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Erwachsen werden

© Kerstin Sylt


"You live and you learn" - mein amerikanischer Gastvater hob immer resigniert die Augenbrauen oder zuckte mit den Schultern, wenn er das sagte. Manchmal rollte er sogar die Augen. Obwohl dieser Satz während meines Highschool-Austauschjahres mitten in der Pampa in Minnesota immer einen negativen Beigeschmack hatte, brannte er sich doch unwiderruflich in mein Gehirn. Immer, wenn mir etwas Außergewöhnliches passiert, denke ich: "You live and you learn".
Mit dreizehn schaute ich zum ersten Mal in den Spiegel und sagte zu mir, jetzt bist du erwachsen. Nun kannst du richtig denken und fühlen wie die Großen und verstehst alles. Damals glaubte ich, wenn man genug Dinge zum ersten Mal macht und Enttäuschungen überlebt, wird man erwachsen. Ich weiß noch genau, wie ich mit meiner Mutter zusammen auf den zusammenklappbaren Stühlen vor unserem Bus saß und Fotos vom letzten Weihnachtsfest betrachtete. Ich ging noch nicht in die Schule und hatte vorher immer im Jetzt gelebt und mich nie für Erinnerungsstücke wie Bilder interessiert. Und nun sollten sie mir die schönste Illusion des Weihnachtsfestes kaputt machen: Ich erkannte unter dem Bart des Weihnachtsmannes meinen eigenen Vater.
Vor Wut biss ich meine Mutter in den Arm.
Meine Eltern sind Hippies. Erst als ich in die Schule kam, fiel mir auf, dass sie anders waren als andere Leute. Wir hatten einen bunt gemusterten VW-Bus, immer Besuch und Gras in Einweckgläsern in der Küche wie andere Leute Basilikum oder Koriander. Bis ich sechs wurde, war der Bus unser Zuhause. Ich habe am Strand in Norditalien Schwimmen gelernt, in der staubigen Einöde von Südspanien mit einheimischen Kindern gespielt und beim Wodka-Verkaufen mit meiner Mutter auf Musikfestivals in ganz Europa im Regen gestanden. Als ich schulpflichtig wurde, zogen wir nach Bayern in das Haus meiner Großeltern, und die unglücklichste Zeit meines Lebens begann. Ich lernte die Bedeutung des Wortes asozial. Wir waren asozial. Das fanden zumindest die Eltern der anderen Kinder in meiner Klasse. Ich musste gleich am ersten Schultag die schmerzliche Erfahrung machen, dass ich als einzige ein knallgelb-grün-geblümtes Strickkleid trug, mein Lieblingskleid bis dahin. Ich kam alleine und viel zu spät zu den artig frisierten Mädchen mit Affenschaukeln und gerüschten Blusen und seitengescheitelten Jungs in den Klassenraum. Sie guckten mich erstaunt-angewidert an als sei ich aussätzig. Meine Eltern hatten verschlafen und mich unter Entschuldigungs-Umarmungen eine halbe Stunde zu spät zum Unterricht gebracht. Alle außer mir hatten Schultüten und einen Ranzen. Ich hatte nur eine gehäkelte Umhängetasche. Der einzige freie Platz war ein Einzeltisch, und den behielt ich bis zu den Winterferien. Die Lehrerin gab mir eine kleine "Ersatzschultüte", wie sie es nannte, damit ich nicht ganz ohne dastünde, als der Schulfotograf uns vor dem Eingangstor fotografierte. An diesem Tag muss es gewesen sein, dass ich begann, mich von meinen Eltern zu distanzieren. Rückblickend denke ich, es wäre logischer gewesen, ich hätte gegen die Schule rebelliert, aber ich wollte nichts anderes als angepasst sein. Ich zwang meine Eltern, mir "normale" Klamotten zu kaufen, einen einfarbigen Pulli und kratzige Stoffhosen.
Von dem Zeitpunkt an wurde ich zu Hause augenzwinkernd "die kleine Spießerin" genannt. Mir war das egal, Hauptsache, ich wurde endlich in der Schule akzeptiert. Ein paar der weniger beliebten Kinder beschlossen, man könne mit mir Bekanntschaft schließen. Besuch kam zwar selten zu mir nach Hause, weil niemand in die "Drogenhöhle" durfte, aber ich konnte bei anderen Kindern spielen. Meistens war ich die zweite oder dritte Wahl, aber immerhin, ich war dabei. Wenn mich die Mutter einer Freundin scheinheilig besorgt nach meinen Eltern fragte, log ich, dass ich bei meinen Großeltern im Erdgeschoss wohnen würde. Mein Großvater war Eisenbahner, was Anständiges. Ich habe ihn geliebt.
