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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Schlüssel

©Louis Jent

Als seine Freundin gestern Abend den Schlüssel zu ihrer Wohnung zurückverlangt hatte, griff Ralph in seine Jackentasche und warf ihn, als würde er eine Trumpfkarte ausspielen, auf den Tisch. Er war darauf vorbereitet und hatte rechtzeitig eine Kopie anfertigen lassen. Für alle Fälle.
Bevor er bei ihr aufkreuzte, hatte er Lydia in ihrem Friseursalon angerufen und eine Unterredung verlangt. Zwei Wochen waren es nun her, dass sie ihm gestanden hatte, einen anderen Mann kennen gelernt zu haben, und seither hatte sie nichts mehr von sich hören lassen. Bis auf einen nächtlichen Anruf drei Tage später. Nur um ihm zu sagen, sie bräuchte noch etwas Zeit, weil sie sich erst über alles klar werden müsse, womit sie die acht Jahre ihrer Beziehung meinte und ihre Gefühle gegenüber dem Macker, der da plötzlich am Horizont aufgetaucht war. Folglich war Ralph nichts anderes übrig geblieben als selbst anzurufen.
"Heute geht es schlecht", hatte sie mit gleichgültiger Stimme gesagt, "ich habe um acht eine Verabredung." Der Abend war also bereits von diesem Macker gebucht. Da war sie aber bei Ralph an den Falschen geraten.
"Hör mal", sagte er, "so kannst du mit mir nicht umspringen. Seit zwei Wochen warte ich auf ein Lebenszeichen von dir. Jetzt lass uns endlich reinen Tisch machen, und zwar heute."
"Wenn du meinst", sagte sie schließlich, "aber ich muss um acht gehen, und vorher muss ich mich noch umziehen. Ich kann etwas früher Feierabend machen, dann bin ich um halb sieben zu Hause."
Kurz vor sieben läutete Ralph an der Wohnungstür. Lydia trug das schwarze Dessous mit den rotbraunen Spitzen, als sie ihm die Tür öffnete. Ihr frisch gewaschenes dunkles Haar klebte noch feucht am Kopf, ein paar steckige Strähnen fielen in ihr blasses ausdrucksloses Gesicht. Ralph konnte keine Spur von Wiedersehensfreude in ihren Augen entdecken, während sein Herz bis zum Hals klopfte, als er sie im Türspalt sah. Er fasste sie an den Schultern und wollte sie auf den Mund küssen, aber sie dreht ihren Kopf weg und seine Lippen trafen auf ihre kalte Wange. "Komm schon", sagte sie und schloss die Tür hinter sich. Dann ging sie ins Badezimmer, ließ aber die Tür offen und sagte: "Mach dir einen Drink, ich bin gleich so weit."
"Wenn deine Zeit so kostbar ist, bleibe ich lieber hier", sagte Ralph und stellte sich in den Türrahmen. Seine Augen ruhten auf dem sanften Schwung ihrer Taille und dem schwarz glänzenden Hintern unmittelbar vor ihm, und während er aufblickte, sah er wie sie im Spiegel das Haar zurückstrich und damit begann, Make-up aufzutragen. Sie verteilte es in kleinen Tupfen über Stirn und Wangen und verrieb es dann kreisförmig mit beiden Händen, während die nach außen stehenden angewinkelten Arme sich dabei hoben und senkten wie schlagende Flügel. Wie sie so dastand, kam sie Ralph vor wie ein flammender Beweis für die Unmöglichkeit, sich je von ihr zu trennen. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Schulter. Dann öffnete er die Lippen und leckte mit der Zunge ihre salzige Haut, wie eine Katze, die zeigen will, dass sie sich einer anderen in guter Absicht nähert. Aber Lydia unterbrach ihre Verschönerungsarbeit nicht, er spürte ihr Schulterblatt an seiner Wange, das sich im Takt der kreisenden Hand bewegte. Er trat noch einen Schritt näher, und während er sie von hinten umarmte, presste er sich an sie. Seine Hände glitten über ihre Brüste nach unten, bis er ihre straffen Schenkel zu fassen kriegte. Er zog sie an sich und verstärkte den Druck seiner Lenden. Wie oft hatte er schwelende Konflikte, bevor sie richtig ausbrechen konnten, auf diese Weise aus dem Weg geräumt.
