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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die undichte Stelle

©Karl-Heinz Manier

Eigentlich war der Werner ein feiner Kerl. Erledigte seine Schlosserarbeiten ordentlich, war zu allen nett und freundlich, konnte geduldig zuhören. Zumindest so lange er den Überblick über seine Arbeiten behielt und nicht kurzfristig etwas anderes machen musste. Was er vor allen Dingen nicht so besonders gut haben konnte, das war Blechnerarbeiten.
Manfred war Elektriker, wesentlich jünger als Werner und immer gut drauf. Meistens jedenfalls.
Auf dem Weg von der letzten Halle in die Frühstückspause nahm Manfred Gasgeruch wahr.
Mit dem Betriebsschlosser zusammen hatte er dafür zu sorgen, dass die Maschinen so wenig Stillstand wie möglich hatten. Aber auch für den sonstigen reibungslosen betrieblichen Ablauf waren beide verantwortlich. Zum Beispiel, dass der Gastank nicht leer wurde, der Kaffeeautomat immer ordentlich befüllt und im Winter das Büro gut beheizt war.
Ein Schweißer bereitete in der mittleren Halle (Halle 3 oder auch Mittelhalle genannt) seine Arbeit vor. Er sollte Transportbolzen an eine große, schwere Stahlplatte anschweißen. Dazu wurden sie aufgebockt, auf Vorrichtungen hoch gelegt, damit man überall hinkam. Vorher musste er die Stellen, an denen er schweißen wollte, vorwärmen. Die Schläuche waren ausgelegt und reichten mit der aufgesteckten Wärmspitze von der Anschlussstelle an der Wand bis über das andere Ende der Platte hinaus.
Auch Werner arbeitete in dieser Halle. Er hatte vom Betriebsleiter, mit dem er sich übrigens hervorragend verstand, wodurch er sich von den anderen unterschied, den Auftrag bekommen einen Trog für dessen Pferd zu bauen - aus Stahlblech.
Einige Schritte vom Schweißer entfernt bereitete er das drei Millimeter starke Material für den Zusammenbau vor.
Besonders warm war es in dieser Halle nicht. Deshalb hatte er die Heizstrahler für seinen Arbeitsbereich eingeschaltet. Nun vermutete Manfred die Undichtigkeit in einem von diesen Wärmespendern.
Weil noch genug Zeit war, ging er zu Stefan, der den kranken Betriebsschlosser Bernd vertrat. Stefan war Reparaturschlosser. Das heißt, er beseitigte normalerweise bei den Kunden Störungen an den Anlagen die sie für ihn gebaut und bei ihm aufgestellt hatten. Er lebte nach dem Motto, manche Sachen regelten sich von selbst, man musste ihnen nur die Zeit dafür lassen. Und anders als Bernd, kannte er sich mit der Gasanlage überhaupt nicht aus. Die Firma, in der sie arbeiteten, baute eigentlich Pressen für die Autozulieferer. Keine Mülleimer, keine Schubkarren und auch keine Futtertröge.
Jede der durchnummerierten Hallen war mit den anderen über einen riesigen Durchgang verbunden, durch den ein ganzer Zug samt der Lok durchfahren konnte. Schienen waren auch verlegt. Aber hier fuhren keine Züge mehr. Nur noch Loren. Auf denen wurden die Gestelle und schweren Bleche von Halle zu Halle transportiert. In jeder Halle war außerdem noch ein großes Tor nach draußen, um die Arbeitsplätze besser mit Material versorgen zu können, sollte der Durchgang einmal nicht frei sein. Thomas, der Schweißer, hatte eine Heson-Kiste beigeschafft damit er besser arbeiten konnte. Das waren Blechkisten, in denen Teile zum weiter verarbeiten bereitgestellt wurden. Wenn man sie umdrehte, konnte man sich draufstellen und musste nicht eine Leiter hin und her schleppen. Die Kiste ließ sich leicht mit dem Fuß in die jeweils beste Position dirigieren.