Mit vierzehn Jahren machte ich einen traurigen Schritt in Richtung Erwachsenwerden. Ich lernte, dass meine Großeltern nicht ewig leben würden. Vorher hatte ich mir über den Tod kaum Gedanken gemacht. Wenn ein Kaninchen starb, oder einer unserer Fische, wurden sie ohne viel Emotionen im Garten vergraben. Am nächsten Tag gab es einen neuen Fisch oder ein neues Kaninchen. So einfach war das. Mittlerweile hatte ich schon Anja, die Dritte und Petra, die Zweite und bei den Fischen kam ich mit den Namen gar nicht mehr hinterher. Ich fand meinen Großvater auf dem Küchenfußboden liegen. Er sah so schön aus, wie er mit halb geöffneten Augen und einem lustig verzogenen Mund auf dem Rücken lag. In der einen Hand die Morgenzeitung, in der anderen seine Brille. Ich begriff zwar, was geschehen war, aber wusste nicht, was ich tun sollte. Also setzte ich mich zu ihm auf den Boden wie ein treuer Hund, der bei seinem Herrchen bleibt. Als Großmutter schließlich zur Tür reinkam und einen Schrei ausstieß, drehte ich mich verwundert zu ihr um und fragte, warum sie so erschreckt sei und ob sie nicht sehe, dass Opa ganz froh sei. Dass er uns verdammt fehlte, fiel mir in den nächsten Wochen auf. Ich habe seinen frühen Weggang noch oft betrauert, aber nicht um seinetwillen, sondern weil ich ihn so vermisste.
In der Schule machte ich mich gut. So gut, dass ich Lieblingsschülerin fast aller meiner Lehrer wurde. Eine Streberin. Je mehr ich lernte, umso weniger wollte ich sein wie meine Eltern. Wenn ich nach Hause kam und sie Gras geraucht hatten, schrie ich sie an.
Einmal nannte ich selbst meine Mutter asozial. Sie war nicht mehr die schönste Frau der Welt. Die bunte Freiheit meiner Kleinkinderjahre wurde verdrängt von einem schäbigen Bild, das sich mir von meinen Eltern aufdrängte: In den Siebzigern stehen gebliebene Idealisten, die zu schwach waren, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen oder etwas im Leben zu erreichen. Ich wollte nur weg von zu Hause. Nicht mehr dazu gehören. Mit fünfzehn durfte ich endlich fort. Über ein Stipendium der Bundesregierung - nach Minnesota zu einem einjährigen Schüleraustausch. Eines meiner einsamsten Lebensjahre. Wohnen konnte ich bei Freunden meiner Eltern. Deren Haus war immer unbeheizt, wir waren kilometerweit vom nächsten Ort entfernt und meine Gasteltern waren - natürlich Hippies! Meine Gastschwestern, Snowflake und Summer, waren acht und zehn Jahre jünger als ich, und meine Tage bestanden aus Dorfschule und Babysitting. Ich nahm in diesem Jahr zwanzig Kilo zu, sehnte mich nach Deutschland und nahm mir fest vor, netter zu meinen Eltern zu sein.
Im Flieger zurück nach Hause war ich sehr aufgeregt und freute mich wie nie zuvor, meine Eltern und Großmutter wieder zu sehen. Ich hatte Geschenke für alle gekauft und mehrmals angerufen, um sicher zu sein, dass sie nicht vergessen, mich am Flughafen anzurufen. Ich war ziemlich stolz, denn ich hatte den Highschool-Abschluss in der Tasche. Mein Leben würde sich um hundert Prozent verbessern, dessen war ich mir sicher. Ich würde das Abi machen, dann BWL und Sprachen studieren und bald eine amerikanische Firma leiten, die sich vielleicht für den Tierschutz einsetzt oder so. Mit dreißig würde ich verheiratet sein und zwei Kinder haben. Dazu eine Nanny, einen Mercedes mit Chauffeur und ein riesiges Haus mit Swimming Pool.
Vielleicht irgendwo am Strand in Amerika.
Großvater sagte immer: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Das dachte ich auch, als ich durch die Glasscheibe bei der Gepäckabgabe guckte und meine Eltern nicht erspähen konnte. Was tun?
