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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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13. Oktober

©Dr. Helga Thomas

Am 13. Oktober 1957, es war ein Sonntag, klopfte oder klingelte es ziemlich früh an unserer Wohnungstür. Meine Mutter erschrak. Im Moment erschrak sie immer, wenn es unerwartet bei uns klingelte. Das hing mit meinem Vater zusammen, der seit einem Monat bei meinen Großeltern lebte (was offiziell niemand wusste). Er galt als republikflüchtig. Meine Mutter musste anscheinend Angst haben, dass sie uns eines Tages abholen. Warum bloß?
Schließlich hatte sie ihn ganz offiziell abgemeldet, seinen Abschiedsbrief vorgelegt. Ich weiß noch, dass sie beim Abfassen des Briefes furchtbar weinte. Auch als sie ihn erhielt, weinte sie furchtbar. Meine Mutter hasste Lügen und in der Handschrift meines Vaters wurde der Brief ein Stück Realität, eine Möglichkeit. Heute kann ich sie verstehen. Damals tat sie mir einfach nur furchtbar Leid und ich bedauerte es, dass ich ihr Leben nicht erleichtern konnte, aber ich hatte mit mir und meinem Leben zu tun, auch ich litt am nahen Abschied und die Zukunft war mir in keinster Weise vorstellbar. Aber Angst, dass sie uns holen, hatte ich nicht. Noch nicht.
Sie kam erst später und dann vor allem nachts, in den Träumen. Am 13. Oktober meinte ich, dass wir zu unbedeutend seien um geholt zu werden.
Der Blockwart informierte meine Mutter und meine Mutter informierte mich: Alles Geld muss heute umgetauscht werden (sie wusste auch schon wo). Ab heute war neues Geld gültig. Im Radio sagten sie dasselbe. Aus diesem Grund wurden die Grenzen geschlossen, damit kein in West-Berlin gehortetes DDR-Geld umgetauscht werden konnte. Also besuchten wir heute Papa und die Großeltern nicht. Ich leerte meine verschiedenen Geldbeutel und Sparbüchsen.
Mir taten die Westberliner Rentner Leid und die armen Familien mit vielen Kindern, die sonntags gern ihren Ausflug in den Osten machten. Sie hatten das dafür notwendige Geld sicher schon am Sonnabend eingetauscht und nun war es verloren. Das kam mir gemein und betrügerisch vor. Was aber den zahlreichen Wechselstuben geschah und den Banken, schien mir ein Zeichen ausgleichender Gerechtigkeit. Vier Mark mussten wir zahlen für eine West-Mark!
Ich weiß nicht, ob ich mir Gedanken wegen der Großeltern machte. Sie hatten sicher kein Ost-Geld. Ob Mama versucht hatte, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen? Vielleicht riefen ja auch sie von der Telefonzelle aus an, schließlich hörten sie ja auch Radio wie wir. Mama war aufgeregt, aber das war sie bei solchen Dingen immer.
Dann gab es noch Aufregungen wegen ihrer Freundin. Diese hatte mehr Geld als sie eigentlich haben könnte und wusste nun nicht, wie sie es tauschen konnte. Das waren die Alimente für ihre Tochter. Der Vater, der in West-Berlin lebte zahlte offiziell ganz wenig, das wurde 1 zu 1 getauscht und den anderen Teil zahlte er auf ein Konto in West-Berlin. Und von dort holte sie Geld und tauschte es, wenn sie was brauchte. Das war übrigens in meinen Augen auch kein Betrug. Einen Teil von dem Geld bekam ich (auf einer Damentoilette, damit wir sicher waren, dass keiner was bemerkt hatte). Mama schärfte mir ein, was ich sagen sollte, falls man mich fragt. Ich solle sagen, ich hätte es von meiner Konfirmation gespart. Ob man es mir glauben würde? Denn natürlich wäre ich nie so blöd gewesen, so viel Geld zu Hause liegen zu lassen! Ich hätte es aufs Sparbuch getan. Aber zum Glück fragte mich keiner. Die Leute dort hatten auch alle Hände voll zu tun. Und eine unangenehme Stimmung war in der Luft!
