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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Revanche

© Ilse Goergen


Einer plötzlichen und nicht erklärbaren Intuition folgend, setzte sie sich senkrecht im Bett auf. Sie konnte nicht ausmachen, wie lange es her war, dass sie die Augen aufgeschlagen und in die Dunkelheit gestarrt hatte. Sie verharrte noch einen Moment, versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, dann schaltete sie das Licht ein. Sie brauchte nicht nachzusehen, sie wusste instinktiv, dass der Platz neben ihr leer war. Sie fühlte Übelkeit aufsteigen und kämpfte dagegen an. Dann stand sie auf. Ein kurzer Blick in jeden Raum der Wohnung verschaffte ihr die Gewissheit, dass er das Haus verlassen hatte. Gerade, als ihr der Gedanke daran, dass er jetzt tatsächlich gegangen sein könnte, allmählich so etwas wie Erleichterung verschaffte, wurde ihr schlagartig bewusst, was sie vorhin so plötzlich aus dem Schlaf gerissen hatte. Sie sah wieder die Bilder aus ihrem Unterbewusstsein vor sich, und sie wurde von Panik ergriffen. Sie betrat das Kinderzimmer und spürte es sofort: Annemarie war nicht hier.
Sie schlug die Hände vors Gesicht und unterdrückte einen Schrei.
"Gründe zu gehen, hatte ich viele. Wenn da nicht die Kleine gewesen wäre, wissen Sie? Wenn Kinder im Spiel sind, dann überlegt man sich so etwas mehr als einmal. Und mehr als einmal bleibt man doch. Weil man es den Kindern nicht zumuten möchte, sie aus dem Schlaf zu reißen, aus ihrer gewohnten Umgebung, und ... aus ihrem ganzen bisherigen Leben." Claudia nickte und schob der aufgeregten jungen Mutter eine dampfende Tasse Tee zu. "Trinken Sie etwas. Das wird Ihnen gut tun." "Danke." Lena umschloss die heiße Tasse mit beiden Händen, um das Zittern ein wenig zu unterdrücken. Doch ihre Unterlippe bebte ständig. Sogar, wenn sie sprach. "Das war die Frage, die ich mir immer wieder gestellt habe: Besser keinen Vater - oder einen Vater um jeden Preis?" Die Tür wurde geöffnet. Ein Polizist in Zivil streckte den Kopf herein: "Alles klar? Können wir gleich?"
"Einen Moment noch, ja? Frau Rausch trinkt erst noch ihren Tee." Claudia warf dem Beamten einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete, und er verstand. "Wenn Sie dazu in der Lage sind, dann können Sie dem Kommissar gleich erzählen, was passiert ist, ja? Setzen Sie sich nicht unter Druck, und ich werde dafür sorgen, dass auch kein anderer das tut. Erzählen Sie einfach, woran Sie sich erinnern." Lena Rausch nickte. "Er hat zwei Gesichter, wissen Sie? Das, welches er nach außen präsentiert, ist freundlich, stets hilfsbereit, treu sorgend. Aber ich habe auch das andere Gesicht gesehen. Immer wieder. Das, vor dem ich große Angst habe." Sie zögerte, und Claudia nutzte den Moment, um zu einer Frage anzusetzen: "Sie sprechen von Angst. Hatten Sie möglicherweise eine Ahnung, dass ..." "... dass er zu so etwas fähig wäre?" Lena fiel ihr ins Wort, als hätte sie auf diese Frage bereits gewartet: "Ich hatte berechtigte Gründe dafür. In erster Linie wegen dieser Angst bin ich noch bei ihm geblieben, verstehen Sie? Nur deshalb. Ich habe kaum einen Ausweg aus dieser Hölle gesehen", sie zögerte einen Moment, bevor sie Claudia ansah und weiter sprach: "Er hat ja auch immer versprochen, dass er sich ändert. Ich habe ihm geglaubt. Immer wieder geglaubt. Viel zu oft. Viel zu lange." Claudia nickte, griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. "Und jetzt wollten Sie sich endlich befreien?" "Ja. Ich hatte mir Hilfe gesucht und gefunden. Bei einer Psychologin im Frauenhaus." Lena trank den Tee, starrte dann einige Momente lang in die leere Tasse. Ganz plötzlich sagte sie nüchtern: "Rufen Sie den Polizeibeamten, dann bringe ich es hinter mich." Im gleichen Moment öffnete sich die Tür erneut, diesmal war es ein uniformierter Polizist, der hereinplatzte: "Wir haben ihn gefunden." Er nahm seine Dienstmütze ab, und Lena kam weiteren Worten zuvor: "Ist er ... er ist tot, nicht wahr?" Sie hatte diese Frage nur geflüstert. Der Polizeibeamte zögerte, dann nickte er bedauernd. "Ja." Woraufhin ihm die