Ich hatte keinen Pfennig Bargeld dabei, nur ein paar Rest-Dollars und eine amerikanische Telefonkarte. Ich setzte mich auf die Drahtbank vor dem Gate und schaute zu, wie andere Familien sich gegenseitig in die Arme schlossen. Die Tränen liefen mir sofort herunter, obwohl sich meine Eltern ja auch nur verspätet haben konnten. Hatten sie aber nicht. Und so kam es, dass ich zwei Stunden später in der grünen Minna der Flughafenpolizei nach Hause vorgefahren kam. Ich kochte vor Wut und Enttäuschung und war in Rage darüber, dass man sich auf niemanden in meiner Familie verlassen konnte. Meine bekiffte Mutter war alleine zu Hause und fragte den Polizeibeamten, noch während sie mich in die Arme schloss, ob ich etwas ausgefressen hatte. Ich heulte auf, und der Polizist sagte, nein, nein, man hätte nur vergessen, mich abzuholen. Mit diesen Worten verabschiedete er sich, drehte sich um und ging zum Wagen. Für das Jugendamt war ich wohl schon zu alt.
Meine Mutter drückte mich und flüsterte, Papa sollte dich doch abholen. Es stellte sich heraus, dass mein Vater zum falschen Flughafen gefahren war. Ich war in München angekommen, aber er war nach Stuttgart gefahren, weil ich von dort aus geflogen wir. Er war total geknickt und sah mit seiner gekräuselten Stirn ehrlich schuldbewusst aus, aber ich konnte nicht anders. Ich musste ihn anschreien, dass er und Mama nie etwas auf die Reihe kriegen würden und dass sie das Letzte wären. Meine guten Vorsätze waren dahin.
Seit zwei Jahren lebe ich nun schon in Berlin. Das Abitur habe ich mit links geschafft und nebenbei viel gearbeitet, um schon mal etwas anzusparen für die Studienzeit. Ich bin erst 21 und habe mein BWL-Grundstudium hinter mir. Alle normalen Eltern wären stolz. Meine sagen auch, sie sind es, aber ich spüre, wie sehr sie sich gewünscht hätten, dass ich mehr nach ihnen komme und Aquarelle wie mein Vater male, oder scheußliche Töpferarbeiten wie meine Mutter erstelle.
Niemand, den ich kenne, hat so peinliche Eltern wie ich. Niemand, den ich kenne, weiß etwas über meine Eltern. Es ist wirklich erstaunlich, wie einfach es ist, überhaupt nichts von zu Hause zu erzählen, obwohl andere das ständig tun. Manchmal überrascht mich, wie wenig meine Kommilitonen an meiner Herkunft interessiert sind. Nach Großmutters Tod vor anderthalb Jahren sind meine Eltern richtig wahnsinnig geworden. Das Haus ist eingerichtet wie ein arabischer Harem und die beiden kleiden sich wie Siebziger-Jahre-Geistheiler. Als ich das letzte Mal zu Besuch war, haben sie mir eröffnet, dass sie nun endlich wieder die freie Liebe praktizieren würden und dass sie hoffen, dass es mich nicht stört, wenn zum nächsten Weihnachtsfest in meinem Zimmer "ein paar liebe Leute" schlafen. Ist das denn zu glauben? Wir haben die Neunziger! Bei uns zu Hause regiert eine verkehrte Welt. Ich bin erwachsen und meine Eltern benehmen sich wie Teenies. Und das seit über zwanzig Jahren.
Ich bin ziemlich aufgeregt. Heute habe ich mein erstes Date mit Joachim. Joachim ist mein Personalwesen-Dozent. Ich bin seine wissenschaftliche Assistentin und arbeite in seiner Forschungsgruppe.
Bereits während des ersten Semesters habe ich mich in ihn verguckt, hätte aber nie gedacht, dass so ein Mann sich für mich interessieren könnte. Er ist fachlich ein Ass, hat mit seinen 43 Jahren schon zwei Bücher geschrieben und arbeitet an seiner Habilitation. Auf kleine Jungs stand ich noch nie. Wahrscheinlich ein Vaterkomplex. Na und?