Lydia jedoch stand noch immer bocksteif da. Er küsste ihren Nacken und sah mit einem Auge, wie sie sich die Haut mit einem Gesichtstüchlein abtupfte. Während seine Hände, das Dessous mitziehend, weiter nach oben rückten, nahm Lydia den Lippenstift und strich damit über ihre gespannte Unterlippe. Er nestelte an ihrem Höschen und war gerade daran, es über die Hüften nach unten zu ziehen, als ihr Ellenbogen nach hinten stieß.
Sie hatte kräftig ausgeholt und ihn an der Lippe getroffen, obwohl er instinktiv nach hinten ausgewichen war. Entgeistert starrte er in den Spiegel, wo er sein schmerzverzerrtes Gesicht neben dem ihren sah. Sie hatte den Lippenstift noch in der Hand, und dort, wo bei ihm Blut von der Lippe tropfte, hatte der Lippenstift eine rote Spur quer über ihr Kinn gezogen. Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. Für einen Augenblick wurde ihm bewusst, dass eine hässliche Art von Komik in dieser Szene lag, etwas, über das man hätte lachen können, wenn man nicht selbst darin verwickelt wäre. Lydia schien es überhaupt nicht Leid zu tun. Ohne sich nach ihm umzuwenden, hielt sie ihm ein Kleenex hin. Er nahm es und ging wortlos aus dem Badezimmer.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer überlegte er, ob er sich nicht doch einen Drink machen sollte. Aber dann dachte er an seine verletzte Lippe und setzte sich an den Tisch, um auf Lydia zu warten. Vor dem Fenster zog die Abenddämmerung herauf, und der fahle Schein einer Straßenlampe spielte in den Falten der Gardinen. Dahinter das Atmen der Stadt. Die an- und abschwellende Geräusche vorbeifahrender Autos, ein durch das geschlossene Fenster gedämpftes Sirren, Stottern und Röhren. Dazwischen das klagende Schleifen der Straßenbahn bei ihrem kurzen Auftritt zwischen den Häuserfluchten. Ralph warf einen Blick auf das Sofa. Lydias Mantel lag über der Lehne. Das ist der Beginn einer Katastrophe, dachte er.
Lydia trat ins Wohnzimmer. Ihre Haarspitzen hatte sie mit Lockenwickler einwärts gerollt. Sie zündete sich eine Zigarette an.
"Also, was willst du von mir", sagte sie, "weshalb bist du hergekommen?
"Warum wohl", sagte er und tupfte seine Lippen mit dem Kleenex ab. Noch immer floss Blut. Sein Blut. "Ich will endlich wissen, woran ich bin mit dir."
Sie machte ein paar Schritte zum Fenster und sah hinaus auf die Straßenlampe. Es war jetzt fast dunkel im Zimmer.
"Das ist nicht so einfach zu beantworten", sagte sie, "ich wollte mir Zeit lassen, ich wollte nichts überstürzen. Man kann acht Jahre nicht einfach wegwischen."
"Nein, das kann man nicht", sagte Ralph.
Sie drehte sich zum Tisch, auf dem ein Aschenbecher stand, und streifte die Asche ihrer Zigarette ab. Dann zog sie daran, und Ralph sah, wie das Zigarettenende aufglühte und sich für einen Moment lang ein rötlicher Schimmer auf ihr Gesicht legte.
"Ich habe dich einmal geliebt", sagte sie mit effektvoller Gelassenheit. Als würde ihr das Perfekt allein nicht genügen, sprach sie den Satz in den Zigarettenrauch, der wie eine Sprechblase aus ihrem Mund zur Zimmerdecke stieg. "Ich wollte sogar ein Kind von dir", fuhr sie fort, "aber du hast mich immer nur hingehalten. Du hast dir wohl gedacht, vielleicht läuft mir eines Tages noch etwas Besseres über den Weg. Und jetzt platzt du plötzlich hier rein und willst wissen, woran du mit mir bist." Ihre hübsch kleine Nase zuckte. Sie hob das Kinn an, als sie den Zigarettenrauch ausblies.
"Ich bin jetzt neununddreißig", sagte sie, "das ist ein Jahr vor vierzig. Und in den letzten Jahren habe ich mir die ganze Zeit über genau diese Frage gestellt."