Das Tor der Halle 3 war offen, ein Gabelstaplerfahrer brachte die Transportbolzen auf einer Palette herein.
Als Manfred und Stefan durch die Halle gingen rochen sie - nichts. Auch nicht an der Stelle, an der die Wahrnehmung eben noch besonders intensiv war. Also wollten sie zuerst einmal Pause machen.
Der Auszubildende Jürgen stand in der Nähe der Werkstatt. Er verputzte Kleinteile an einer Werkbank vor einem Fenster. Was Manfred nicht wissen konnte: unter der Aufsicht von Werner. Mit der linken Hand hielt er das Werkstück fest, mit der rechten Hand führte er einen elektrischen Handschleifer über die Kanten. Manfred hätte etwas sagen können, zumal sich der Schraubstock direkt daneben langweilte, tat es aber nicht.
Manfred, Werner, Stefan und Bernd saßen in den Pausen oft zusammen. Es gab immer etwas, über das man reden konnte. In der Regel schimpfte Werner über die Bild-Zeitung und deren Artikel, vergaß aber nicht sich jeden Morgen eine zu besorgen.
So auch an diesem Tag. Er sagte: "Da kann der Mensch tagelang tot sein und keiner merkt das; der Briefkasten quillt über und keiner kümmert sich darum."
Die beiden sahen ihn an. Werner zeigte auf die Zeitung: "In einem Mietshaus ist einer gestorben. Keinem der Nachbarn will etwas aufgefallen sein, und das über Wochen!"
Manfred verstand Werners Empörung nicht ganz: "Wieso sollte ihnen etwas aufgefallen sein?"
Der fuchtelte mit der Zeitung herum: "In so einer Mietskaserne läuft man sich doch zwangsweise über den Weg. Außerdem hört man aus der Wohnung Geräusche: Wasser, Radio, Fernseher … es muss doch mit der Zeit auch gestunken haben!"
Manfred sah das alles nicht so eng: "Wenn nichts zu hören war, dann haben sich die Nachbarn über die Stille gefreut. Vielleicht waren sie auch erleichtert - endlich gibt der Alte Ruhe."
Werner schüttelte den Kopf: "Red doch kein solch verdrehtes Zeug. Sie hätten ja wenigstens mal klingeln können."
"Schön, sie klingeln und niemand macht auf. Und dann?"
"Den Hausmeister alarmieren, die haben Schlüssel für alle Wohnungen, nachsehen was da los ist."
Stefan sagte: "Und wenn er in Urlaub ist oder bei Verwandten? Und vergessen hat vorher den Mülleimer zu leeren? Warum sollten die Nachbarn in seinen Privatbereich eindringen, wenn sie sonst in keiner Beziehung zu ihm stehen?"
"So seht ihr aus, so kenne ich euch: Da werden Kinder geschlagen und Hunde gequält", sagte Werner, "und keiner fühlt sich verantwortlich."
Stefan und Manfred sagten ihm, wer sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt erntet Undank. Was gehen den Einen der Anderen ihre Sachen an? - Was erlaubt er sich da einzumischen, wo er nicht darum gebeten wurde?
Werner war außer sich. Wenn jeder so denken würde, schließlich hätten sie alle eine gewisse Verantwortung füreinander …
"Also gut", sagte Stefan, "du siehst einen Mann, der gewaltsam eine Frau in ein Auto zerrt. Du gehst hin und fragst was los ist. Vielleicht hast du Glück und bekommst keine in die Fresse. Die Frau schlägt wild um sich und der Mann sagt, alles in Ordnung Leute, seine ihm Angetraute hat wieder einmal ihre demoralisierenden Anwandlungen und er will sie nur heimbringen. Was meinst du wohl wem du mehr glauben kannst, den Augen oder den Ohren?"
Werner überlegte nicht lange: "Meiner Erfahrung. Ich würde mir die Autonummer merken und die Polizei anrufen."
Manfred sagte: "Solltest du Recht haben, kann die Frau tot sein bevor jemand den Hörer abgehoben hat ..."
