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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Nur ein Beruf

©Elena Winter

An meinem 12. Geburtstag brach die Welt zusammen. Denn ich erkannte, wer meine Mutter wirklich war. Die Frau, die ich von meiner Geburt an geliebt, zu der ich aufgesehen und vor der ich so viel Respekt gehabt hatte wie vor keinem anderen Menschen, hatte mich jahrelang angelogen und mir etwas vorgespielt. Als ich das schließlich merkte, hatte ich das Gefühl, dass die ganze Welt nichts weiter als ein großer Betrug war. Eine Lüge, die ich geglaubt hatte, weil ich zu vertrauensvoll gewesen war, um etwas zu hinterfragen. Ich hatte mich niemals gewundert, wenn ich mitten in der Nacht aufgewacht und meine Mutter nicht da gewesen war. Es hatte mich auch nicht erstaunt, dass die Nachbarn ihr immer einen verachtungsvollen und mir einen mitleidigen Blick zuwarfen. Ich nahm an, dass die Menschen für ihre Gefühle keine Rechtfertigung hatten. Nur ein Mal war ich verwirrt gewesen, als jemand ihr auf der Straße hinterher gerufen hatte, ob sie mich gerade ausbilden würde. Sie erklärte mir, dass es an der Kleidung liegen würde. Ab diesem Tag an trug ich keine Miniröcke mehr und die Sache hatte sich erledigt. Vermutlich hätte es noch jahrlang so weitergehen können, wenn meine Mutter nicht den Fehler begangen hätte, mich an meinem Geburtstag alleine zu lassen. Ich wachte morgens auf und erwartete, dass neben meinem Bett ein Kuchen und Geschenke stehen würden, so wie jedes Jahr. Aber diesmal wurde ich enttäuscht. Ich suchte die ganze Wohnung nach etwas ab, das bewies, dass sie meinen Geburtstag nicht vergessen hatte, fand aber nichts.
In mir stieg eine Wut und Trauer hoch, die ich noch nie zuvor empfunden hatte. Nicht mal als mein Vater, der Alkoholiker gewesen war, bei einem Autounfall gestorben war. Ich wollte meine Mutter anschreien und alle meine Gefühle rauslassen, aber sie war nicht da. Also rannte ich auf die Straße hinaus und fing an, sie zu suchen. Ich wusste in diesem Moment selbst nicht genau, wie ich auf die Idee kam, sie irgendwo da draußen zu finden.
Vermutlich hatte mein Unterbewusstsein doch schon einen gewissen Verdacht gehabt, was meine Mutter betraf. Ich lief so lange herum, bis ich das Gefühl hatte, zusammenzubrechen. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte und ich musste mich hinsetzen. Als sich mein Körper wieder einigermaßen beruhigt hatte, sah ich auf und stellte überrascht fest, dass ich in einer Gegend gelandet war, in der ich vorher noch nie gewesen war. Neonreklamen leuchteten, obwohl es schon langsam hell wurde, gemalte Bilder von halbnackten Frauen hingen an Kneipenwänden und jedes Mal, wenn die Tür einer dieser Kneipen aufging, entlud sich ein Schwall Musik in die kalte Morgenluft. Das Faszinierendste aber waren die Menschen, die vor den Bars standen. Es waren fast ausschließlich Frauen und jede von ihnen schien so stark geschminkt zu sein, dass man ihr wahres Gesicht nicht mehr erkennen konnte. Ich hätte unmöglich sagen können, wie alt sie waren, aber einige machten den Eindruck, als wären sie nicht viel älter als ich. Wie von selbst bewegten sich meine Beine und führten mich durch die Straße. Ich starrte die Frauen mit unverhohlener Neugier an, was einige negative Reaktionen erzeugte. Sie riefen mir zu, ich solle verschwinden, das wäre ihr Revier und ich hätte hier nichts zu suchen. Und ich wollte wirklich schon abhauen, als plötzlich ein Auto neben mir hielt. Die Tür ging auf und eine Frau, die genau so geschminkt war wie alle anderen, stieg aus. Im ersten Moment wollte ich weitergehen, aber dann trafen sich unsere Blicke. Ich erstarrte. Mein ganzer Körper schien gelähmt zu sein. In meinem Kopf war nur ein Gedanke:
"Das kann nicht sein ... Das kann nicht sein ... Das kann nicht sein ..." Aber es war so. Sie schien nicht weniger erschrocken zu sein als ich, aber sie hatte sich schnell wieder gefangen.
"Was machst du denn hier?", fragte sie.
Ich hörte mich sagen: "Ich habe dich gesucht." Für mich ergaben diese Worte überhaupt keinen Sinn.
"Ich kann dir das erklären, Schatz. Aber nicht hier. Gehen wir nach Hause."
Ich reagierte nicht. Sie wiederholte ihren letzten Satz und griff dabei nach meiner Hand. Als ich ihre Haut auf meiner Haut spürte, löste sich die Lähmung von meinem Körper. Ekel erfüllte mich. Ich riss mich los und rannte davon. Sie schrie mir etwas hinterher, aber ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte es nicht verstehen. Ich wollte einfach weg von diesem Platz. Irgendwohin, wo ich das, was ich gerade gesehen hatte, vergessen konnte. Meine Gedanken stachen wie Rasierklingen in mein Innerstes. "Deine Mutter ist keine Sekretärin. Sie hat dich angelogen. Sie hat dich die ganze Zeit angelogen. Und du hast ihr geglaubt. Weil du ihr vertraut hast ... Sie hat dein Vertrauen ausgenutzt! Warum? Warum hat sie das getan? Sie ist käuflich ... Deine eigene Mutter ..." Tränen liefen über meine Wangen. Die Welt vor mir verschwamm. In mir staute sich alles auf und ich wusste nicht, wie ich dem entkommen sollte. Meine Fingernägel bohrten sich in meine Hand, Schmerz flackerte kurz auf, wurde aber sofort wieder von der Wunde in meinem Inneren verdrängt. Ich erinnerte mich daran, wie sie mich im Arm gehalten hatte, wie sie mich getröstet und geküsst hatte, wie sie ... Die Erinnerungen wurden von einer Vorstellung zur Seite gestoßen. Wie meine Mutter in einem Auto saß und irgendein wildfremder Mann ihr Geld in die Hand drückte, damit sie ... Ich schrie auf und schlug meinen Kopf gegen die Hauswand. Ich wollte das nicht sehen! Ich wollte nicht wissen, was meine Mutter alles getan hatte! Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie sie das Geld für meine Kleidung, meine Geschenke, meine Wünsche verdient hatte. Aber mein Verstand hörte nicht auf. Ein Bild nach dem anderen jagte durch mich hindurch. Wie meine Mutter nackt auf einer Rückbank lag, wie sie sich über den Schoß eines Mannes beugte, wie sie angefasst wurde ... Und das alles für Geld! Ich hatte die letzten Jahre nur leben können, weil sie solche Dinge getan hatte! Am liebsten hätte ich die Zeit zurück gedreht zu heute Morgen, als ich aufgewacht war. Ich hätte in der Wohnung bleiben und warten sollen.
Dann wäre das alles niemals passiert. Dann würde sich mein Kopf nicht wie ein Stecknadelkissen anfühlen, dann würde ich innerlich nicht verbluten, dann wäre alles in Ordnung ...
Meine Mutter und ich führten stundenlange Gespräche, die daraus bestanden, dass sie redete und ich versuchte, sie anzusehen, ohne verrückt zu werden.
Ich konnte es nicht mehr ertragen, mit ihr zusammen zu sein. Denn egal was sie sagte, sie konnte die Tatsachen nicht ändern. Ihre kläglichen Versuche, es mir zu erklären, löschten den Schmerz und die Bilder in mir nicht aus.
Keines ihrer Worte schaffte es, dorthin zu gelangen, wo sie gewesen war, als sie an meinem 12. Geburtstag aus dem Auto gestiegen war. Wenn sie jetzt vor mir stand, sah ich nicht mehr meine Mutter. Ich sah eine Hure.


Eingereicht am 13. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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