"Welche Frage?"
"Welche Frage!", schnaubte sie und verdrehte die Augen. "Woran ich mit dir bin!"
"So kann man nicht miteinander reden", sagte Ralph. "Ich stelle dir eine Frage, aber statt dass du sie beantwortest, stellst du mir eine Frage, zudem haargenau die gleiche. Was soll denn dabei herauskommen? Was versprichst du dir davon? Doch nicht etwa ein ernsthaftes Gespräch?"
"Ich habe deine Frage sehr wohl beantwortet", sagte Lydia, "und zwar, indem ich dich gebeten habe, mir etwas Zeit zu lassen. So wie du dir Zeit gelassen hast all die Jahre. Vielleicht habe ich dir diese Frage früher nicht mit den gleichen Worten gestellt. Vielleicht habe ich dich gefragt, ob ich bloß ein Zeitvertreib für dich bin oder ob es für dich nicht einfach bequem ist, mich anzurufen, wenn du gerade Lust hast, mit einer Frau zu schlafen."
"Ich erinnere mich nicht, dass du mir jemals eine solche Frage gestellt hast, aber wenn es so wäre, hätte ich dir darauf auch eine Antwort gegeben."
"Gut", sagte sie, "nehmen wir einmal an, ich habe dir eine solche Frage nie gestellt, dann liegt auch auf der Hand, dass ich darauf nie eine Antwort bekommen habe. Das ist nämlich der Punkt. Die Frage lag in der Luft, seit wir uns kennen. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob sie gestellt wurde oder nicht. Was mich betrifft, bin ich es einfach leid, in einer Geschichte zu leben, von der ich nicht einmal weiß, ob sie wirklich in mein Leben gehört oder ob sie sich in ein paar Jahren einfach in Luft auflöst und sich als eine höchst überflüssige Episode erweist, an die ich mich nur noch in Wut und Trauer erinnere, weil sie viel zu lange gedauert hat." Sie drückte ihre Zigarette aus.
"So siehst du das also", sagte Ralph, "Wut und Trauer. Und was, meinst du, empfinde ich? Bin ich es denn, der sich irgendeine Tutsi angelacht hat und zwei Wochen lang nichts mehr von sich hören lässt? Du hast einen Kerl, und überlegst, ob du ihn gegen mich eintauschen willst. So sieht die Sache aus. Lass uns darüber reden."
"Ich habe darüber geredet. Ich hätte es dir verheimlichen können. Aber ich wollte fair sein. Vielleicht überlegst du dir mal, wie oft du fremdgegangen bist in all diesen Jahren, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Und wenn ich dahinter gekommen bin, hast du mir lauter Lügen aufgetischt. Gut, ich habe einen anderen Mann kennen gelernt. Das kommt vor. Das Einzige, worum ich dich gebeten habe, war, mir etwas Zeit zu lassen. Aber ich glaube, das erübrigt sich." Sie machte eine unwillige Bewegung. Dann ging sie zur Tür und schaltete das Licht ein.
"Du gibst also zu", sagte Ralph, "dass es eine ernsthafte Sache ist. Fremdgehen ist keine ernsthafte Sache. Das Wort selbst sagt es schon. Man geht in die Fremde und kehrt wieder zurück. Weil man weiß, wo man hingehört."
"Sieh mal an", sagte sie höhnisch auflachend, "das ist das erste Mal, dass du so etwas sagst. Jetzt wo du das Messer an der Brust spürst, gehörst du plötzlich zu mir. So lange wir uns kennen, wusste ich nie, wo ich hingehöre. Und ich bin trotzdem nicht fremdgegangen. An Gelegenheiten dazu hat es nicht gefehlt. Aber ich hab's nicht getan. Ich habe dich nie betrogen. Nicht einmal, als du mit dieser Dingsda eine Woche in Mallorca warst."
"Das sind Jahre her. Komm mir nicht mit diesen Uraltgeschichten. Ich wäre jetzt nicht hier, wenn das damals eine ernsthafte Sache gewesen wäre."
"Ernsthaft! Ernsthaft! Ich höre nur immer wieder dieses Wort. Ernsthaft für wen? Für mich? Für sie? Oder bloß für dich? Bestimmst du, was für andere ernsthaft oder nicht ernsthaft zu sein hat?"