Die Pausenglocke beendete ihr Gespräch. Sie gingen an ihre Arbeit.
Manfred roch wieder Gas als er an Thomas vorbeiging, achtete aber nicht weiter darauf. In Gedanken war er bei einem kaputten Kran, den er unbedingt flicken musste.
Thomas stand auf der Blechkiste, hatte die Wärmspitze in der Hand und war im Begriff eine der Stellen an denen ein Bolzen hinkam mit einer Flamme zu bestreichen.
Einige Zeit später - der Fehler war gefunden, ein defekter Schütz lokalisiert der ausgewechselt werden musste - ging Manfred in die Werkstatt Ersatzteile holen.
Jürgen stand immer noch da und hatte immer noch viel zu tun.
Das Pausengespräch hatte seine Wirkung nicht ganz verfehlt. Es war ja nicht so, dass man total abstumpfte, in dieser unserer Gesellschaft. Ganz im Gegenteil, je mehr das Volk auf die Füße getreten bekam und in die Enge getrieben wurde, desto mehr raffte es sich zusammen. Wer keine Probleme hatte, brauchte keine zu lösen; wer keine Feinde hatte, brauchte nicht zu kämpfen, so einfach war das.
Diesmal blieb Manfred stehen. Er sagte: "Hör mal, Kollege, warum spannst du die Dinger nicht in den Schraubstock? Das, was du da machst, das ist viel zu gefährlich."
Jürgen sagte: "So geht das aber viel schneller."
"Wer sagt das?"
"Werner."
"Wenn der auf einer wackligen Leiter steht, kneift der genauso die Arschbacken zusammen wie jeder andere auch, glaub mir, mit beiden Händen lässt es sich besser schaffen. Ein kleiner Ausrutscher, schon hast du keine Kontrolle mehr über die Maschine und unter Umständen einen Finger weniger."
Manfred ging in die Werkstatt.
Werner hatte das Gespräch aus sicherer Entfernung mit angesehen.
Er ging zu dem Jungen, fragte was Manfred von ihm gewollt hatte und bekam seine Antwort.
Die Tür ging auf und Stefan stand vor Manfred. "Ich war noch mal in Halle 3, ich rieche nichts."
Zusammen gingen sie aus der schützenden Werkstatt mitten in ein Donnerwetter.
Werner hatte sich aufgebaut und schrie los: "Was fällt dir eigentlich ein meine Anweisungen in Frage zu stellen?"
Manfred schaute zu Stefan: "Weißt du wovon der redet?"
Stefan zuckte mit den Schultern.
Werner bekam einen roten Kopf: "Von meinen Arschbacken, wovon denn sonst! Willst du behaupten, so wie ich all die Jahre geschafft habe, das wäre falsch?"
Jürgen betrachtete sehr intensiv ein Werkstück. Er hätte auch weiterschleifen können, aber wahrscheinlich hätte er dann nicht mehr alles mitbekommen …
Werner war gut drauf: "Und? Ist mir in all der Zeit was passiert, du Schlaumeier? Nichts ist passiert, weil ich weiß wie man arbeitet!"
Manfred sagte: "Du hast halt lange Jahre viel Glück gehabt. Aber sag, woran soll ich mich jetzt halten, an das was ich sehe oder an das was ich höre? Oder vielleicht an meine Erfahrung?"
"Und überhaupt", brüllte Werner, als hätte er in ein Wespennest gegriffen, "es ist meine Verantwortung und so lange der Azubi bei mir schafft, so lange verantworte ich wie die Arbeit gemacht. Dich geht das überhaupt nichts an!"
Stefan sagte: "Siehst du, Werner, darum kümmert sich keiner um den anderen!"
Entweder wollte Werner nicht darauf eingehen, oder aber er verstand nicht worum es ging. Mit erhobenem Zeigefinger ging er auf Manfred zu: "Schaff du erst einmal so viel wie ich und bring die Leistung, dann kannst du das Maul aufmachen, aber nicht vorher, verstehst du? Nicht vorher!"