Meine letzte und einzige Beziehung hatte ich noch in Bayern mit einem Freund meines Vaters. Meine Eltern fanden das OK, weil Donovan ein "echt cooler Typ" ist. Ich war zeitweise schon ziemlich in ihn verliebt, allerdings war für mich klar, dass es vorbei sein würde, wenn ich nach Berlin gehe. Donovan ist Künstler, und ich wollte nun wirklich nicht vor meinen Kommilitonen mit einem brotlosen, vierzigjährigen Bildhauer, der eigentlich Hans-Werner heißt, dastehen. Seitdem muss ich mir bei jedem Telefonat die bestellten Liebesschwüre von Donovan anhören, die mein Vater mir treu regelmäßig ausrichtet. Er gefällt sich in der Rolle des Postillon D'Amour. Ihm und meiner Mutter ist, was mein Leben betrifft, sowieso alles recht.
Hauptsache, die kleine Spießerin wird glücklich. Nur Geld kann ich von ihnen leider nicht erwarten, weil sie selbst keins haben. Ich glaube, ich verdiene mit meinem Uni-Job jetzt schon mehr als beide zusammen.
Joachim hat gesagt, dass er mich um neunzehn Uhr fünfzehn abholt. Er ist bestimmt pünktlich. Bis vor ein paar Monaten war er noch verheiratet. Es war ziemlich offensichtlich, als seine Frau ihn verlassen hatte. Plötzlich waren seine Hosen ungebügelt und seine Jacketts fusselig. Als ich mir einmal ein Herz fasste und ihn darauf ansprach, wechselte er das Thema sofort zurück zum Fachlichen. Ab dann hatte er wieder saubere, gebügelte Kleidung an. Wahrscheinlich zur Reinigung gebracht. Ich habe mir danach besonders viel Mühe gegeben, ihm zu zeigen, dass ich ihn mag: Ich bin fast täglich in sein Büro gekommen, habe mir Bücher von ihm ausgeliehen und ihn ständig um Rat gefragt. Tja, vor zwei Tagen hat er mich endlich gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihm Essen zu gehen. Es ist zwar erst achtzehn Uhr, aber ich bin schon längst fertig: Ich trage einen schwarzen Nadelstreifen-Anzug, ein unaufdringliches Parfum und Hackenschuhe. Mein schönstes Outfit. Ich habe vier Monate auf den Anzug gespart, schließlich machen Kleider Leute. Nun habe ich noch eine Stunde Zeit, um für meine Klausuren weiterzulernen.
Wir sind im "La Pergola", einem gehobenen italienischen Restaurant in Zehlendorf, nicht weit von der Uni entfernt. Ich bin etwas enttäuscht, weil ich mir mehr Einfallsreichtum von Joachim gewünscht hätte, aber das kann ja noch werden. Er war gerade Hände waschen und kommt nun zurück an den Tisch. Duzen tun wir uns schon seit anderthalb Jahren, seit ich für ihn arbeite. Ich lächle ihn aufmunternd an und schlage vor, dass wir erst mal in die Karte schauen sollten. Auf der Fahrt hierher war Joachim schweigsam und hat sich sichtlich unwohl gefühlt. Ich wusste auch nicht so recht, was ich sagen sollte. Wahrscheinlich war er schon lange nicht mehr auf einem Date. Also presche ich mutig vor und frage ihn direkt nach seiner Frau. Das zieht einen anderthalbstündigen Monolog durch Vorspeisenteller, Pasta und Tiramisu nach sich, währenddessen er mir von A bis Z seine gescheiterte Ehe präsentiert. Ich weiß nun alles über Gesa und unterdrücke ein Gähnen. Wollen wir noch eine Flasche Wein bestellen, fragt Joachim. Ich stimme zu, obwohl ich normalerweise nicht trinke. Dann sagt er, dass man sich mit mir so wunderbar unterhalten könne und fragt mich, wo in Bayern ich genau herkomme. Er weiß von meiner Bewerbung, dass ich dort aufgewachsen bin und wundert sich, dass ich gar keinen bayerischen Akzent habe.
Das ist doch normal, wenn man in einem gebildeten Haushalt aufwächst, kontere ich und lenke das Gespräch schnell zurück zu seiner Ex-Frau.
Ich kann ihm einfach nicht von meinen Eltern erzählen. Das würde alles kaputt machen. Er hält mich dann sicher für asozial. Ich muss mir etwas einfallen lassen.
Nach weiteren anderthalb Stunden psychologischer Analyse der Beziehung von Joachim und Gesa sehe ich wohl so müde aus, dass Joachim trotz aller Ereiferung über das Thema die Segel streicht und mich nach Hause fährt. Vor meiner Wohnung wird die Situation noch einmal kribbelig. Ich war schon kurz davor, bei dem gemütlichen Ruckeln auf dem Kopfsteinpflaster einzunicken, als Joachim mich plötzlich völlig unverblümt fragt, ob er mich küssen darf. Das hätte ich nach der Exfrau-Besessenheit nun wirklich nicht erwartet. Die Härchen auf meinen Armen richten sich auf, und ich bin auf einmal hellwach. Habe ich ausreichend getrunken, oder habe ich Mundgeruch?