Ralph, der gekommen war, um mit Lydia abzurechnen, sah ein, dass ihm hier ein Kampf mit vertauschten Spießen drohte. Es galt, die Sache auf den wesentlichen Punkt zu bringen. "Wie hast du ihn kennen gelernt?", fragte er.
"Er kam zum Haarschneiden", sagte Lydia.
"Er geht in einen Damensalon, um sich die Haare schneiden zu lassen?"
"Das tust du doch auch", sagte sie, "du lässt dir doch die Haare auch von mir schneiden."
"Das ist etwas anderes", sagte er, "schließlich bist du meine Freundin. Bevor ich dich kannte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, zum Haarschneiden in einen Damensalon zu gehen."
"Er trägt sein Haar lang", sagte Lydia, "etwa so lang wie ich."
Ralph verspürte ein Kippen in der Magengegend. Er selbst ließ sein Haar immer kurz schneiden. Männer mit langen Haaren verunsicherten ihn. Die Irritation rührte daher, dass er sie gleichzeitig verachtete und beneidete. Hinter ihren langen Haaren verbarg sich eine Botschaft an das andere Geschlecht: Ich bin so wie du. Oder: Ich bin nicht so wie andere Männer. Er hatte nie begriffen, warum Frauen auf so was hereinfallen. Genau so wenig, wie er Männer verstand, die auf tätowierte Frauen stehen.
"Da wäre noch die Sache mit dem Schlüssel", sagte Lydia, "ich möchte den Schlüssel zu meiner Wohnung wieder haben."
Damit hatte ihr Gespräch seinen für Ralph nicht ganz unerwarteten Schlusspunkt genommen. Er nahm den Schlüssel aus seiner Jackentasche, legte ihn auf dann Tisch, stand auf und ging. Ohne ein Wort oder eine Geste des Abschieds. Sein starker Abgang, so viel war ihm jetzt klar, stand noch bevor.
Tags darauf fuhr er in der Mittagspause zu Lydias Haus. Er wusste, dass sie nicht in ihrer Wohnung sein würde. Sie ließ sich immer Sandwichs in den Salon bringen, die sie dann im Hinterraum verspeiste, während schon die nächste Kundin auf sie wartete.
Unmittelbar vor dem Haus war ein Parkplatz frei. Ralph setzte den Wagen zurück in die Lücke und blickte zur Haustür. Ein Junge trat heraus und stieg auf ein Fahrrad, das an der Hausmauer lehnte. Er kannte den Jungen nicht, und der Junge hatte ihn wohl auch noch nie gesehen. Trotzdem wandte Ralph sein Gesicht ab und wartete bis die Luft rein war.
Auf dem Weg zur Haustür fingerte er in der Jackentasche nach dem Schlüssel, den er hatte kopieren lassen. Er blickte sich noch einmal um, bevor er ihn ins Schloss steckte. Niemand schien ihn zu beobachten.
Er nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hoch stürmte. Der Schlüssel ließ sich auch im Schloss der Wohnungstür butterweich nach links drehen. Abgestandener Zigarettenrauch drang ihm entgegen, als er eintrat. Das war ungewöhnlich. Lydia rauchte nur, wenn sie aufgeregt war. Zuerst ging er ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch, an dem er gestern abends gesessen hatte, stand ein halbvoller Aschenbecher. Er nahm eine der Kippen heraus und sah sie sich genau an. Sie stammte nicht von der Marke, die Lydia rauchte. Erst jetzt entdeckte er neben dem Aschenbecher einen Zettel, auf dem groß Liebster stand und dann etwas kleiner Ich wünsche Dir einen Tag, so schön wie die vergangene Nacht. Vergiss nicht, die Tür abzuschließen! Über dem i im Wort Liebster war statt des i-Punkts ein Herzchen gezeichnet.