Polizeipsychologin einen strafenden Blick zuwarf und kaum merklich den Kopf schüttelte. Lena atmete innerlich auf, ihre Gesichtszüge jedoch verrieten keine Gefühlsregung. Sie umklammerte die Tasse fester, schloss einen kurzen Moment die Augen. Dann begann sie zu erzählen. Wie sie aufgewacht und durch die Nacht gefahren war, voller Panik, und mit dieser Ahnung, die bald Gewissheit werden sollte. Und mit diesem inneren Kompass, der sie leitete. Sie wusste genau, was in ihm vorging: Wenn sie, Lena, ihn nicht mehr wollte, dann sollte sie auch das Kind nicht haben. Seine Tochter würde er sich so ohne Weiteres nicht wegnehmen lassen. Die würde er mitnehmen. Lena kannte seine Einstellung, oft genug hatte er sie damit konfrontiert, viel zu lange hatte sie sich damit von ihm unter Druck setzen lassen. Jetzt tauchte sie wieder in diese gespenstische Szene ein und schilderte, wie sie ihn mit Annemarie auf dem Geländer der Brücke hatte stehen sehen, unter ihnen nichts als felsiger Abgrund. Lena sah, wie der Wind Annemaries Haar zerzauste, wie ihr Nachthemdchen sich aufplusterte, ihr war sogar kurz der bizarre Gedanke gekommen, dass das arme Kind frieren musste, die zarten Füßchen so nackt auf dem kalten Brückengeländer, und sie hörte immer noch seine Stimme: "Wir werden fliegen, hörst Du? Wir fliegen einfach davon, komm'!" Im gleichen Moment zogen die Wolken vor dem Vollmond weiter und ließen die Nacht für den Bruchteil einer Sekunde beinahe taghell erscheinen. Lena konnte sehen, wie er nach der Hand der Dreijährigen greifen wollte, und wie die jedoch unwillig den Kopf schüttelte, die Ärmchen fest und ängstlich an den kleinen Körper gepresst. "Ich zeige es dir, schau!" Er breitete demonstrativ beide Arme aus und lachte Annemarie hysterisch an. "Siehst du? Das geht ganz leicht! Komm her, ich nehme dich einfach mit." Jetzt stockte Lena in ihrer Erzählung, holte tief Luft, starrte weiter nur in ihre Tasse und ordnete ihre Gedanken. Keiner der Anwesenden drängte sie dazu, weiter zu sprechen. Die Zeit schien einen Moment lang stillzustehen. Alle hielten den Atem an. Lena hatte die Bilder klar vor Augen, doch sie sprach nicht weiter.
Denn als sie ihre Chance erkannt hatte, hatte sie sich urplötzlich aus ihrer Regungslosigkeit befreit, war blitzschnell hinter dem Fahrzeug hervorgesprungen und auf die beiden zugelaufen, hatte Annemarie panisch von dem Geländer heruntergerissen und ihrem Mann noch ein letztes Mal hasserfüllt in seine, vor Entsetzen aufgerissenen, fragenden Augen gestarrt, während sie ihre flachen Handflächen gegen ihn erhob. "Du kannst doch fliegen!", waren die letzten Worte gewesen, die sie ihm mitgegeben hatte, als er durch ihren Stoß das Gleichgewicht verlor. Sie hatte ihm nicht nachgesehen, hatte sich sofort dem Kind zugewandt, das noch dabei war, wieder aufzustehen, hatte der Kleinen mit beiden Händen die Ohren zugehalten, solange sein Schrei zu hören war. "Mama!" Sie hatte Annemarie fest in die Arme genommen und erst dann die Gefahr realisiert, in der die Kleine noch vor wenigen Sekunden gewesen war. "Komm', wir wollen weg hier, mein kleiner Trotzkopf." "Der Papa sagt, er kann fliegen!" "Ja. Und das wollen wir ganz schnell der Polizei erzählen."
Lena wählte ihre Worte jetzt sehr genau: "Ich habe es nicht zugelassen. Ich habe nicht zugelassen, dass er sie mitnimmt." Sie biss auf sich auf ihre Unterlippe. "Ja, und dann muss er wohl gesprungen sein." Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen starrten ins Leere. "Oder abgerutscht. Ich weiß es nicht. Ich war nicht mehr dabei." "Sie haben also nicht gesehen, ob er gesprungen ist?" "Nein. Ich wollte nur noch das Eine: Weg! So schnell wie möglich mit Annemarie in Sicherheit. Ich habe sie an mich gerissen und fortgezerrt. Nur schnell weg von dort, verstehen Sie? Ich habe mich nicht mehr nach ihm umgedreht." Sie sah zum ersten Mal während des Gesprächs auf. "Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Darf ich jetzt bitte zu meinem Kind?"



Eingereicht am 27. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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