Wo ist mein Odol-Spray doch gleich? In dem Moment hat Joachim sich schon zu mir herüber gebeugt und seine sinnlichen Lippen auf meinen Mund gepresst. Dieser Kuss entschädigt mich für die langweiligen Stunden zuvor - ich schmelze dahin. So gut bin ich in meinem Leben noch nicht geküsst worden. Ich weiß nicht, wie lange wir eng verschlungen knutschen, als Joachim plötzlich seinen Kopf zurückzieht und sagt, im Institut braucht aber niemand etwas von uns zu erfahren, ok? Mmh, murmele ich und wanke aus dem Auto - liebestrunken.
Zuhause kann ich erst nicht einschlafen, so aufgewühlt bin ich. Und dann wache ich zu allem Überfluss auch schon um fünf Uhr auf. Mein Bauch kribbelt, und ich kann es kaum erwarten, Joachim wieder zu küssen. Am liebsten würde ich ihn anrufen, auf der Stelle.
Stattdessen reiße ich mich zusammen, lege Gurkenscheiben auf meine Augen, um nicht allzu übermüdet auszusehen, und warte hellwach ab, bis es Zeit ist, in die Uni zu fahren.
Bei allen Studenten, denen ich begegne, frage ich mich, ob ich rot werde und ob sie mich komisch angucken. Na ja, sie werden es ja sowieso bald alle erfahren. Joachim kommt heute erst um zehn, ich beschließe, in seinem Büro auf ihn zu warten. Ob ich mich verrucht auf seinen Schreibtisch setzen sollte? Ach, Quatsch, da muss noch Restalkohol in meinem Körper sein. Ich werde mich mit übergeschlagenen Beinen auf den Besucherstuhl zu setzen, so dass meine Beine perfekt zur Geltung kommen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich die zwanzig überschüssigen USA-Trauer-Kilos bereits vor dem Abitur wieder abtrainiert hatte? Seitdem ist vier Mal wöchentliches Jogging fester Bestandteil meines Stundenplans. Er kommt, ich lächle erwartungsvoll, seine Mundwinkel fallen nach unten. Was machst du denn hier? Er räuspert sich. Ich möchte dich höflichst bitten, mein Büro zu verlassen. Und dann flüsternd: Ich hatte doch gesagt, dass das mit uns keiner wissen soll.
Ich verstehe die Welt nicht mehr. Was ist denn nur los? Er ist doch kein Priester. Vor lauter Schreck fällt mir keine passende Konter ein, und ich verlasse wortlos Joachims Büro.
Die kommenden Wochen sind außerhalb des Instituts ein Traum. Joachim und ich treffen uns jeden zweiten Tag. Letztes Wochenende waren wir zusammen an der Ostsee, und ich bin mir mittlerweile hundertprozentig sicher, dass Joachim mein Mann fürs Leben ist. Im Bett ist er genau so fantastisch wie seine Küsse angedeutet haben und dazu sein Intellekt und die ruhige Art, auf die man sich immer verlassen kann.
Es könnte nicht besser sein. Na ja, er könnte weniger über Gesa sprechen. Ich weiß von ihren Vorlieben im Bett bis hin zu ihrer BH-Größe alles über die Frau. Seine Paranoia, dass wir im Institut zusammen gesehen werden könnten, akzeptiere ich inzwischen auch widerwillig. Manchmal fühle ich mich wie Monica Lewinski, natürlich 30 Kilo schlanker. Als ich meinen Eltern von meiner neuen Liebe erzählt habe, sind die vor Glück fast aus dem Telefon gesprungen. Sie wollen nun unbedingt, dass ich Joachim mit nach Hause bringe, so dass er alle unsere Freunde kennen lernen kann. Ha, darauf können die lange warten. Bis jetzt weiß er noch nicht einmal, dass sie existieren.