Der Kerl war also einfach liegen geblieben, als Lydia um halb neun die Wohnung verlassen hatte. Nicht zu fassen. Sie hatte sich mit einem Nichtstuer eingelassen, einem faulen Sack, einem Arbeitslosen, einem langhaarigen Drogensüchtigen. Vielleicht, durchfuhr es Ralph, war er noch immer in der Wohnung, lag im Bett und schlief. Oder wartete gespannt auf das, was nun geschehen würde. Ralph legte den Zettel wieder neben den Aschenbecher und ging auf leisen Sohlen zurück in den Flur, um an der Schlafzimmertür zu horchen. Aber er hörte nur das Ticken der Wanduhr hinter sich. Vorsichtig drückte er auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt breit. Das Bett war leer, die Decke zurückgeschlagen. In einer ruckartigen Bewegung stieß er die Tür bis zum Anschlag auf. Nichts, außer weitere Kippen in einem Aschenbecher auf dem Nachttisch. Zur Sicherheit öffnete er auch noch die Tür zum Badezimmer. Sein Blick fiel auf den Toilettenspiegel, auf dem I love you stand, in fettigem Lippenstiftrot. Diesmal lieferte das o von love das Herzchen. Er klappte die Klobrille hoch und urinierte auf den aufgedunsenen Zigarettenstummel im Spülwasser, der auch nicht verschwand, als er spülte. Beim Händewaschen blickte er in den Spiegel und sah wie das Wort love quer über sein Gesicht lief.
Er ging wieder zurück ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal in diesem Bett gelegen hatte. Dabei fiel ihm auf, dass er gar nicht dort lag, wo er sonst lag. Er lag auf Lydias Seite. Er blickte hinüber zum anderen Nachtisch, auf dem der Aschenbecher mit den Stummeln lag. Er drehte sich auf den Bauch und streckte den Arm aus. Seine Hand konnte den Aschenbecher gerade noch erreichen. Einen Augenblick lang hielt er ihn auf halbem Weg in der Schwebe, dann kippte er die Stummel aufs Leintuch. Er drehte sich wieder auf den Rücken und schmiss den leeren Aschenbecher auf die zurückgeschlagene Bettdecke. In diesem Augenblick explodierte der knatternde Lärm eines Helikopter über dem Haus. Ralph blickte zum Fenster und konnte gerade noch sehen, wie er hinter den Dächern auf der andren Straßenseite verschwand. Sein Mund fühlte sich trocken und rau an wie Fließpapier. Er erhob sich und ging ins Wohnzimmer. Er öffnete die Tür zu einem halbhohen Möbel, in dem sich eine Art Hausbar befand und suchte nach dem Remy Martin in der hintern Reihe. Während er die Flasche ansetzte, sah er auf dem Regal daneben Lydias Nähkästchen. Er nahm noch einen kräftigen Schluck, dann stellte er die Flasche auf das Möbel und hob den Deckel des Nähkästchens hoch. In einem Seitenfach sah er eine große Schere. Er nahm sie heraus und schnippte ein paar Mal in die Luft.
Zuerst nahm er sich das Bett vor. Er schnitt ein kreisrundes arschgroßes Loch ins Unterleintuch, und zwar auf Lydias Seite. Dann öffnete er den Kleiderschrank. Wahllos griff er nach einem Bügel. Ein kurzärmeliges Sommerkleidchen mit einem rosa Blumenmuster auf hellgrauem Grund hing daran. Er legte es auf das Bett, fasste es am Saum und schnitt vorne unter der Taille ein etwa gleich großes gerundetes Stück Stoff heraus. Er roch daran und steckte es dann in die Hosentasche. Darauf suchte er gezielt nach dem kleinen Schwarzen. Als er es gefunden hatte, hängte er den Bügel an die offene Schranktür und griff mit der linken Hand unter den Rock, bis er die Stelle zu fassen kriegte, an der er die Höhe des Schritts vermutete. Sorgfältig schnitt er ein auf der Spitze stehendes Dreieck heraus. Bevor er alles wieder im Schrank verräumte schnippelte er noch ein bisschen an einem Strandkleid herum, das er Lydia in Palma de Mallorca gekauft hatte. Dann ging er ins Badezimmer, um den Lippenstift zu holen, und malte ein Herz um die Asche und die Kippen auf dem Leintuch.
Er beschloss, es dabei bewenden zu lassen. Er hatte Lydia eine Lehre erteilt. So konnte sie mit ihm nicht umspringen. Nicht mit ihm. Bevor er die Wohnung verließ, warf er noch einen letzten Blick auf das Bett und dachte: "Mein Gott, wie gern wäre ich dabei, wenn sie heute Abend in dieses Zimmer tritt."


Eingereicht am 16. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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