Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Spuren des Glücks

© Markus Büssecker


Seit seine Frau vor fünf Jahren überraschend verstorben war, hatte er zu vergessen begonnen, was Glück denn eigentlich war. Nach seinem vor elf Monaten erlittenen Schlaganfall war Glück für ihn kaum mehr als eine schwache Erinnerung. Vor acht Tagen war er schließlich in das städtische Seniorenheim eingeliefert worden. Nun kennt er Glück überhaupt nicht mehr.
Da sitzt er jetzt, gefesselt an seinen Rollstuhl und starrt durch das Fenster in die Leere. In seinem Kopf spuken lediglich graue Schatten, verzerrte Gedanken, vage Konturen herum. Man sieht einen verbitterten Menschen im Winter seines Lebens. Draußen ist es auch Winter. Das Pflegepersonal hat es aufgegeben, ihn in die Seniorengemeinschaft zu integrieren. Man lässt ihn besser allein. Die Verwandten sind seit seiner Einlieferung nicht erschienen. Einmal war jemand am Telefon gewesen. Hastig hervorgebrachte Entschuldigungen drangen aus dem Hörer; der Beruf, die Kinder und überhaupt war das Leben kein Zuckerschlecken. Man hat keine Zeit für ihn.
Da sitzt er jetzt, gefesselt an seinen Rollstuhl und starrt durch das Fenster in die Leere. Plötzlich trifft ein Sonnenstrahl das Fenster. Sein Licht bricht sich an der Scheibe und ein Regenbogen ergießt sich in den Raum. Die Sonne hat der dunklen Wolkenmasse getrotzt und einen goldenen Pfeil ihres Lichts durch das Himmelsgrau geschickt. Ist das das Zeichen ein er höheren Macht? Auch das Gedankengrau des Mannes wird durchbrochen. Seine Wahrnehmung ist wieder klar. Als hätte jemand die dünne Eisschicht auf einem gefrorenen See mit einem Pickel durchschlagen. Er sieht die Farben. Er beginnt sich wieder zu erinnern.
Es war an Weihnachten 1931 gewesen. Damals hatte er als fünfjähriger Steppke zum ersten Mal in seinem Leben Schokolade gegessen. Sein Vater hatte sie in der Stadt gekauft. Die Tafel war in einem karmesinroten Papier mit goldener Schrift verpackt. Ganz vorsichtig öffnete der Junge sie im Glanze der Kerzen des Weihnachtsbaumes. Er wollte die Verpackung unbedingt später aufheben.
Dann war die Tafel vor ihm gelegen. Es waren insgesamt 100 Gramm, verteilt auf sechs Rippen zu je vier Stücken. Goldenbraun leuchteten sie ihm entgegen. Er brach vorsichtig ein Stück ab und schob es in seinen Mund. Er traute sich gar nicht zu kauen. Wie ein Bonbon begann er die Schokolade zu lutschen. Der Geschmack lag im heute noch auf der Zunge. Er war einfach unbeschreiblich gut. Ihm war es unbegreiflich, welcher Mensch eine solche Köstlichkeit herstellen konnte. In diesem Moment hatte er bereitwillig an das Christkind und seine himmlische Weihnachtsbäckerei geglaubt. Er fühlte sich zufrieden, von einer inneren Wärme ergriffen. Er war glücklich gewesen.
Sein Vater hatte ihn angelächelt. Da beginnt er sich wieder an Glück zu erinnern.
In den dunklen Kriegsjahren, es muss entweder '40 oder '41 gewesen sein, hatte er sich zum ersten Mal richtig verliebt. Auf jeden Fall war es Sommer gewesen. Damals hatte er mit seiner Familie den Bauernhof von Onkel und der Lüneburger Heide besucht. Aus allen Teilen Deutschlands war Verwandtschaft zugegen. Unter anderem Familie Müller aus Ludwigshafen mit ihrer Tochter Maria. Sie war ein Jahr jünger als er. Das Bild von ihr war nach wie vor lebendig in ihm. Der tadellos weiße Rock mit den unzähligen Rüschen passte überhaupt nicht zu ihr. Sie wirkte darin eher wie eine Puppe, viel zu künstlich. Trotzdem trug ihr zierliches Gesicht ständig ein fröhliches Lächeln und ihre grünen Augen blitzte es nur so von Lebensfreude. Ja, grün waren sie gewesen. Der strenge Zopf konnte nur schwer ihr dunkelbraunes Haar bändigen. Immer wieder wollten sich einzelne Strähnen selbstständig machen.