Weihnachten rückt näher. Joachim hat mich noch nicht gefragt, was ich mache. Wir sind seit sieben Monaten ein Paar. Inzwischen wohnt Joachim so gut wie bei mir. Wir schlafen fast immer zusammen in meiner Wohnung, und morgens fährt er kurz nach Hause, um sich umzuziehen und unauffällig in die Uni zu fahren. Unsere Beziehung sollte bald in Phase drei übergehen, finde ich. Ich habe mir vorgenommen, ihm bald einen Heiratsantrag zu machen. Dafür habe ich ihm einen sündhaft teuren Titan-Ring gekauft und meinen Namen eingraviert. Vor zwei Wochen war ich bei meinen Eltern, und habe ihnen den Ring und Fotos von Joachim gezeigt. Sie sind begeistert und tun mir etwas Leid. Schließlich habe ich nicht vor, sie zur Hochzeit einzuladen. Meine Mutter hat extra ein Partnerschafts-Horoskop für uns erstellt und eine riesige Liebes-Skulptur für uns getöpfert, die ich auf dem Heimweg in einen Müllcontainer geworfen habe. Es ist fast, als würde ich ein Doppelleben führen. Joachim hat zwar noch ein-zwei Mal nach meiner Familie gefragt, aber ich konnte das Thema jedes Mal mit einem Schwenk zu Gesa entschärfen.
Meine Mutter hat wieder angerufen und vorgeschlagen, dass Joachim und ich zu Besuch kommen. Meine Eltern wollen meinen Seelenverwandten (oh, Hilfe!) endlich kennen lernen. Es soll eine große Party mit Mondscheintanz und indianischem Buffet geben, und sie möchten mich und Joachim als Ehrengäste in einer tantrischen Zeremonie für die bevorstehende Hochzeit weihen. All mein Stöhnen und Schimpfen hat nichts genützt, sie hält es für unvermeidbar, da "der Kosmos es so entschieden hat". Ich habe vorgeschoben, dass Joachim so viel arbeiten muss und dass er schon gar nicht über die Feiertage meine Eltern besuchen könnte, weil er einen wichtigen Forschungsauftrag hat, der zwischen den Tagen fertig gestellt werden muss. Zum Glück ist meine Mutter naiv genug, so einen Schwachsinn zu glauben.
Er hat zugestimmt! Joachim feiert Weihnachten mit mir! Mir fällt ein Stein vom Herzen. Endlich habe ich den Beweis, dass er sich nicht mehr heimlich mit seiner Exfrau trifft. Vor Freude könnte ich platzen. Alles soll perfekt sein. Ich habe ein Vier-Gänge-Menu bestellt und eine Innendesignerin. Sie soll sich um den Baum kümmern und die Wohnung schmücken. Das ist mir die Ausreizung des Dispo-Kredits wert. Denn - ich werde die feierliche zweisame Stimmung nutzen, um Joachim meinen Heiratsantrag zu machen.
24.12. - 18 Uhr. Ich sitze in einer dunkelroten Festtagsrobe in meinem funkelnden Wohnzimmer und fühle mich wie Jackie Kennedy. Der Ring wurde in einen chinesischen Glückskeks eingebacken und liegt fertig in der Küche. Nach dem Dessert will ich Joachim auf diese besondere Art überraschen. So etwas hat sich sicher noch niemand für ihn einfallen lassen. Das Menu steht in Rechauds auf der Anrichte, und ich habe bereits die Kerzen am Baum angezündet. Nun muss ich nur noch die Videokamera auf dem Stativ in Position bringen, und alles ist bereit für den großen Abend. Ich stelle mir vor, wie wir unseren Enkelkindern den Film zeigen und uns dabei vor Glück und Rührung die Tränen von den Wangen kullern.
Meine Eltern haben noch gar nicht angerufen. Ich klingle mal kurz durch. Geht keiner ran. Ach, das habe ich vergessen. Die sind sicher zu Donovan gegangen, um mit ihm auf dem Oipsberg Pacha Mama Opfergaben zu bringen. Meine Eltern machen wirklich alles mit, was sich irgendein Hippie je auf einer Fernreise abgeschaut hat.
Unglaublich. Allerdings hat die Pacha Mama-Zeremonie immer Spaß gemacht. Zumindest bis ich 16 war. Der Oibsberg ist nicht besonders hoch, und wir haben, nachdem wir für die Götter Essensreste vom Vortag auf den Schnee gestreut hatten, auf dem Gipfel wie die Irren herumgetanzt bis irgendeiner keine Lust mehr hatte und Abfahrt rief.
