Ich öffnete die Kühlbox: "Willst du Wasser oder schon ...?" Ich beendete den Satz nicht. Urplötzlich waren sie da. Drei Afrikaner. Die schlanken Oberkörper frei, bis auf den Mittleren, der seine shuka, das Tuch, das den Männern hierzulande als Umhang und Bettdecke dient, über die Brust hatte fallen lassen. Jung, sehr jung. Waren sie schon fünfzehn?
"Nabat", grüßte ich sie. Ich war überrascht, keineswegs erschrocken. Keine Antwort. Mich fror plötzlich, Gänsehaut am ganzen Körper. Der Mittlere schlug die shuka zur Seite. Die Kalaschnikow glänzte in der Sonne.
"Autoschlüssel!", befahl er auf Englisch. Er nickte seinem Kameraden zu, der mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf uns zukam. "Und geht von den Wagen weg". Er deutete mit der Waffe auf uns und machte eine entsprechende Geste, die uns bewegen sollte, zu verschwinden.
Britta war hinter mich getreten. Wir standen da wie die Ölgötzen, erstarrt. Das Geräusch der Kalaschnikow riss uns aus der Erstarrung. Sand spritze neben uns auf.
"Renn", schrie ich Britta zu. Packte ihre Hand. Wir rannten zurück zum Wasser, wollten uns hinter der Abbruchkante in Sicherheit bringen.
Wieder eine Salve. Britta stolperte, fiel, ihre Hand entglitt meiner. Ich packte sie wieder. Riss sie hoch.
In dem Augenblick feuerte der Afrikaner noch einmal. Hatte er auf die Beine gezielt? Im Hochkommen traf eine Kugel Britta in den Rücken, unter das Schulterblatt. Irgendwas stach mich in den Unterschenkel.
Unter Wasser ist es still, ganz ruhig. Man hört nichts, nur das eigene Atmen.
"Da war ein Doppelbett mit einer Leiter", unterbricht Jule meine Erinnerungen. "Erst wenn man fünf ist, darf man oben schlafen".
Mein Bein schmerzt, aber es ist nichts gegen den Schmerz in mir, der nicht vergehen wird. Manche Wunden heilen nie. "Das Leben ist endlich, freu' dich am Jetzt", denke ich.
"Sieh mal, es schneit" sage ich. Vor das Fenster hat sich ein dichter Vorhang aus Flocken geschoben, der erste Schnee in diesem Winter. Ich nehme Jule auf den Arm, gehe auf den Balkon. Es ist faszinierend, ihr Gesicht zu betrachten. Die staunenden Augen, den Mund leicht geöffnet, wie sie den Schneeflocken zusieht, die lautlos zur Erde fallen. Eine Weile stehen wir reglos, jede in seine Betrachtung versunken. Ich hauche einen Kuss die kleine, weiche Innenfläche ihrer Hand. "Es wird kalt, Julchen", sage ich. "Lass uns Kakao trinken und Plätzchen backen".



Eingereicht am 08. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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