Manfred sagte zu ihm: "Ehrlich gesagt, ich habe mir bisher nicht allzu viel Gedanken gemacht über Einmischerei und so. Aber wenn du mich so fragst: Es ist mir scheißegal wie der Junge arbeitet und auch warum er so arbeitet. Andererseits wiederum, erinnere dich an unser Gespräch in der Werkstatt. - Hier hast du deine Antwort: Darum kümmert sich keiner um den anderen. Siehst du wie viel Ärger ich mir eingehandelt habe, nur weil ich etwas gesagt habe? Warum sollte ich nächstes Mal noch etwas sagen, Werner, das geht mich doch nichts an - oder?"
Sie ließen den tobenden Werner einfach stehen. Stefan fiel ein, er müsse noch ganz dringend ins Büro und Manfred machte sich auf den defekten Schütz auszuwechseln.
Als er später mit seiner Arbeit fertig und auf Feierabendkurs war, sah er Werner mit einem Handschleifer Bleche für den Trog bearbeiten. Die Mittagspause über ist er ihnen, anders als sonst, aus dem Weg gegangen. Die Funken stoben in die Halle und in Richtung Henson-Kiste. Thomas stand nicht mehr drauf; überhaupt war er nirgends zu sehen; die nächsten Arbeiter waren gut und gerne zwanzig Meter weiter weg.
Manfred überlegte einen Moment was wäre, wenn die undichte Stelle an den Anschlüssen der Wärmspitze selbst wäre. Als er das erste Mal Gas gerochen hatte, lag sie oben auf der Platte. Dann hielt sie Thomas über ihren Köpfen als er vorwärmen wollte. Propan-Gas ist schwerer als Luft. Jetzt lag die Wärmspitze auf dem Boden. Manfred wollte diesbezüglich eine Bemerkung machen, sah aber Werners feindseligen Blick und ließ es. Auf halbem Weg kehrte er um. Er konnte es nicht so auf sich beruhen lassen, das war einfach zu gefährlich.
"Hör mal Werner, wir haben vorhin hier in der Halle Gas gerochen, vielleicht solltest du doch nicht …"
Werner rastete aus: "Willst du mich verarschen? Denkst du ich weiß nicht mehr was ich tue?"
"Fängt langsam an Spaß zu machen, dieses sich Einmischen, Werner, hol erst einmal tief Luft und ich hole in der Zeit das Leckspray. Wenn ich nichts finde ist es ja gut."
"Du kannst die Leute einfach nicht in Ruhe lassen!"
"Sich einmischen heißt - wie du in der Pause schon ganz richtig erkannt hast - Unrecht erkennen, das heißt aber auch Fehler zu benennen …"
"Jetzt reicht es aber! Wir gehen zum Alten!"
"Nachher, jetzt muss ich erst einmal die lecke Stelle finden."
Werner fluchte vor sich hin und ließ die Funken tanzen. Es sah aus, als versuchte er sie bewusst in die tabuisierte Zone zu lenken. Wie um zu beweisen, da passiert nichts. Kann gar nichts passieren. All die Jahre ist nichts passiert. Jetzt auch nicht.
Manfred hatte den Türgriff zur Werkstatt noch nicht in der Hand, als ein lauter Knall die Umgebung erbeben ließ. Sofort lief er zurück in die Mittelhalle.
Kreidebleich stand Werner da, umzingelt von Arbeitskollegen, den Mund weit offen; in den Händen hielt er immer noch den Schleifer. Die Heson-Kiste stand nicht mehr dort wo sie einmal gestanden hatte. Auch nicht in der näheren Umgebung.
Das Gas aus dem Leck hatte sich in dem Hohlraum des umgedrehten Blechkastens angesammelt und durch die Funken entzündet. Der Druck der Explosion hat sie über Werner hinweg in den Gang geschleudert.
Stefan kam um die Ecke.
"Oh, ihr habt die undichte Stelle gefunden ..."


Eingereicht am 15. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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