Maria selbst war schwer in Zaum zu halten. Wie oft wurde sie von Vater oder Mutter gescholten. Sie war wild und ungestüm, fast schon ein Junge. Das alles hatte ihm nicht das Geringste ausgemacht. Es musste wirklich Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Ein personifizierter Lichtschein auf Erden.
Die folgenden Nächte konnte er vor Aufregung kaum schlafen. Er wusste nicht, was er sagen, wie er sich überhaupt nähern sollte. Die Schmetterlinge im Bauch flatterten so wild durcheinander, dass ihm ständig schlecht war. In Gedanken war er immer bei ihr, überhaupt nicht bei der Sache. Wie viele Rügen hatte er sich damals bei der Ernte eingehandelt. Die von ihm geworfenen Heuballen verfehlten ständig die Ladefläche des Wagens. Der Mann muss lächeln. An einem Ausflugstag zu einem nahe gelegenen Badesee sammelte er schließlich seinen ganzen Mut und sprach sie einfach an. Er musste sehr lächerlich gewirkt haben, doch sie ließ sich rein gar nichts anmerken. Die folgenden Stunden waren wundervoll, die besten während dieser Tage, ach was, während des ganzen Krieges. Am Abend küsste sie ihn ganz unvermutet. Es war nur ein Kuss auf die Wange gewesen, aber er hatte sich der Ohnmacht nahe gefühlt. In seiner Verlegenheit war er stotternd und mit hochrotem Kopf davongelaufen. Nachts fand er keinen Schlaf. Er fühlte sich unwirklich gut.
Er war glücklich gewesen. Da hat er wieder eine Vorstellung von Glück.
Am siebten März 1951, exakt vier Minuten nach 23 Uhr war seine Tochter Stefanie geboren worden. Sie kam viel früher als erwartet, mehr als eine Woche. Seit der Einlieferung seiner Frau war er ihr nicht mehr von der Seite gewichen. Er hatte sogar extra Urlaub genommen und selbst ein Quartier im Krankenhaus bezogen. Wie oft hatte sich seine Frau über ihn amüsiert. Der stets einen kühlen Kopf bewahrende, rationale Ehemann saß nervös am Bettrand. Sein ständig fragender Blick entlockte ihr immer wieder ein Schmunzeln. Er konnte vor Aufregung überhaupt nicht lachen. Obwohl die Krankenschwestern anboten ihn abzulösen, nahm er dieses Angebot nur selten war. Gegen 22 Uhr setzten dann die Wehen ein. Eine Schwester überraschte ihn mit der Nachricht bei einer Tasse Tee an. Prompt verschluckte er sich und verbrannte sich gleich noch seine Zunge. Wie ein geölter Blitz war er zum Entbindungssaal in der benachbarten Station gerannt. Einzutreten hatte er sich letztlich doch nicht gewagt. Stattdessen begann er den Flur auf und ab zu wandern. Im kalten Schein der Neonröhren wurde ihm bewusst, dass er nicht länger nur Ehemann sein würde. "Vater", ein Wort, an das er sich erst noch gewöhnen musste. Jede vorbeieilende Schwester überhäufte er mit Fragen. Aber das Frühchen ließ jetzt auf sich warten. An diesem Abend hatte er Angst gehabt, dass der Teppich unter seinen Sohlen Feuer fangen könnte, als Ergebnis seiner unzähligen Runden. Die Tür öffnete sich. Beinahe wäre er über seine eigenen Füße gefallen. "Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Mädchen." Für eine Antwort war ihm keine Luft geblieben. Er betrat das Zimmer, sah seine erschöpfte, aber lächelnde Frau. Dann erst sah er sie. Ein kleines rosarotes Bündel in einem weisen Tuch. Ganz ruhig war sie gewesen.
Behutsam gab man sie ihm. Und in dem Augenblick, in welchem er zum ersten Mal stolzer Vater gewesen war, war er unendlich glücklich gewesen. Da weiß er wieder was Glück ist. Eine Träne läuft ihm die Wange hinab.
Da sitzt er jetzt, gefesselt an seinen Rollstuhl und sieht durch das Fenster den schillernden Regenbogen seines Lebens.



Eingereicht am 28. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» HOME PAGE «««