Dann ging es auf Plastiktüten den Hang runter. Und am Abend gab es dann immer ganz klassisch Gans mit Knödeln bei uns zu Hause. Für mindestens zwanzig Leute. Das war schön. Das Klingeln der Wohnungstür schreckt mich aus meinen Gedanken. Ich ziehe schnell noch einmal meinen Lippenstift nach und laufe zum Eingang. Mein Lächeln unter dem Mistelzweig erstarrt, als ich fast dem fremden Mann vor der Tür einen Kuss auf den Mund gedrückt hätte. Guten Tag, frohes Fest, hier, ein Telegramm für sie. Ein Telegramm? Danke, auf Wiedersehen. Mit zitternden Händen reiße ich den Briefumschlag auf. Es wird doch nichts passiert sein?
"Frohe Weihnacht! Kann erst später kommen. Gesa's Mutter macht Probleme. Ich liebe Dich. Joachim." Bitte was? Gesa's Mutter? Was hat das zu bedeuten? Und wieso ruft er mich nicht an? Ich versuche es sofort auf allen Leitungen - sein Büro, zu Hause, sein Handy.
Nirgends antwortet er. Meine Gedanken kreiseln. Soll ich zu Gesa's Wohnung fahren, hier warten, schon essen, oder nicht? Ich weiß es nicht und sinke zunächst wie gelähmt aufs Sofa. Und dann - klingelt es schon wieder. Erleichtert seufze ich auf und denke, dieser Hund, wollte mir wohl einen Schrecken einjagen. So viel Kreativität hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Wieder der Lippenstift, dann rausche ich zur Tür und: Überraschung - tönen meine Eltern und Donovan im Chor.
Das - Kann - Nicht - Wahr - Sein! Ich sterbe! Hier und jetzt!
Bevor ich irgendetwas sagen kann, drückt mir mein Vater einen beherzten Kuss auf den Mund und deutet auf den Mistelzweig. Meine Mutter stürmt mit beladenen Armen an mir vorbei und Donovan scharrt schüchtern mit den Füßen. Die drei sehen aus wie eine Reinkarnation von Yoko Ono, John Lennon und Christian Anders. Ich ringe nach Luft und stürme ins Badezimmer, um einen klaren Gedanken zu fassen. Als ich nach zwei völlig gedankenlosen Minuten im Bad zurück ins Wohnzimmer trete, sitzen die drei erwartungsvoll strahlend auf meiner Couch. Sie tragen alle Farben des Regenbogens und wirken so deplaziert in meinem stylishen Wohnzimmer wie Elefanten im Porzellanladen. Freust du dich, mein Kind? Ja, es ist nur … Ich muss mir etwas einfallen lassen. Warum funktioniert mein Gehirn nur nicht?
Joachim könnte jeden Augenblick kommen, und dann gibt es eine Katastrophe.
Ich spüre eine haltlose Wut in mir aufsteigen. Wie können meine Eltern nur so gedankenlos sein und mir mein wichtigstes Weihnachten vermasseln? Sagt mal, spinnt ihr, platzt es aus mir heraus. Tränen der Wut schießen mir in die Augen und ich schreie los, was sich meine Eltern dabei gedacht hätten und dass ich noch Joachim erwarte und sie und Donovan hier jetzt nicht willkommen wären. Durch den Tränenschleier sehe ich noch, wie meine Mutter kaum merklich zusammenzuckt. Mein Vater steht sofort auf, packt meine Mutter sanft am Arm und entschuldigt sich bei mir. Das war unüberlegt, entschuldige. Wir dachten, du wärst allein, weil Joachim arbeiten muss. Donovan ist puterrot als die drei innerhalb von Minuten in ihre peruanischen Lammwollmäntel schlüpfen und die Tür leise hinter sich zuziehen. Ich heule und heule und heule. Kann überhaupt nicht aufhören. Plötzlich fühle ich mich allein. Mutterseelenallein. Ich bin ein schlechter Mensch. Werfe meine eigenen Eltern am Heiligabend aus der Wohnung.
Zitternd wähle ich Joachims Handynummer. Wieder nur die Mailbox.
Joachim, bitte melde dich, weine ich in den Hörer.