Schließlich hatten wir alles gut überstanden, aber da überfiel mich eine rasende Wut. Eine Wut, von der ich heute weiß, dass sie den friedlichsten Bürger in einen Terroristen wandeln kann. Die Wut steigerte sich noch, als ich am nächsten Tag meinen Vater hörte. Für ihn war das keineswegs eine raffinierte (und verständliche) Geldumtauschaktion. Es war eine Generalprobe. Angefangen habe es am 17. Juni. Das nächste Mal sei dann endgültig, dann sei die Grenze zu und Berlin wirklich geteilt. Wie Recht er doch haben sollte, sah ich eigentlich erst vor einigen Jahren. Vier Jahre vor der unerwarteten Geldumtauschaktion war der 17. Juni, vier Jahre danach im August begann der Mauerbau.
Ohnmächtig war ich in meiner Wut. So musste sich mein geliebter Schiller gefühlt haben, als er die Arbeit an den Römern begann. Da hatte ich die zündende und erlösende Idee: Ich muss ein Drama schreiben. Schon sah ich es im Konzept vor mir, ich begann mit der Arbeit. Einiges schrieb ich auf, das Meiste blieb im Kopf. Vielleicht schreibe ich ja doch mal die Biografie meines Schreibens (schon oft gedacht), da werde ich alle wichtigen, nicht geschriebenen Werke beschreiben. Nur so viel sei jetzt erwähnt: Das Drama ist eigentlich ein Ein-Personen-Stück, wobei die eine Person sich in drei aufspaltet. Drei junge Mädchen verschiedener Herkunft leben zusammen, sie sind alle in (verschiedenen) Ausbildungen. Eine ist eine kämpferisch überzeugte Kommunistin, die Andere ist die Intellektuelle, die besonnene Philosophin, die anderen Idealen nachstrebt. Manchmal tauschen sie die Rollen, dann ist die Kommunistin kühl, sagt lieblos ihre Parolen und die Andere kämpft für die Freiheit. Zwischen Beiden vermittelnd ist die Dritte, die eher Naive, Tatkräftige, die nicht viel denkt, aber umso mehr tut. Für sie zählt nicht die Überzeugung, sondern der Mensch. Sie ist tatkräftig, hilfsbereit und doch oft verträumt. Die Künstlerin, die mit Liebe eine neue Welt schaffen will. Letztendlich zerbricht sie an ihrer Aufgabe, sie nimmt sich selbst das Leben, aber vielleicht war es ja auch ein Unfall. Am Grab finden sich die beiden anderen Freundinnen wieder, sie wollen im Sinn der Freundin die Welt ändern. Da kommt der Verdacht auf, dass diese Freundin vielleicht umgebracht wurde … Ich kaufte mir ein Heft, schrieb einiges schon hinein, manches blieb als Konzept auf losen Zetteln. Als Titel schrieb ich vorne auf den Umschlag:
"13. Oktober 1957". Dieser Tag hatte durch verschiedene Umstände das friedliche Leben der Mädchen durcheinander gebracht. In Gedanken schrieb ich an dem Drama als wir Berlin schon längst verlassen hatten. Es sollte mein Beitrag für eine zukünftige Einheit Deutschlands sein. Da überlegte ich mir, dass ich den Titel ändere, nur: 13. Oktober. Wer Bescheid wüsste, würde verstehen, für die Anderen war es nur ein Datum. Als ich es mir vorstellte, lief es mir kalt den Rücken runter. Ich wusste nicht warum.
30 Jahre später fuhr mir ein anderer 13. Oktober in die Glieder. Ich war gefallen, hatte mir eine böse Knieverletzung zugezogen, musste ruhen und hatte nun die Zeit, all die Gralsbücher zu lesen, die ich schon lange hatte lesen wollen, auch das Buch, das mir am ersten Tag der Ferien buchstäblich vor die Füße gefallen war. Im Zusammenhang mit dem Gral stieß ich auch auf die Templer. Da lief es mir wieder kalt den Rücken runter, als ich las: 13. Oktober. Aber nun wusste ich, warum: Am 13. Oktober 1307 wurden laut Geheimbefehl Philips IV., Königs von Frankreich, die Templer seines Landes vorm Morgengrauen verhaftet. Auch da ging es um Geld und Machtdemonstration, oder?


Eingereicht am 19. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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