Es ist 22 Uhr. Ich habe in den vergangenen Stunden eine Flasche Merlot getrunken und die Pakete und Schüsseln, die meine Mutter mitgebracht hat, durchwühlt. Meine Lieblingsmarmelade, Gänsebraten und Geschenkpäckchen, aber am meisten muss ich weinen über das Erinnerungsalbum. Es ist eine Mischung aus Fotoalbum und Tagebuch mit lauter kleinen Skizzen und Erinnerungsstücken aus unserem Familienleben. Da sind auch die Weihnachtsfotos mit meinem Papa als Weihnachtsmann verkleidet, Fotos aus Spanien, Italien, unser Bus. Und immer lachen wir alle. Lustige Kommentare und Anekdoten untermalen die Bilder. Das ist mein Leben! Wie konnte ich nur so verblendet sein und all die Jahre nicht merken, dass ich die allerbesten Eltern der Welt habe? Wie konnte ich ihnen nur so wehtun.
Nach einer weiteren Stunde mit viel Zeit zum Nachdenken klingelt es wieder an der Tür. Ich schlurfe benommen hin und öffne. Im Türrahmen steht Joachim wie ein begossener Pudel, in der Hand Tankstellen-Blumen und ein Geschenk. Entschuldige. Ja, ja. Mir fehlt jegliche Energie. Joachim erklärt sich wortreich und schuldbewusst.
Gesas Mutter ist schwer herzkrank und durfte deshalb nichts von der Scheidung von Joachim und Gesa erfahren. Sie hatte für Heiligabend überraschend ihren Besuch angekündigt, und Gesa hatte Joachim bekniet, noch einmal den treu sorgenden Ehemann zu mimen. Nach all den Jahren habe er nicht anders gekonnt. Dann sei die Mutter immer länger und länger geblieben, hätte ihn so in Beschlag genommen, dass er nicht flüchten konnte, und um elf habe er endlich verschwinden können. Joachim guckt mich angstvoll an, und ich lächle. Ich bin dir nicht böse. Komm, setz' dich. Hast du noch Hunger? Weißt du, was? Wir fahren morgen zu meinen Eltern.
Zu deinen was? Joachim kriegt große Augen. Ich dachte, deine Eltern wären tot. Du dachtest, sie wären tot? Wieso das denn? Ja, weil du nie von ihnen erzählt hast. Ich war doof. Schau' mal, sie waren heute hier und haben mir ein Fotoalbum geschenkt. Ich zeige Joachim mein Leben auf Bildern. Das bin ich da, in dem grün-gelb gestreiften Wollkleid. Ja, meine Mutter raucht da auf dem Bild einen Joint. Und stell dir vor, sie kifft immer noch. Du wirst überrascht sein, wie bunt unser Haus ist.
Am nächsten Tag haben wir uns auf den Weg gemacht und meine Eltern überrascht. An der Schwelle bin ich meiner Mutter heulend in die Arme gefallen und habe ihr ins Ohr geweint, ich liebe euch doch so. Über den Heiligabend haben wir nicht mehr geredet. Doch ich weiß, dass meine Eltern verstanden haben. Ich habe sehr lange dazu gebraucht, aber nun bin ich wirklich erwachsen. Und kann wieder die Tochter meiner Eltern sein.
Joachim hat alles über sich ergehen lassen. Er hat in einem indischen Kaftan mit mir und den Freunden meiner Eltern den Mondscheintanz getanzt (na ja, mit den Armen gewackelt), geduldig den endlosen Ausführungen meines Vaters über die optimalen Anbaubedingungen von Cannabis gelauscht und gemeinsam mit meiner Mutter einen Aschenbecher getöpfert. Meine Ängste, dass er mich verlassen könnte, wenn er meine verrückten Eltern trifft, waren völlig unbegründet. Er findet sie richtig amüsant, sagt er, und dass ich erst abwarten soll, bis ich die Marotten seiner Eltern kennen lerne. Seine Mutter habe eine Prinzessin-Diana-Sammlung, die sich mittlerweile auf drei Zimmer erstrecke und sein Vater verbringe jede einzelne Nacht vor seinem Tchibo-Teleskop in der Hoffnung, einen neuen Kometen zu entdecken.
Damit hat Joachim mir gezeigt, dass er mein Mann fürs Leben ist.
Auch wenn die Leute in der Uni nie erfahren werden, dass wir ein Paar sind und er vielleicht nächstes Weihnachten wieder Gesas Ehemann spielen wird.
Mit dem Glückskeks-Ring werde ich Joachim an Silvester überraschen, wenn wir wieder zu Hause sind. Wir wollen den Abend zu zweit alleine feiern. Joachim sagt, er braucht unbedingt einen ruhigen Abend nach dem Plapper-Marathon bei meinen Eltern. Aber er freut sich schon auf den nächsten Besuch. Ich auch.



Eingereicht am 02. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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